Schrift und das „Rätsel des Lebendigen“

Die Entstehung des Begriffssystems der Molekularbiologie zwischen 1870 und 1950.

Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin 2010
 
Preprint 409

Textauszug zur Methodologie: Kriteriologie statt Konstruktivismus

1.3. Das Problem einer ’Vorgeschichte’ der Molekularbiologie:

Wenn hier von einer ‚Vorgeschichte‘ die Rede ist, so ist dies im offenen Sinne einer Rekonstruktion wissenschaftlicher und geistesgeschichtlicher Entwicklungen gemeint, die der Entstehung der Molekularbiologie vorangingen. Eine solche Rekonstruktion haben verschiedene Autor/inn/en in je eigener Weise bereits unternommen. Neben einer Reihe kleinerer Arbeiten konnte ich zurückgreifen auf: Lily Kays weitsichtige Studie Who wrote the Book of Life?[1] (die wir bereits angesprochen haben), Evelyn Fox Kellers Buch Refiguring Life[2] (mit drei wichtigen Untersuchungen zum Diskurs der Genaktivität, zum historischen Zusammenhang von Biologie und moderner Physik und zur Genese von Telegraphie- und Computermetaphern), François Jacobs Gesamtschau neuzeitlicher Biologie in La logique du vivant[3] (die diskursive Zusammenhänge und Brüche in instruktiver Weise zeigt, aber an einigen Stellen daran krankt, molekularbiologische Terminologie anachronistisch in ihre Vorgeschichte rückzuschreiben), Hans-Jörg Rheinbergers Kurze Geschichte der Molekularbiologie[4] (die in der Zusammenstellung lokal ausgebildeter Experimentalsysteme sich explizit gegen den Versuch stellt, einen einheitlichen Gründungszusammenhang zu konstruieren), Ludger Weß‘ Buch Die Träume der Genetik[5] (in dem Zusammenhänge zwischen moderner Biologie und Eugenik herausgearbeitet werden) und schließlich auf die grundlegende, viel zitierte Studie von Robert Olby The Path to the Double Helix[6](die verschiedene Forschungslinien herausarbeitet und materialreich dokumentiert).

Mit dem Begriff ‚Vorgeschichte‘ meine ich also den Gegenstand dieser Forschungen, keineswegs eine determinierte Entwicklung im Sinne der Behauptung: ‚es musste (gemäß der Logik der Sache) so kommen.‘ Es wird keine Teleologie der Entwicklung impliziert, schon gar nicht eine Entwicklung im Sinne eines Fortschrittes. Der Ansatz meiner Rekonstruktion der ‚Vorgeschichte‘ der Molekularbiologie besteht darin zu zeigen, wie sich nicht nur externe denkgeschichtliche Tendenzen, sondern auch interne, aus der Forschung und ihren Phänomenen stammende Motive so ausbildeten und verstärkten, dass die Verwendung skripturalen Vokabulars für biologische Phänomene hochgradig plausibel erscheinen konnte.

1.4 Zur Frage, wie sich die phänomenale Motivationslage eines begrifflichen Einsatzes untersuchen läßt: zum Einsatz des Schriftbegriffs

