Die Vielfalt der Wissenschaften
Wissenschaftskulturen als Formen von Forschungspraxis. Ein genealogisch-pluralistischer Überblick.
In: Preprints der DFG-Kollegforschungsgruppe: „Zwischen Demokratie und Despotismus; Governance-Strategien und Partizipations-formen im Alten Orient“
Berlin 2021
Abstract
In interdisziplinären Forschungsverbünden entstehen häufig implizite oder auch explizite Spannungen um wissenschaftliche Vorgehensweisen, bis hin zu der Frage, was Wissenschaftlichkeit überhaupt ausmacht. Der vorliegende Artikel[1] hat zum Ziel aufzuzeigen, dass sich verschiedene Typen wissenschaftlicher Forschung historisch ausgeprägt haben, die gleichberechtigt nebeneinander bestehen. Mit der Darstellung dieser Pluralität von Forschungsformen soll ein Verständnis befördert werden, das Unterschiede im Forschen nicht mehr zu Deutungskämpfen über ‚wahre‘ Wissenschaftlichkeit auswachsen lässt, sondern als Chance zu einer interdisziplinären Kooperation mit Mehrwert.
[1] Der Artikel ist eine teilweise inhalts-, teilweise formulierungsgleiche Vorfassung von Abschnitten aus dem im Herbst 2021 erscheinenden Buch: Werner Kogge, Einführung in die Wissenschaften. Wissenschaftstypen – Deutungskämpfe – Interdisziplinäre Kooperation (Bielefeld: transcript, 2021).
1. Was ist Wissenschaft? Zu einer Pluralität von Typen forscherischer Praxis.
2. Die Einteilung der Wissenschaften
3. Einheit oder Vielfalt von Wissenschaften?
4. Drei historische Ausgangspunkte zur Konzeption von Wissenschaft
4.1 Die Episteme-Scientia-Tradition
4.2 Die Tradition der Interpretation und Hermeneutik
4.3 Die Tradition der Naturalis historia
5. Formen gegenwärtiger Forschungspraxis
6. Neun Typen wissenschaftlicher Forschung – eine Synopse
Leseprobe
1. Was ist Wissenschaft? Zu einer Pluralität von Typen forscherischer Praxis
Es gibt keine Definition von Wissenschaft, die gleichzeitig gehaltvoll und unumstritten wäre. Historisch betrachtet ist die Auseinandersetzung um die Bestimmung und Grenzen von Wissenschaft so alt wie Wissenschaft selbst. Seit der Antike wurden Erkenntnisformen unterschieden, eingeteilt und hierarchisiert. Aus diesen Unterscheidungen, Einteilungen und Hierarchisierungen prägten sich Begriffe von Wissenschaft aus – jedoch nicht als ein einheitliches Unternehmen, sondern als eine Entfaltung unterschiedlicher Typen von Praxis und Zugangsweise.
Wenn wir heute ein Bild von wissenschaftlichen Disziplinen vorfinden, das so unübersichtlich ist, dass wir kaum mehr in der Lage sind, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu benennen, und wenn Auseinandersetzungen um das, was Wissenschaft im Kern ausmacht, viel Polarisierung aber wenig Klarheit erzeugen, dann liegt das auch darin begründet, dass die Grundmotive zu wenig in den Blick kommen: in welchen Überzeugungen, Praktiken und Strukturen wurzeln unterschiedliche Wissenschaftskonzeptionen? Wie haben sie sich historisch ausgeprägt? Und auf welchen Wegen bestimmen sie heutige Wissenschaftsverständnisse?
Auf Grundmotive zurückzugehen bedeutet, in der Tradition der Unterscheidung und Einteilung von Erkenntnisformen die Konfigurationen aufzuspüren, die jeweils eine eigenständige Form und Auffassung von wissenschaftlicher Diszipliniertheit ausbilden konnten. Methodisch heißt das, nicht die Idee von Wissenschaft historisch nachzuzeichnen (keine Ideengeschichte zu schreiben), sondern solche Auffassungen zu rekonstruieren, die als Konstellationen von Praxis jeweilige Ideale von Wissenschaft erst hervorbrachten: Beschreiben, Beweisen, Vergleichen, Prüfen, Interpretieren, Modellieren, Rekonstruieren sind beispielsweise Bezeichnungen für solche zentralen Praktiken. Jeweils bestimmen sie die Weisen, in denen gefragt und gesucht wird, sie konstituieren auf je eigene Weisen, was als Gegenstand, was als wissenschaftliches Verfahren und was als Ergebnis gelten kann. Praxis heißt hier also nicht Handarbeit und soziale Interaktion im Unterschied zu Theorie, sondern – in einem weit gefassten Sinne: Theorie als Tätigkeit. Eine Textinterpretation anzustellen, wird hier in der gleichen Weise als in sich differenzierte Praxis verstanden wie einen Prozess zu modellieren oder ein historisches Ereignis zu rekonstruieren.
Unter diesem Blickwinkel lassen sich Wissenschaftstypen als Ausprägungen von Praxiskonstellationen in der Tiefenstruktur wissenschaftlicher Disziplinen auffinden. Das heißt: es werden Typen rekonstruiert, die zwar zunächst mit bestimmten Disziplinen assoziiert werden, die aber tatsächlich in sehr verschiedenen Disziplinen sich in sehr ähnlicher Weise ausgeprägt finden, während in einigen Disziplinen sehr unterschiedliche wissenschaftliche Typiken nebeneinander existieren.
2. Die Einteilung der Wissenschaften
Wie werden Wissenschaften eingeteilt? Für gewöhnlich nach Disziplinen und Fächern. Und wenn wir an Disziplinen und Fächer denken, dann denken wir an unterschiedliche Ausschnitte der Wirklichkeit, an unterschiedliche Gegenstandsbereiche. Wir stellen uns die Welt vor, als wäre sie aufgeteilt in Sektoren und für jeden Sektor stehe eine Wissenschaft bereit, die das darin Enthaltene aufklärt. Doch dieses Bild ist trügerisch. Denn die Art und Weise, wie geforscht wird, ist für sehr unterschiedliche Gegenstände häufig sehr ähnlich. Und die gleichen Gegenstände können auf unterschiedlichste Weisen erforscht werden.
Dass Wissenschaft eine Frage der Art und Weise des Herangehens ist und dass es unterschiedliche Formen dieses Herangehens gibt, fiel ins Auge, als sich im 19. Jahrhundert die Geschichtswissenschaften methodologisch reflektierten und sich mit Wissenschaftsidealen konfrontiert sahen, die nicht dazu passten, wie sie tatsächlich arbeiteten. Und es sah nur vordergründig so aus, dass sich der Unterschied darin erschöpfte, dass Geschichte etwas anderes ist als z.B. Optik oder Mechanik. Tatsächlich reichte der Unterschied viel tiefer.
Es war 1862 als Johann Gustav Droysen, einer der maßgeblichen Historiker des 19. Jahrhunderts, feststellte:
“[…] wenn es eine Wissenschaft der Geschichte geben soll, [muß] diese ihre eigene Erkenntnisart, ihren eigenen Erkenntnisbereich haben […]; und glücklicherweise gibt es zwischen Himmel und Erde Dinge, die […] nicht erklärt, sondern verstanden werden wollen.‟[1]
Jede Wissenschaft sei “eine Betrachtungsweise‟[2]. Die Physik betrachte ihren Gegenstand als “[…] das im Wechsel Gleiche […]: die Regel, das Gesetz, den Stoff, die Raumerfüllung‟[3] ; die Geschichtswissenschaft dagegen das “im Gleichen Wechselnde‟[4] – zwei Weisen der Betrachtung.
Gut dreißig Jahre später, in seiner Rektoratsrede Geschichte und Naturwissenschaft von 1894, wird Wilhelm Windelband Droysens Überlegungen aufnehmen und mit den Begriffen nomothetisch und idiographisch ebenfalls zwei nicht gegenstandsbedingt, sondern methodisch verschiedene wissenschaftliche Verfahrensweisen unterscheiden. Der Unterschied ist ein Unterschied der Richtung: während in den Naturwissenschaften “das einzelne gegebene Objekt‟ nur als “Typus, als Spezialfall eines Gattungsbegriffs […] zur Einsicht in eine gesetzmäßige Allgemeinheit‟ relevant sei, betrachte die Geschichtswissenschaft “ein Gebilde der Vergangenheit in seiner ganzen individuellen Ausprägung‟.[5] Wie Droysen sieht Windelband den Unterschied der beiden Typen von Wissenschaft nicht als sachlichen, sondern als einen Unterschied in der Sicht- und Herangehensweise:
“Es bleibt möglich und zeigt sich in der Tat, dass dieselben Gegenstände zum Objekt einer nomothetischen und daneben auch einer idiographischen Untersuchung gemacht werden können. Das hängt damit zusammen, dass der Gegensatz des Immergleichen und des Einmaligen in gewissem Betracht relativ ist. Was innerhalb sehr grosser Zeiträume keine unmittelbar merklichen Veränderungen erleidet und deshalb auf seine unveränderlichen Formen hin nomothetisch behandelt werden darf, kann sich darum doch vor einem weiteren Ausblick als etwas nur für einen immerhin begrenzten Zeitraum Gültiges, d.h. als etwas Einmaliges erweisen.‟[6]
Beispiele, die Windelband anführt, sind Formgesetze von Sprachen, die Physiologie, Formationen der Geologie und die “Entwicklungsgeschichte‟ der Lebewesen.[7] Damit wird die Pointe Windelbands klar: Ein wissenschaftliches Phänomen, wie z.B. die Entstehung des Lebens, kann entweder als historisches Ereignis aufgefasst und beschrieben werden – man versucht dann diesen Prozess, wie er sich tatsächlich zugetragen hat, möglichst detailliert und umfassend zu rekonstruieren –, oder aber als gesetzmäßiger Zusammenhang erklärt werden – was bedeutet, die Bedingungen zu formulieren, unter denen Leben immer und auf die gleiche Weise entstehen würde.
3. Einheit oder Vielfalt von Wissenschaften?
Die Unterscheidung Droysens und Windelbands hatte Folgen: die Frage, ob Wissenschaft im Grunde ein einheitliches Unternehmen sei (Unity of Science) oder aber ein plurales, provozierte Generationen von Wissenschaftstheoretikern. Zumeist drehten sich diese Auseinandersetzungen um den Punkt, ob die ‘menschliche Welt’ – also historische, geistige, soziale und kulturelle Erscheinungen – in der gleichen Weise erklärt werden könne wie die natürliche Welt’, angesichts der Freiheitsgrade, die für menschliches Tun vorauszusetzen sind (oder sind sie es nicht? Auch dies eine Position in diesem Streit).
Für eine Weiterentwicklung der von Droysen und Windelband angestellten Überlegungen war diese Tendenz der Debatte aber wenig hilfreich. Das zentrale Argument, dass sich die gleichen Phänomene in verschiedenen Hinsichten wissenschaftlich untersuchen lassen, unterläuft ja gerade die Logik, unterschiedliche Wissenschaften auf die Beschaffenheit ihres Gegenstandes zurückzuführen.
Jedoch greift bereits die Dualität von Natur- und Geisteswissenschaft zu kurz. Denn: nicht nur die ontologische Begründung, sondern auch die Aufteilung in zwei methodisch gedachte Formen von Wissenschaften beruht auf zu vielen unbefragten Voraussetzungen: Ist Naturwissenschaft denn ein einheitliches Unternehmen, bei dem es tatsächlich stets um “gesetzmäßige Allgemeinheit‟ geht? Und richtet sich geisteswissenschaftliche Forschung dagegen stets auf Veränderliches und Singuläres?
Offensichtlich sind die Vergleichskategorien in dieser Unterscheidung aus dem 19. Jahrhundert noch sehr kursorisch angelegt. Dass diese Ansätze dennoch auch heute als Referenzpunkt dienen können,[8] zeigt, wie wenig in dieser Form der Wissenschaftsreflexion seitdem geschehen ist. Konfrontative Ansätze wie C.P. Snows These von Two Cultures[9] und die Auseinandersetzung um “Eleganten Unsinn‟[10] bestimmten den Diskurs. Differenzierungen wie die von A.C. Crombie beschrieben Scientific Thought Styles blieben wenig beachtet, boten allerdings auch tatsächlich wenig Ansatz zum Vergleich unterschiedlicher Wissenschaftstypen.[11]
Um ein systematischeres Verständnis für das Verhältnis unterschiedlicher Wissenschaftstypen zueinander zu gewinnen, ist ein neuer methodischer Ansatz erforderlich. Es ist erforderlich, Typen von Wissenschaft unabhängig von unterstellten ontologischen Einteilungen der Wirklichkeit als Formen von Praxis zu betrachten; Praxis aber nicht im Sinne einer Reduktion auf elementare Handlungsweisen, die z.B. im Labor ausgeführt werden, sondern als Handlungskomplexe, die motiviert sind, d.h., in denen aus Gründen auf etwas hin gearbeitet wird: Was sind die für eine Wissenschaft typische Frageformen? Was gilt als Ergebnis bzw. Erkenntnis? Was gilt demgemäß überhaupt als Gegenstand der Forschung und welche Verfahren verknüpfen Gegenstand und Erkenntnis?
Unter diesem Blickwinkel lassen sich nun in der Diskursgeschichte von Wissenschaft mindestens drei Grundmotive von Wissenschaftlichkeit aufspüren, die sich jeweils in mehrere Formen differenzieren.
4. Drei historische Ausgangspunkte zur Konzeption von Wissenschaft
Die abendländische Tradition hat nicht eine, sondern mindestens drei Ideen davon entwickelt, was Wissenschaft im Kern ausmacht: die Episteme-Scientia-Tradition, die Interpretatio-Hermeneutik-Tradition und die Tradition der Naturalis Historiae. Diese drei Traditionen lassen sich keineswegs auf die Dualität von Erklären und Verstehen, ergänzt um das Beschreiben der Naturgeschichte reduzieren. Denn die Traditionen zeigen sich, wie in Punkt 5. ausgeführt werden wird, in einer Weise in sich differenziert, dass ganz andere Unterschiede und Gemeinsamkeiten auf den Plan kommen. Doch zunächst: welche unterschiedlichen Grundmotive von Wissenschaftlichkeit haben sich historisch ausgeprägt?
4.1 Die Episteme-Scientia-Tradition
Diejenige Idee, die am meisten Spuren in der Wissenschaftsphilosophie hinterlassen hat, ist die Episteme-Konzeption aus der aristotelischen Erkenntnislehre. Fragt man nach der Form der Praxis, in der sich Episteme realisiert, so tritt sie nicht mit der Vokabel erklären (explicatio) in Erscheinung, sondern mit der der apodeixis (lat. demonstratio), die ein Aufweisenoder Beweisen bezeichnet. In dieser Praxisform finden wir einerseits eine bemerkenswerte Kontinuität eines Wissenschaftsverständnisses, andererseits tiefreichende Brüche.
Die Kontinuität ist die der wissenschaftsphilosophischen Verknüpfung von Wissenschaft mit logischem Schlussfolgern. Nimmt man ein beliebiges wissenschaftstheoretisches Studienbuch der Gegenwart zur Hand und schlägt nach, was unter einer wissenschaftlichen Erklärung zu verstehen sei, so trifft man üblicherweise auf eine solche Darstellung:[12]
G: Alle Metalle leiten Strom (Vx (Mx > Sx)
A: Diese Vase ist metallisch (Ma)
_____________________________________________________
E: Diese Vase leitet Strom (Sa)
Die so darstellbare Form der wissenschaftlichen Erklärung wird nach Carl Gustav Hempel und Paul Oppenheim, die 1948 einen zentralen und vielmals zitierten Text zu diesem Thema verfassten, das HO-Schema oder auch das Deduktiv-Nomologische (DN) Modell der Erklärung genannt. Tatsächlich reproduziert das DN-Modell nichts anderes als das Verfahren der apodeixis, wie es Aristoteles in den Zweiten Analytiken darstellt. So analysiert etwa Aristoteles das Phänomen, dass Planeten nicht funkeln:
“[…] es sei etwa C Planeten, B das Nahesein, das A das Nicht-Funkeln; so trifft also das B [Nahesein] auf das C [Planeten] zu und das A [Nicht-Funkeln] auf das B [Nahesein], so dass auch das C auf das A zutrifft [dass also Planeten nicht funkeln].‟[13]
Die allgemeine Regel, dass Lichter, die nahe sind, nicht funkeln (G), vermittelt zwischen den beobachteten Planeten (A) und der Aussage, dass diese nicht funkeln (E), in der Weise, dass die allgemeine Regel die Ursache dafür liefert, warum sie nicht funkeln: weil sie nahe sind.[14]
Es ist angemerkt worden, dass die Wiederentdeckung der Idee der aristotelischen Beweislehre “[…] in der analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts [nur] aufgrund historischer Ignoranz als bedeutende Innovation gefeiert […]‟ werden konnte.[15] Wie dem auch sei,[16] die Grundfigur des Verfahrens, das heute erklären heißt, ist das aristotelische Beweisen, die apodeixis. Bis in die Gegenwart ist der Zusammenschluss von apodeixis–erklären–Wissenschaft in weiten Bereichen der Wissenschaftsphilosophie schlicht vorausgesetzt: ‟Die Entdeckung der Möglichkeit von Beweis ist zugleich die Entdeckung der Möglichkeit von Wissenschaft‟, liest man etwa in einem einschlägigen Lexikonartikel.[17]
Philosophiegeschichtlich lässt sich diese bemerkenswerte Kontinuität gut nachvollziehen. Ausgehend von den Interpretationen der Zweiten Analytiken im 13. Jahrhundert wurde das Motiv des Erschließens von Wirklichkeit mittels logischer Ableitung zum Standard dessen, was an Universitäten unter scientia verstanden wurde. Die im 13. Jahrhundert etablierte Vorstellung von Wissenschaften als axiomatisch-deduktive Systeme findet sich wieder bei Petrus Ramus (1543) und René Descartes, der in seinen Regulae ad directionem ingenii (vor 1628) schreibt, dass Wissenschaft aus Prinzipienkenntnis und Deduktion bestehe, Deduktion verstanden als Erkenntnis, die “[…] aus anderem sicher Erkannten mit Notwendigkeit erschlossen wird.‟[18] Thomas Hobbes bezeichnet (1651) Wissenschaft als Verknüpfung “[…] zu Syllogismen, den Verbindungen einer Behauptung mit einer anderen, bis wir alles kennen‟, und stellt klar: “Und eben dies nennt man Wissenschaft.‟ Das Konzept einer deduktiv verfahrenden Wissenschaft zieht sich, mit einigen Schwankungen, durch bis in die Philosophie des 20. Jahrhundert, in dessen logisch-empiristischer Tradition das DN-Modell wissenschaftlichen Erklärens steht.
Die scheinbare Kontinuität dieser Wissenschaftskonzeption zeigt sich aber als die Kontinuität eines bestimmten Bildes von Wissenschaft, sobald man auf zwei Brüche in dieser Tradition aufmerksam wird: zum einen die Mathematisierung der Beweisform, zum anderen die Experimentalisierung der Erfahrung. Darauf kommen wir zurück.
4.2 Die Tradition der Interpretation und Hermeneutik
Sehen wir uns nun die zweite Traditionslinie an, die der Hermeneutik und Interpretation. Auch hier auf den ersten Blick eine erstaunliche Kontinuität: Sowohl das griechische Verb hermeneuein als auch das lateinische Verb interpretaribezeichnen übersetzen, deuten, vermitteln, auslegen. Während die griechische Vokabel theoretisch marginal blieb,[19]wurde sowohl in der lateinischen Philologie und Rhetorik als insbesondere in der Jurisprudenz das Verb interpretarimitsamt seinen Ableitungen interpres und interpretatio “[…] seit Plautus [254-184] ständiger Besitz der gesamten lateinischen Literatur‟.[20] Des weiteren wurde sowohl die aristotelische Schrift Peri Hermeneias (dt. Lehre vom Satz)[21] ins Lateinische mit De Interpretatione übersetzt, als auch die Vokabel hermeneia aus der Paulus Textstelle 1. Korinther 12,10 in der Vulgata (um 400 n. Chr.) mit interpretatio.[22]
Gegenstände der Praxis interpretari sind stets Texte oder textförmig gedachte Strukturen, die der besonderen Vermittlung bedürfen. Dies machen zahllose Belegstellen deutlich, z.B. wenn Cicero erklärt, dass für das wahre, naturrechtliche Gesetz “[…] nicht nach einem Erklärer oder Ausleger [explanator aut interpres]‟ gesucht werden müsse,[23] oder etwa 600 Jahre später, wenn in den von Iustitian in Auftrag gegebenen Institutionen (entworfen als Einführung und Lehrbuch des römischen Rechts), zu lesen ist: “Von Alters her war es nämlich so eingerichtet, dass es Männer gab, die das Recht öffentlich auslegen sollten [publice interpretarentur]‟.[24] Diese Longue-Durée-Kontinuität, die sich beliebig über Bacon in die Neuzeit mit Belegstellen verlängern ließe,[25] zeigt, dass eine bestimmte Konzeptualisierung von Erkenntnis nicht erst in der modernen Bibelauslegung und Philologie, sondern schon mit der Rezeption insbesondere der lateinischen Juristik und Rhetorik sich als eine eigenständige Könnerschaft, eine ars etabliert hatte.
Für die Tradition der christlichen Hermeneutik spielte De Doctrina Christiana, ein Werk, das Augustinus um 400 n. Chr. verfasste, eine entscheidende Rolle.[26] Der Titelbegriff doctrina bezeichnet nicht eine Lehre im Sinne einer Doktrin, sondern eine Reflexion auf einen methodischen Ansatz,[27] den Augustinus explizit ins Verhältnis zu scientia setzt. Scientia ist für Augustinus konkret eine bestimmte Stufe auf dem Erkenntnisweg der doctrina. Darunter fallen sämtliche Wissensdisziplinen der Antike wie Geschichtsschreibung, Astronomie, Dialektik und Mathematik, die jeweils Kontextwissen zum Verständnis der Heiligen Schrift bereitstellen.
Das antike Motiv der Deutungsbedürftigkeit von Texten wird in der christlichen Tradition so transformiert, dass deren Interpretationsbedürftigkeit auf eine Steigerung des Erkenntnisbemühens hin angelegt ist. Augustinus beantwortet die Frage danach, warum Gottes Rede mit dunklen Stellen und Allegorien versetzt sei, so:
“Die nämlich nicht geradewegs finden, was sie suchen, mühen sich unter Hunger ab. […] Denn prächtig und heilsam hat der Hl. Geist die Hl. Schrift so umgeformt, dass er mit klareren Stellen dem Hunger begegnet, mit den dunkleren aber den Überdruß vertreibt. Fast nichts nämlich wird in jenen dunklen Stellen aufgestöbert, was nicht anderswo in klarster Weise ausgedrückt gefunden werden kann.‟[28]
Gut tausend Jahre später, inzwischen hatte sich eine protestantische Verstehenslehre ausgebildet, handelt Matthias Flacius in ganz ähnlicher Weise von den ‟Ursachen der Schwierigkeit der Heiligen Schrift‟ und kommt zu dem Schluss:
“Vieles ist selbst den Frommen verborgen, damit sie um so eifriger die Heilige Schrift erforschen und eine klarere Offenbarung erstreben. […] Schließlich sollen wir hier Gott und seine Mysterien wie in einem Rätsel und unvollkommen erkennen, im anderen Leben aber vollständig und von Angesicht zu Angesicht sehen.‟[29]
“Wie in einem Rätsel‟: Diese Formulierung bringt ein zentrales Motiv in der Tradition der Verstehenslehren zum Ausdruck. Denn wenn ein Erkenntnisgegenstand in rätselhafter Weise gegeben ist, dann erfordert dies nicht nur intensive, sich hineinversetzende Beschäftigung mit ihm, es erfordert auch eine bestimmte Forschungsweise: Während das Erklären im Sinne des Beweisschlusses so etwas wie eine geistige Maschine entwirft, in der sich das eine aus dem anderen zwangsläufig ergibt, bewegt sich das Rätsellösen im Gestus des Suchens. Stets muss nach Möglichkeiten gesucht werden, es muss arrangiert und probiert werden, bis sich eine Lösung zeigt.
Suchen heißt auf Griechisch zetein. Um dieses Moment des Suchens im Verstehen herauszustellen, spricht man auch von einer “zetistischen‟, einer “forschenden‟ Interpretation.[30] Dieses suchende Moment sei nämlich gemeint, wenn “[…] in der hermeneutischen Literatur von der Erfahrung, dem Wissen, der Kongenialität, dem Takt und ‘Fingerspitzengefühl’, von Intuition und Divinationsgabe des Hermeneuten gesprochen wird‟.[31] Das Konzept des Forschens stammt nicht aus den Beweislehren, in denen es ums Demonstrieren geht, es stammt aus den Verstehenslehren: denn die Worte researchund forschen bezeichnen eine intellektuelle Haltung des Suchens und des Fragens, die dann auftaucht, wenn man wissen will, wie Dinge miteinander zusammenhängen, wie sich aus Teilen ein Gesamtzusammenhang ergibt oder woraus ein Zusammenhang besteht. Wie sich die Episteme-Scientia-Tradition durch Mathematisierung und Experimentalisierung entfaltete, so zeigt sich im weiteren Verlauf auch im Paradigma des hermeneutischen Forschens die Ausprägung mehrerer Praxis-Motiv-Komplexe: den Wissenschaftstypus der Rekonstruktion (Verstehen in der Relation von Teil und Ganzem), den Wissenschaftstypus der Kritik (Reflexion von Erkenntnisbedingungen) und den Wissenschaftstypus der Anpassung und Adäquation (der eigenen Konzepte an den Gegenstand des Wissens).
4.3 Die Tradition der Naturalis historia
Ein dritter Traditionsstrang, in dem sich Ideen zu Wissenschaft gebündelt haben, ist die Konzeption einer Naturgeschichte. Auch dieser Strang weist einen kanonischen Text auf: die Naturalis Historiae, verfasst von Plinius Secundus (der Ältere), einem römischen Gelehrten in der Zeit bis 77 n. Chr. In 37 Bänden versammelt das Werk weite Bereiche des Wissens der Antike aus den Sachgebieten Kosmologie, Astronomie, Meteorologie, Geologie, Geographie, Anthropologie, Zoologie, Botanik, Pharmakologie, Mineralogie, Metallurgie, Plastik und Malerei. Grundlage der Abhandlungen sind tausende von Exzerpten von über 400 Autoren, die auch namentlich genannt werden. Das umfangreiche Werk wurde durch zahlreiche Abschriften das gesamte Mittelalter hindurch tradiert und blieb auch in der Neuzeit ein wichtiger Bezugspunkt naturwissenschaftlichen Wissens.[32] Allein zwischen 1469 und 1799 sollen “[…]222 komplette und 281 Auswahlausgaben […]‟[33] erschienen sein. Die Verbreitung des Werks begründete eine Tradition, die ihren Höhepunkt im 18. und frühen 19. Jahrhundert erreichte.
Heute verbindet sich mit dem Wort Historie der Gedanken an Geschichte im Sinne eines zeitlichen Ablaufs. Das griechische Wort historia bedeutet aber ganz allgemein das Erforschen und das durch Befragen und Beobachten Erkannte und damit auch die Kenntnis, die Kunde und auch der Bericht von etwas. In der unzeitlichen Bedeutung stehen die großen Werke der neuzeitlichen Naturgeschichte. So etwa jenes Carl von Linnés, dem schwedischen Gelehrten, der ab 1737 in den zwölf – jeweils ausgeweiteten – Auflagen seiner Systema Naturae schließlich etwa 7700 Pflanzen-, 6200 Tier- und 500 Mineralienarten beschrieb und klassifizierte. Parallel verfasste zwischen 1749 und 1788 der französische Naturforscher Georges Louis Leclerc Buffon 36 Bände der (später noch ergänzten) Histoire naturelle générale et particulière. 1755 erschien Immanuel Kants Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels. und 1790 machte sich Alexander von Humboldt zunächst mit dem Naturforscher und Weltumsegler Georg Forster auf zu einer Forschungsreise an den Niederrhein, dann in einer großangelegten Amerikareise mit verschiedenen Expeditionen (1799-1804), die schließlich in den 1845–1862 publizierten Werk Kosmos – Entwurf einer physischen Weltbeschreibung mündete. Diese Epoche des Reisens und Beschreibens war zugleich eine der großen Sammlungen. Gesteine, Pflanzen, Insekten, Muscheln, Geräte, anatomische Präparate: nicht nur der Adel repräsentierte durch große Kunst- und Naturalienkabinette, sondern auch das Bürgertum entwickelte eine Leidenschaft, Sammlungen aller Art anzulegen.[34]
Die Rolle, die die Sammlungen für die Wissenschaft spielten, lässt sich wiederum an Linné belegen: Sein flexibler Herbarschrank, der so angelegt war, dass seine Fächer nicht fix waren, sondern nach Bedarf eingeteilt und ergänzt werden konnten, kann als ein Werkzeug der Systematisierung betrachtet werden. So zeigt sich in diesem Möbelstück “[…] eine neue empirische Wissenschaft, die sich auf Beobachten und Beschreiben, Sammeln und Klassifizieren stützte und die damit im 18. Jahrhundert die Grundlage der modernen Systematik auf Grund von Fakten und Objekten legte.‟[35]
Naturgeschichte, Natural History: solche Titel lassen an längst vergangene Wissenswelten denken. Aber tatsächlich ist das Erheben von Daten und ihre Integration in Ordnungssystemen (Taxonomien) nach wie vor ein Kernbereich wissenschaftlicher Tätigkeit.
Als mediale Form erlebte die Anordnung von “Information in tabellarischer Disposition‟[36] im 18. Jahrhundert ihre Blüte. Mit dem Anwachsen von Daten – 1623 habe man, so wird berichtet, 6000 botanische Arten, 1694 dann schon 10146 und nur zehn Jahre später 18655 gezählt[37] ‒ kommt allerdings auch die tabellarische Darstellung in vielen Bereichen an ihre Grenzen. Das gab Anlass, von einem “Ende der Naturgeschichte‟ im 19. Jahrhundert zu sprechen. Doch was hier zu Ende ging, war lediglich die Idee, dass sich die Ordnung der Natur, zusammengefasst in einem umfassenden Werk, überblickshaft als Ganzes darstellen lässt. Was dagegen seit dem 17. Jahrhundert immer deutlicher Kontur gewann, war die Methode, möglichst umfangreiche Daten zu erheben und aus der Organisation dieser Daten Erkenntnisse zu gewinnen. Hier kam seit dem 19. Jahrhundert auch die Statistik ins Spiel. Zunächst war Statistik nur die Aufzeichnung von verwaltungstechnisch relevanten Daten wie Bevölkerungszahl, Geburten und Sterbefälle. Doch mit dem Einsatz mathematischer Verfahren entwickelte sich daraus ein methodisches Arsenal, das tief in unterschiedliche Wissenschaften hinein wirkte und auch darauf zielte, in Datenmaterial Regelmäßigkeiten aufzufinden. Damit sind es auch in der Tradition der Naturalis historia drei Wissenschaftstypen, die die Gegenwart bestimmen: das Grundmuster der Gegenstandserfassung (beobachten, beschreiben), jenes der Ordnungsbildung (Typisieren, Klassifizieren) und das der Statistik (Daten sammeln, korrelieren).
Fassen wir zusammen: In der Traditionslinie der Naturgeschichte zeichnet sich ein Bild von Wissenschaft ab, das sich von den Konzeptionen der Scientia und der Interpretatio deutlich unterscheidet. Wissenschaft als Erhebung und Darstellung von Faktenwissen ist offensichtlich eine ganz andere Vorstellung als die eines Beweisens, das durch Ableitung aus Prinzipie zustandekommt oder die eines Verstehens, das sich in einen Prozess des suchenden Verknüpfens und Rätsellösens involviert.
Alle drei Konzeptionen von Wissenschaft haben offensichtlich tiefe Wurzeln in der abendländischen Geschichte des Denkens und ebenso offensichtlich tragen alle drei nach wie vor Früchte:
Episteme-Scientia-Tradition | Interpretatio-Hermeneutik-Tradition | Tradition der Naturalis Historiae |
beweisen, erklären demonstrieren, ableiten, reduzieren, operationalisieren, modellieren, | verstehen, interpretieren, kontextualisieren, rätsellösen, rekonstruieren, rekonzeptualisieren, neubeschreiben, aufspüren, decouvrieren, dekonstruieren | beobachten, entdecken, beschreiben, sammeln, messen, dokumentieren, zuordnen, typisieren, vergleichen, klassifizieren, korrelieren |
experimentieren, variieren |
|
Diese drei Traditionen haben sich in der Geschichte als jeweils zusammenhängende Wissenschaftsverständnisse etabliert. Sie haben sich aber auch weiter entfaltet und ausdifferenziert. Bei näherem Hinsehen zeigen sich drei verschiedene Verzweigungen jeweils in den drei Traditionen, so dass sich neun Typen von Wissenschaft unterscheiden lassen. Neben dem Bild von Wissenschaft als logische Beweisform hat die Episteme-Scientia-Tradition eine mathematisierte und eine experimentalisierte Form ausgeprägt, woraus als typische Formen die mathematische Modellierung und die experimentellen Laborwissenschaften entstanden (mitsamt ihrer weiteren Verknüpfung miteinander); die Interpretatio-Hermeneutik-Tradition weist als unterschiedliche Grundmuster das Paradigma der Adäquation, die Forschungsform der Rekonstruktion und den Wissenschaftstyp der Kritik auf; und in der Tradition der Naturalis Historiae, der Naturgeschichte, finden wir den gegenstandserfassenden Typus der Deskription, den auf Klassifikationen gerichteten ordnungsbildenden Typus und den korrelierenden Typus, die Statistik.
Episteme-Scientia-Tradition | Interpretatio-Hermeneutik-Tradition | Tradition der Naturalis Historiae | |||||||
Paradigma | |||||||||
des logischen Beweisens | des Experimentierens | der mathematischen Konstruktion und Modellierung | der Rekonstruktion | der Anpassung/ Adäquationder Konzepte | der Kritik(Reflexion auf Bedingungen) | der Gegenstanderfassung und Deskription | der Ordnungsbildung / Taxonomie | der Statistik( | |
Diese neun Ausprägungen von Wissenschaft treten heute jeweils als selbständige Formen in Erscheinung, die von ihren Protagonisten für gewöhnlich als Verkörperungen von Wissenschaft überhaupt wahrgenommen werden. Deutungskämpfe um Wissenschaft, also um die Frage, was überhaupt wissenschaftlich ist, resultieren aus dieser Verortung in unterschiedlichen gewachsenen Traditionen und Tiefenstrukturen.
5. Formen gegenwärtiger Forschungspraxis
Werfen wir einen kurzen Blick darauf, wie diese neun Formen von Forschung angelegt und in sich strukturiert sind.[38]
Das klassische Beweisparadigma beherrscht Teile der Mainstream-Wissenschaftsphilosophie, ist aber durchaus auch ein Leitmotiv der Ausrichtung von Forschung. Überall da, wo ein universales Regelwerk vorausgesetzt wird, das es aufzudecken und in formaler Sprache zu ‘beschreiben’ gilt, werden Fakten auf universale Prinzipien und Regeln zurückgeführt, aus denen sich im Zuge logischer Demonstration ihre Form und Erscheinung erklären lässt. Ob dies Sprachformen sind, die aus einer Universalgrammatik abgeleitet werden, oder menschliche Eigenschaften, die auf einen formalen Gencode zurückgeführt werden: in all solchen Fällen wird Wissenschaft im Paradigma des Beweisens angelegt.
Dies ist aber gerade nicht die Verfahrensform experimenteller Naturwissenschaften. Hier spielen Formelwerke die Rolle sowohl von Fixpunkten als auch von Instrumenten im Forschungsprozess, wie bereits Thomas Kuhn gezeigt hat.[39]Formulierungen von Naturgesetzen beziehen sich auf ‘idealisierte’, d.h. bereits – im weiten Sinne – mathematisierte Bedingungen. Aber auch unabhängig von mathematisch-formelhaften Beschreibungen können Experimentalsysteme durch ihre Fortentwicklung eine so stabile Form erreichen, dass in ihrer Variation regelmäßige Verläufe mit distinktivem Erkenntniswert gewonnen werden. Das einschlägige Motto stammt von Ian Hacking: “Experiments have a life of their own.‟[40]
Auf der anderen Seite mündete die Mathematisierung nicht in einen sich akkumulierenden Korpus abstrakter Prinzipien (wie im Beweisparadigma), sondern in Folgerungstechniken, die zunächst unabhängig von materialen Experimentalsystemen Strukturwissen produzieren. Stephen Toulmin hat diesen Zusammenhang dargelegt;[41] die Einsteinsche Relativitätstheorie ist ein schlagendes Beispiel für diesen Modus einer strukturkonstruierenden-mathematischen Forschungsform.
In der Zusammenschau finden wir in der Traditionslinie der Episteme also folgende Entfaltung von Forschungsformen vor:
Tradition der Episteme-Scientia | ||
(1) klassisches Beweisparadigma | (2) Paradigma der mathematisierten Wissenschaft | (3) Ansatz der experimentellen Labor-wissenschaften |
Welche universalen Prinzipien, Gesetzmäßigkeiten, Mechanismen oder Formen beherrschen einen Phänomenbereich, so dass die Phänomene sich aus den Prinzipien logisch ableiten lassen? | Welche Folgerungen über phänomenale Zusammenhänge lassen sich durch Operationen in einem mathematischen Regelsystem erschließen? Welche möglichen Gegenstände, Struktureigenschaften und Produkte sind in der Regelform einer formalen systems impliziert? | Welche kausalen Zusammenhänge zeigen sich in der kontrollierten Variation von Faktoren in Experimentalsystemen? |
beweisen reduzieren formalisieren operationalisieren deduzieren | Entwicklung und Anwendung sämtlicher mathematischer Folgerungstechniken (z.B. geometrische Konstruktion (Optik), Vektorrechnung, Differentialgleichung; zunehmend komplexe mathematische Modellierung mit informationstechnischen Mitteln) | Sämtliche Labortechniken, die dem Einrichten, Stabilisieren und Prozessieren von Experimentalsystemen dienen; isolieren idealisieren modifizieren variieren Beobachten von Effekten experimentelle Simulationen |
Erklärungen als logische Folgen aus den zugrundeliegenden Prinzipien, Gesetzmäßigkeiten, Mechanismen oder Formen und den jeweils gegebenen Bedingungen (Prämissen). Theorien über einen Phänomenbereich mit dem Ideal einer durchformalisierten Sprache, | mathematische Modellierungen, die nicht nur der Prognose, sondern auch Konstruktionen möglicher ‘neuer’ Sachverhalte, Zusammenhänge und Produkte bereitstellt. | Stabilisierte Experimentalsysteme, die im Geflecht von Aussagen und Hypothesen einer Theorie Zusämmenhänge bestätigt, korrigiert oder neu einführt; Im Falle mathematisierter Wissenschaften zielt das Experimentieren durch die Kontrolle von Bedingungen (Labor) auf eine für mathematische Folgerungstechniken kompatible Form. |
Kommen wir nun zur zweiten Traditionslinie: Im Forschungsparadigma der Interpretation und Hermeneutik haben sich ebenfalls drei weitere Wissenschaftstypen miteinander verflochten.
Es ist eine der ältesten und uns auch geläufigsten Vorstellungen, dass Erkenntnis darin bestehe, das Wissen oder Auffassen in Übereinstimmung mit dem Gegenstand zu bringen. Die “adaequatio rei et intellectus‟ [42], führte ins hermeneutische Paradigma der Anpassung oder Aäquation, das sich in einem Prozess der Selbstkorrektur darauf richtet, die Konzepte, Begriffe und Beschreibungen immer besser an den sich dabei deutlicher und umfassender zeigenden Gegenstand anzupassen.
Davon unterscheidet sich der hermeneutische Ansatz der Rekonstruktion, der sich methodisch als Bewegung zwischen Teilen und Ganzem darstellt. Dieser Ansatz wurzelt in der Aufgabenstellung des Verstehens von Texten. Texte bestehen aus Teilen, das sind Wörter, Sätze, Abschnitte. Die Bedeutung eines Textes hängt von seinen Teilen ab. Umgekehrt hängt aber die Bedeutung eines jeden Teils von seinem jeweiligen Kontext, letztlich vom Ganzen ab. Teil und Ganzes bestimmen sich gegenseitig. Diesen Ansatz haben im 19. Jahrhundert Schleiermacher für die Philologie und Droysen für die Geschichtswissenschaften ausbuchstabiert.[43]
Eine dritte Ausprägung des hermeneutischen Forschungsparadigmas ist die Kritik mit ihrer Entdeckung von Reflexivität und Perspektivität in der Wissensbildung. Erkenntnis erscheint hier als Reflexion auf Gedachtes und ‘Gewusstes’. Ausgehend von dem Theorem, dass es kein Wissen oder Vorwissen, kein Verständnis ohne Vorverständnis gibt, richtet sich hier die Forschung auf die ins Denken und Wissen eingehenden Bedingungen – seien dies historische, soziale, individuelle, kognitive, neuronale, sprachformbedingte, medienspezifische oder kulturelle Bedingungen. Es ist die Figur des ‘Vor-sich-Bringens’ und dadurch ‘Unterscheiden-Könnens’, die das Paradigma der Kritik beherrscht.[44]
Wir können also auch hier drei Ausprägungen von Forschung nebeneinander stellen:
Tradition der Interpretatio-Hermeneutik | ||
Forschungsansatz der interpretativen Adäquation | Forschungsansatz der Rekonstruktion | Forschungsansatz der Kritik |
Wie müssen Begriffe, Konzepte, theoretische Formulierungen verändert werden, um einem Gegenstand gerecht zu werden | Wie sieht ein x aus, von dem nur Teile, Relikte, Spuren bekannt sind? Was geschah? | Welche verborgenen, unbemerkten, vernachlässigten oder verdrängten Einflussfaktoren liegen einer Erkenntnis, einer Wissensformation zugrunde? |
Arbeit an phänomengerechten Formulierungen Begriffsarbeit rekonzeptualisieren neu-beschreiben | versuchsweise kombinieren kontextualisieren variieren Vervollständigung durch Rätsellösen | Refelexion von Standortgebundenheiten; Perspektivität, aufspüren entlarven decouvrieren dekonstruieren |
beschreibenden Auslegung, die die die Schwierigkeit der Übersetzung und die Notwendigkeit einer sich verändernden Denkens mit dokumentiert | Stimmige (synthetische) Rekonstruktion der ursprünglichen Ganzheit; des in Frage stehenden Prozesses | Reflexives Wissen, das sich seiner Gebundenheit an Erkenntnis-interessen und -voraussetzungen bewusst ist; sprach, denk- und ideengeschichtliche; sozio-kulturelle, wissensgeschichtliche und wissenssoziologische Kontextualiserung; Ideologiekritik |
Bleibt, drittens, die naturgeschichtliche Traditionslinie (naturalis historia): Die Fest-Stellung des Auffindbaren in einem Aufzeichnungssystem ist der Kern dieser Traditionslinie. Dieses prägte sich historisch auf wiederum drei Weisen aus:
Erstens, das Paradigma des Beschreibens/ des Deskriptiven: Einige wissenschaftliche Disziplinen tragen das Ideal der Deskription schon in ihrem Namen – etwa Geographie und Ethnographie (graphein: das griechische Wort für ‘ritzen’, ‘schreiben’). In vielen anderen Disziplinen ist das Deskriptive mehr eine Tiefenüberzeugung: Im Kern bestehe Wissenschaft in genauer Beobachtung, in der Feststellung von Tatsachen und in ihrer möglichst detailgetreuen Beschreibung. So sieht ein Bild von Wissenschaft aus, das vor allem auf nüchterne Betrachtung setzt und sich gegen jede Art von Spekulation wendet. Die klassischen Gegenüberstellungen sind die von Beschreiben versus Interpretieren und Beschreiben versus Erklären. Die Tradition der Historia Naturalis hat also als eine ihrer Ausprägungen eine Denkfigur hervorgebracht, die Wissenschaft als Feststellung, Sicherung und Beschreibung von ‘Tatsachen’ bzw. ‘Fakten’ betrachtet.
Zweitens, der taxonomische, ordnungsbildende Ansatz: Während im deskriptiven Bild von Wissenschaft die Identifikation, Erfassung und Charakterisierung von Gegenständen im Zentrum steht, verschiebt sich der Blickwinkel im taxonomischen Ansatz der Historia Naturalis zu den Beziehungen zwischen den Dingen und zu den Ordnungen, die sie bilden. Während im deskriptiven Ansatz die Dinge als einzelne Vorkommnisse, lediglich in ihren Eigenschaften und Verortungen in Raum und Zeit zum Gegenstand werden, geht der taxonomische (von gr. taxis: Ordnung) davon aus, dass die wissenschaftlich erschließbare Welt in sich geordnet ist. Frage ist hier, wie die Welt geordnet ist, welche Beziehungen bestehen, welche Unterschiede und welche Gemeinsamkeiten zwischen den Dingen festzustellen sind. Begriffe wie Art, Gattung, Typus, Kriterium und Verwandtschaft bilden die Grundlage dieses Bildes von Wissenschaft und Praktiken wie vergleichen, einordnen und klassifizieren prägen es. Neben den traditionell naturgeschichtlichen Fächern wie Botanik, Zoologie und Mineralogie entstanden in diesem Paradigma eine Reihe anderer Fächer wie vergleichende Geschichtswissenschaften, vergleichende Kunstgeschichte, vergleichende Rechtswissenschaft, vergleichende Politikwissenschaft, International vergleichende Soziologie und ein Zweig der Linguistik: die Sprachtypologie. Auch viele andere Klassifikationen wie die der Fundstücke der Archäologie oder der Systematik der Bakteriologie stehen in diesem Horizont.
Als dritter Typus ging aus dieser Traditionslinie die Statistik hervor. Statistik teilt zunächst die Grundpraktiken des taxonomischen Ansatzes, Daten nach Kategorien zu unterteilen, in Rubriken einzuordnen, zu typisieren und zu klassifizieren. Ihr eigentümliches Merkmal besteht nun aber in der Quantifizierung: an Stelle einer qualitativen Ordnung steht hier eine Korrelation von Zahlenwerten – mit einer in der historischen Entwicklung der Statistik zunehmend höherstufiger Berechnung korrelativer Verhältnisse. Statistik ist deshalb heute nicht nur der Name für quantitative Datenerhebungen, sondern auch für eine mathematische Disziplin. Diese Mathematik ist es, die in vielen Statistik-Kursen, z.B. in der Psychologie, der Soziologie oder der Epidemiologie gelehrt und gelernt wird. Die Anwendung probabilistischer Verfahren auf empirische Forschung ist aber in jüngster Zeit deutlicher Kritik unterzogen worden.[45]Davon unbenommen ist die der Statistik eigene Forschungspraxis, Strukturen in großen Datenmengen zu detektieren. Sind die Datenmengen klein, genügt das Gedächtnis oder eine visuelle Darstellung in Diagrammen, um solche Verhältnisse sichtbar und einschätzbar zu machen. Mit dem Anwachsen der Datenmenge verliert sich diese Möglichkeit aber schnell und es zeigt sich, wie sich die mathematische Statistik als ein Instrumentarium der Forschung bewährt: Wie das Teleskop und das Mikroskop die Bereiche des Sehr-Entfernten und des Sehr-Kleinen zugänglich machen, so erschließt die Statistik den Bereich des Sehr-Vielen, der großen Mengen.
Damit zeigt sich auch der Ansatz der Naturalis Historiae in einer dreifachen Ausdifferenzierung:
Tradition der Naturalis Historiae | ||
Gegenstands-erfassender Foschungs-ansatz | Typisierend-ordnungsgenerierender Forschungsansatz | Forschungsansatz der klassischen Statistik |
Was ist x? Wo kam x vor? Wie lässt sich x beschreiben? Welcher Werte werden gemessen? | Welche Merkmale zeigt x in Vergleich zu y? Welchem Typ, Gattung, Epoche gehört x an? | Wie häufig kommt x vor? In welchen Korrelationen tritt x auf? Wie verteilen sich Häufigkeiten hinsichtlich weiterer Parameter? |
beobachten beschreiben messen entdecken dokumentieren | vergleichen bestimmen typisieren korrelieren | Daten erheben gruppieren, korrelieren |
Kenntnis neuer Tatsachen, korrekte Zuordnung; möglichst vollständige Datensätze Archiv; Chronologie; Karte; Graph etc. | merkmals-gerechte Einordnung in Typologien
Taxonomien | Darstellungen von Häufigkeitsverteilungen in Form von Tabellen und Diagrammen |
6. Neun Typen wissenschaftlicher Forschung – eine Synopse
Wir finden also eine Reihe von Forschungstypen vor, die jeweils einen Eigenwert besitzen und – wie die historische Rekonstruktion zeigte – historisch verankerte Ideale von Wissenschaftlichkeit verkörpern. Konflikte um Wissenschaft treten immer da auf, wo dieser jeweilige Eigenwert nicht geachtet wird und wo ein Forschungstyp zur eigentlichen, wahren Form von Wissenschaft erklärt wird. Ob es die logische Beweisform, der technische Erfolg, die Objektivität der Brute Facts, die Überschreitung des Alltagsverständnisses, die Reflexionstiefe der Argumentation oder die Bewältigung von Datenmengen ist: jede wissenschaftliche Leistung kann auf den Thron der Wissenschaftlichkeit gehoben werden. Eine solche Vorrangstelle ist aber nicht nur unbegründet, sie verhindert auch interdisziplinäre Kooperation auf Augenhöhe. Das heißt: sie verhindert, dass jeder Forschungsansatz in einer Kooperation seine eigenen Stärken vollständig einbringen kann.
Um dem abzuhelfen, gilt es, die Unterschiede zwischen den Forschungsansätzen nicht als Unterschiede des Wertes oder der Entwicklung zur Wissenschaftlichkeit zu beschreiben, sondern sie auf einer Ebene vergleichbar zu machen.
Wie ist dies möglich?
Der Zugang, mit dem wir die Ausdifferenzierung der drei Wissenschaftstraditionen in Wissenschaftstypen rekonstruierten, legte sich methodisch auf ein Konzept von Wissenschaft fest, das sie als Motivationskomplexe betrachtete. Motiviert ist Wissenschaft in jeweiligen Zielstellungen, die Fragetypen mit Antwortsystemen verknüpfen. Aus diesem Verhältnis, was überhaupt als Problemstellung und was als Ergebnis oder Resultat gilt, ergibt sich die Form der Praxis, die jeweils charakteristische forscherische Handlungsform. Ein Wissenschaftstypus kann so als Motivations-Praxiskomplex mit je eigener Spezifik betrachtet werden.
Wissenschaftstypen als gleichwertige Zugänge zu Wissen von Wirklichkeit zu betrachten, kann dazu verhelfen, den Begriff der Wissenschaft von falschen Hierarchien und fruchtlosen Kämpfen, um Deutungshoheit zu befreien. Ein pluralistischer Wissenschaftsbegriff öffnet den Weg zu interdisziplinäre (genauer wäre nun zu sagen: interwissenschaftstypischer) Kooperation auf Augenhöhe.
Hier eine Synopse:
Bibliographie
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Gigerenzer, Gerd: Das Einmaleins der Skepsis. Über den richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken. München/Berlin: Piper Verlag, 2015.
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Saint-Mont, Uwe: Statistik im Forschungsprozess. Eine Philosophie der Statistik als Baustein einer integrativen Wissenschaftstheorie. Heidelberg: Physica-Verlag, 2011.
Saussure, Ferdinand de: Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 1967.
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Schurz, Gerhard: ‚Wissenschaftliche Erklärung‘. In Wissenschaftstheorie. Ein Studienbuch,edited by Andreas Bartels and Manfred Stöckler, Paderborn: Brill, 2007, 69–88.
Sokal, Alan and Bricmont, Jean: Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen. München: C.H. Beck, 1999.
Spektrum der Wissenschaft. Physik, Mathematik, Technik, Spezial: Vorsicht Statistik! Vom Gesetz der großen Zahlen bis zu Klimarekorden, 3 (2019).
Szaif, Jan u.a.: Eintrag ‚Wahrheit‘. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, hrsg. v. Joachim Ritter, Basel: Schwabe & Co, 2005, 48552‒48784.
Toulmin, Stephen: Voraussicht und Verstehen. Ein Versuch über die Ziele der Wissenschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1968.
Toulmin, Stephen: Einführung in die Philosophie der Wissenschaft. Göttingen: Vandenhoek und Ruprecht, 1969.
Windelband, Wilhelm: Geschichte und Naturwissenschaft. Rede zum Antritt des Rectorats der Kaiser-Wilhelms-Universität Strassburg. Straßburg: Heitz & Mündel, 1904.
[1] Johann Gustav Droysen: Historik. Band 1: Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857). Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/1858) und in der letzten gedruckten Fassung (1882) (Stuttgart/Bad Cannstatt: frommann – holzboog, 1977), 461.
[2] Droysen: Historik. Band 1, 477.
[3] Droysen: Historik. Band 1, 474.
[4] Droysen: Historik. Band 1, 474.
[5] Wilhelm Windelband: Geschichte und Naturwissenschaft. Rede zum Antritt des Rectorats der Kaiser-Wilhelms-Universität Strassburg(Straßburg: Heitz & Mündel, 1904), 16.
[6] Windelband: Geschichte und Naturwissenschaft, 12.
[7] Windelband: Geschichte und Naturwissenschaft, 12–13.
[8] Wolfgang Krohn: Learning from Case Studies, in Handbook of Transdisciplinary Research, hrsg. v. Gertrude Hirsch Hadorn u.a. (Berlin: Springer, 2008) 371.
[9] Snow ging es tatsächlich nicht um zwei Arten von Wissenschaften, sondern um den Konflikt zweier gesellschaftliche Kulturen: auf der einen Seite die untergehende Welt der gesellschaftlichen Eliten, mit ihren traditionellen Bindungen und ihren aristokratischen und großbürgerlichen Bildungsidealen, auf der anderen das neue Selbstbewusstsein der modernen Naturwissenschaften. Snows These hatte eine bemerkenswerte Vorgeschichte: Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war die klassische Bildung als „proper education of a gentleman“ an den englischen Universitäten allein bestimmend. Erst 1850 wagte Cambridge einen Kurs in natural science anzubieten. 1880 forderte dann Thomas H. Huxley, ein Biologe in den Fußstapfen von Darwin und Hume, das klassizistische Bildungsideal heraus und forderte eine Anerkennung der Naturwissenschaften in ihrem geistigen Wert und in ihrem Beitrag zu nationalen Wohlstand. Wie im Fall Snows, einige Jahrzehnte später, folgte prompt eine Antwort von Seiten der etablierten Bildung: Der “leading man of letters in Victorian England‟, Matthew Arnold, konzedierte, dass beide, Wissenschaft und klassische Bildung, ihren Platz haben sollten, dass aber, zur Heranbildung eines “educated man‟ das Studium der Literatur, insbesondere der antiken Literatur unverzichtbar sei. Damit war der Rahmen vorgezeichnet für den Einsatz Snows. Vgl.: Stefan Collini, introduction to The two Cultures, by C. P. Snow (Cambridge: Cambridge University Press, 1998), xiii‒xvi.
[10] Der polemische Titel steht im Kontext der ‚Sokal-Affäre‘ aus den 1990er Jahren: Alan Sokal and Jean Bricmont: Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen (München: C.H. Beck, 1999).
[11] Alistair Cameron Crombie: Styles of Scientific Thinking in the European Tradition. A history of argument and explanation especially in the mathematical and biomedical sciences and arts (London: Duckworth, 1994).
[12] Gerhard Schurz: ‘Wissenschaftliche Erklärung‘. In: Wissenschaftstheorie. Ein Studienbuch, hrsg. v. Andreas Bartels and Manfred Stöckler (Paderborn: Brill, 2007), 69-88, hier 72.
[13] Aristoteles: Lehre vom Beweis oder Zweiten Analytik (Organon IV), übers., mit einer Einl. u. Anm. hrsg. v. Wolfgang Detel (Hamburg: Felix Meiner, 2011), Buch I, 13, 78b.
[14] Aristoteles: Lehre vom Beweis oder Zweiten Analytik, Buch II, 2, 90a.
[15] Wolfgang Detel: Einleitung zu Aristoteles: Lehre vom Beweis oder Zweiten Analytik. Analytica Posteriora. Griechischer Text nach W. D. Ross. Übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Wolfgang Detel, (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2011), XXXII, Fn. 46.
[16] Vgl. Schurz, Wissenschaftliche Erklärung, 69.
[17] Vgl. Kuno Lorenz: ‚Beweis‘. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1., hrsg. v. Joachim Ritter (Basel: Schwabe & Co, 1971), 885.
[18] René Descartes: Regulae ad directionem ingenii. Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft, krit. revid., übers. u. hrsg. v. Heinrich Springmeyer, Lüder Gäbe, Hans Günter Zekl (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1973), 17–21, Regel III, Abs. 8 und 5.
[19] Der Eintrag ‚Hermeneutik‘ in Historisches Wörterbuch der Philosophie, (Bd. 3, hrsg. v. Joachim Ritter (Basel: Schwabe & Co, 1974), 1062-1073 weist bezeichnenderweise nur wenige verstreute Textstellen auf.
[20] Manfred Fuhrmann: Interpretatio. Notizen zur Wortgeschichte. In Sympotica, hrsg. v. Franz Wieacker (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht,1970), 81.
[21] Ob der Titel von Aristoteles stammt, ist umstritten, auch der Zusammenhang zur Themenstellung der Interpretation ist nur, aber immerhin, indirekt zu rekonstruieren. Vgl. Meinrad Böhl, Wolfgang Reinhard u. Peter Walter (Hrsg.): Hermeneutik: Die Geschichte der abendländischen Textauslegung von der Antike bis zur Gegenwart. Dichtung ‒ Bibel ‒ Recht ‒ Geschichte ‒ Philosophie (Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2013),14–15.
[22] Vgl. Gerhard Kurz: Hermeneutische Künste. Die Praxis der Interpretation (Stuttgart: J.B. Metzler, 2018) 7.
[23] Marcus Tullius Cicero: De re publica. Vom Staat. Übers. u. hrsg. v. Michael von Albrecht (Stuttgart: Reclam, 2013) 3. Buch, Kap. 22, 201.
[24] Rolf Knütel, Berthold Kupisch, Sebastian Lohsse and Thomas Rüfner (Hrsg.): Corpus Iuris Civilis. Die Institutionen. Text und Übersetzung (Heidelberg: C. F. Müller Wissenschaft, 2013, 4. Aufl.) Erstes Buch, Zweiter Titel, 8, 4.
[25] Vgl. Gerhard Kurz: Hermeneutische Künste. Die Praxis der Interpretation (Stuttgart: J.B. Metzler, 2018); Meinrad Böhl, Wolfgang Reinhard u. Peter Walter (Hrsg.): Hermeneutik: Die Geschichte der abendländischen Textauslegung von der Antike bis zur Gegenwart. Dichtung ‒ Bibel ‒ Recht ‒ Geschichte ‒ Philosophie (Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2013).
[26] Zur Rolle von Augustinus in der Hermeneutik vgl. Böhl, Reinhard and Walter, Hermeneutik, 162‒164.
[27] Karla Pollmann: Nachwort. In: Aurelius Augustinus: Die christliche Bildung (De doctrina christiana). Übersetzung, Anmerkung und Nachwort v. Karla Pollmann, (Stuttgart: Reclam, 2013), 260–261.
[28] Aurelius Augustinus: Die christliche Bildung (De doctrina christiana) [426/427] (Stuttgart: Reclam, 2002), Zweites Buch, VI.7.14, 51.
[29] Matthias Flacius Illyricus: De ratione cognoscendi sacras literas. Über den Erkenntnisgrund der Heiligen Schrift, übers., eingel. u. m. Anm. vers. v. Lutz Geldsetzer (Düsseldorf: Stern-Verlag Janssen, 1968), 23. Es handelt sich bei dieser Textausgabe um den Anfang des zweiten Teils der Clavis scripturae sacris von 1567, Vgl. das Vorwort des Herausgebers.
[30] Cf. Lutz Geldsetzer, Einleitung zu: De ratione cognoscendi sacras literas. Über den Erkenntnisgrund der Heiligen Schrift, ed. Matthias Flacius Illyricus (Düsseldorf: Stern-Verlag Janssen, 1968), XIV–XVII.
[31] Geldsetzer, Einleitung, XV.
[32] Vgl. Arno Borst: Das Buch der Naturgeschichte: Plinius und seine Leser im Zeitalter des Pergaments (Heidelberg: C. Winter, 1994), 339.
[33] Borst: Das Buch der Naturgeschichte, 339.
[34] Vgl. Henning Bock: Bürgerliche Sammlungen im 18. Jahrhundert. Bildung durch Anschauung. In: Kunst als Kulturgut. Band II, „Kunst“ und „Staat“, hrsg. v. Annemarie Gethmann-Siefert, Christoph Düchting, Elisabeth Weisser-Lohmann and Bernadette Collenberg-Plotnikov (München: Wilhelm Fink, 2011), 33‒50.
[35] Bock: Bürgerliche Sammlungen im 18. Jahrhundert, 33.
[36] Arndt Brendecke: Information in tabellarischer Disposition. In Wissensspeicher der Frühen Neuzeit: Formen und Funktionen, hrsg. v. Frank Grunert and Anette Syndikus (Berlin: Walter de Gruyter, 2015), 43‒59.
[37] Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte: Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts (München: Hanser, 1976), 55.
[38] Ausführlich dann in: Werner Kogge: Einführung in die Wissenschaften. Wissenschaftstypen – Deutungskämpfe – Interdisziplinäre Kooperation (Bielefeld: transcript, 2021).
[39] Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988), 203.
[40] Ian Hacking: ‚Do Thought Experiments Have a Life of Their Own? Comments on James Brown, Nancy Nersessian and David Gooding‘, PSA: Proceedings of the Biennal Meeting of the Philosophy of Science Association. Vol. Two: Symposia and Invited Papers, (1992): 302‒308.
[41] Stephen I. Toulmin (im Orig. 1953): Einführung in die Philosophie der Wissenschaft, Göttingen 1969.
[42] Vgl. Jan Szaif u.a.: ‚Wahrheit‘. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, hrsg. v. Joachim Ritter (Basel: Schwabe & Co, 2005), 48612.
[43] Friedrich Schleiermacher drückt die Zugangsweise des Verstehens in der Formulierung aus, dass wir „öfter vom Ende zum Anfang zurückkehren und das Auffassen ergänzend von neuem beginnen; je schwieriger die Gliederung des Ganzen zu fassen ist, desto mehr suchend ihr vom Einzelnen aus auf die Spur […] kommen, je reichhaltiger und bedeutsamer das Einzelne ist, um so mehr suchend es vermittelst des Ganzen in all seinen Beziehungen [auffassen].“ Friedrich Schleiermacher: Über den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F.A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch, in Hermeneutik und Kritik mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers / F. D. E. Schleiermacher. Hrsg. und eingel. von Manfred Frank (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977), 333–334. Droysen lehnt jedes Denken ab, das einen absoluten Anfang, einen Ursprung oder ein Wesen einer historischen Erscheinung annimmt: „(E)s ist einfach eine methodische Gedankenlosigkeit“, schreibt er, „wenn man forschend zu einem Punkt gelangen zu können meint, der anders als relativ der Anfang wäre, d.h. der sich anders als in dem, was daraus geworden ist, als Anfang ausweist.“ Das bedeutet, „dass wir […] das Nacheinander, zu dem wir uns forschend das Gewordene rekonstruieren, nur nachzuahmen versuchen“. Droysen, Historik. Band 1, 159– 160.
[44] Eine besonders pointierte Auffassung zur Herangehensweise der Kritik formuliert der französische Philosoph und Wissenshistoriker Michel Foucault: „Von der Romantik bis zur Frankfurter Schule wurde immer wieder die Rationalität mit dem ihr eigentümlichen Gewicht der Macht in Frage gestellt. Nun besteht die Kritik der Erkenntnis, die ich Ihnen vorlegen werde, nicht nur darin, das beständig […] unterdrückende Moment der Vernunft anzuprangern, denn schließlich, glauben sie mir, ist die Unvernunft genauso unterdrückend. […] Die Kritik, die ich Ihnen vorschlage, besteht darin zu bestimmen, unter welchen Bedingungen und mit welchen Auswirkungen sich eine Veridiktion vollzieht. […] Das Problem besteht darin, die Bedingungen sichtbar zu machen, die erfüllt sein mußten, damit man über den Wahnsinn – aber dasselbe gilt für die Delinquenz und für die Sexualität – sprechen, Diskurse halten kann, die wahr oder falsch sein können, und zwar nach den Regeln der Medizin oder der Beichte oder, darauf kommt es nicht an, der Psychoanlyse.“ Michel Foucault: Die Geburt der Biopolitik Geschichte der Gouvernementalität II (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006), 61.
[45] Ausgedrückt in der Rede vom “Fluch des P-Werts‟, von “statistischen Ritualen‟, von “mindless statistics‟ und “null science‟ (Uwe Saint-Mont: Statistik im Forschungsprozess. Eine Philosophie der Statistik als Baustein einer integrativen Wissenschaftstheorie (Heidelberg: Physica-Verlag, 2011), 93); Vgl. auch: Spektrum der Wissenschaft. Physik, Mathematik, Technik, Spezial: Vorsicht Statistik! Vom Gesetz der großen Zahlen bis zu Klimarekorden, 3 (2019); “ Gerd Gigerenzer: Das Einmaleins der Skepsis. Über den richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken(München/Berlin: Piper Verlag, 2015); Charles Lambdin: “Significance tests as sorcery: Science is empirical – significance tests are not”, Theory & Psychology 22 (2012): 67–90.