Eine starke Denkströmung ist derzeit dadurch charakterisiert, dass in ihr ausgeschlossen wird, inhaltliche Motive, also von der Sache, von den Phänomenen her rührende Gründe für Begriffsbildungen historisch und systematisch zu untersuchen. ‚Sachen‘ und ‚Phänomene‘ werden in dieser Denkströmung grundsätzlich als Konstruktionen verstanden, so dass es scheint, Aufgabe historischer, kulturwissenschaftlicher und philosophischer Rekonstruktionen könne nur sein, die Konstruktionsbedingungen und -prozesse zu untersuchen. Hier ist die wissenschaftstheoretische Unterscheidung von wissenschaftsexternen und wissenschaftsinternen Faktoren von Belang.[7] Der Begriff Konstruktion impliziert in den gegenwärtigen Diskursen die Auffassung, dass es externe, also soziale, historische und persönliche Motive sind, die als Bedingungen der Begriffsbildungen einzig in Betracht zu ziehen sind. Übersehen wird dabei die Gefahr, einem naiven Realismus (‚die Begriffe sind wahre Repräsentationen der Strukturen der Natur‘) eine ebenso naive Umkehrfigur (‚die Begriffe sind Produkte sozial und historisch kontingenter Strukturen‘) entgegen zu setzen. Was stattdessen zu tun ist, ist, den Zusammenhang sozialer und historischer Faktoren mit denjenigen Ereignissen und Erscheinungen in Rechnung zu stellen, die auftreten, auch ohne dass schon ein fertiges Begriffsgerüst für sie bereitstünde. Es geht also um einen Forschungsansatz, der nicht von vornherein Bescheid weiß darüber, welche Art von Bedingungen für einen Begriffsbildungsprozess ausschlaggebend waren. Im Sinne dieser offenen Frage wird hier nun zwar nicht der Versuch unternommen, das angedeutete Bedingungsgefüge in seinen unterschiedlichen Dimensionen zu rekonstruieren – dazu genügte der Rahmen dieses Textes bei weitem nicht –, aber es wird erprobt, inwieweit sich gegen die vorherrschende externalistische Deutung interne Motive im hermeneutischen Sinne ’stark‘ machen lassen. Dazu bedarf es eines inhaltlichen Zugriffs auf die Fragestellung. Dieser Zugriff wird hier durch eine kriteriologische Analyse des Schriftbegriffs (und seines semantischen Feldes) bereitgestellt. Ohne hier auf Einzelheiten eingehen zu können, sei gesagt, dass dieses von Wittgensteins Form des Philosophierens her entwickelte Verfahren die Kriterien des Gebrauchs eines Wortes herausarbeitet, die das praktische ‚Funktionieren‘ des Begriffs als eines Werkzeugs des Unterscheidens und Bündelns gewährleisten.[8] Kriterien des Schriftbegriffs sind also keine substantiellen Eigenschaften (im Sinne von ‚das Wesen von Schrift besteht in …‘) und auch nicht bloß kontingente Konstrukte, sondern sie zeigen, wie ein jeweiliger Begriff durch unser Handeln und Erfahren in die vielfältigen Strukturen von Wirklichkeit eingelassen ist. Für den Schriftbegriff haben frühere Forschungen zunächst vier kriterielle Aspekte zum Vorschein gebracht (die dort gewählte, nun etwas modifizierte Terminologie ist in Klammern beigefügt): [9]

(1.) Die den Akt überdauernde Beständigkeit der Ordnungsgestalt (Präsenzaspekt): Schriftliche Konfigurationen sind materiell so manifestiert, dass sie, im Unterschied zur Transitorik (Flüchtigkeit) des Gesprochenen oder der Geste, den Wahrnehmungs- oder Aufführungsakt überdauern.

(2.) Der Aspekt der elementaren Kombinatorik (operationaler Aspekt): Schriften sind im Unterschied zu ‚gewöhnlichen‘ Bildern aus prinzipiell unterscheidbaren Elementen aufgebaut, die eindeutig identifiziert und kombinatorisch zu unterschiedlichen Formationen konfiguriert werden können.

(3.) Der Aspekt der Referenzialität (Referenzaspekt): Unterschiede in Schriftkonfigurationen sind (im Unterschied zu Konfigurationen von Spielsteinen oder Bausteinen) korreliert mit Unterschieden in einer von der Schrift getrennten Ordnung. Veränderungen in der musikalischen Notation bezeichnen eine andere Intonation, Veränderungen in chemischen Formeln eine andere stoffliche Zusammensetzung, Veränderungen in den Aufzeichnungen der Buchhaltung einen anderen Warenbestand etc.[10]

(4.) Der Aspekt der Arbitrarität: Der Umgang mit Schriftgestalten (als Schriftgestalten) verhält sich so zu physischen Einflüssen, dass dem konventionellen Typus kontrafaktisch Bestand gegeben wird: eine verblassende oder sonstwie korrumpierte Schrift wird, so lange sie lesbar ist, gelesen wie eine intakte, Beschädigungen werden korrigiert. Die Materialität der Schrift tritt nur dann in den Vordergrund, wenn wir sie nicht lesen, sondern anschauen, reparieren oder als Spur untersuchen.[11]

Die vier genannten Aspekte sind phänomenale Kriterien, die sich in Untersuchungen des Gebrauchs des Schriftbegriffs ergeben haben. Die Aufzählung ist nicht als abgeschlossen zu verstehen. Vielmehr kann – wie wir im Folgenden in Bezug auf das Konzept sequenzieller Linearität sehen werden – die Beschäftigung mit Phänomenen, auf die sich der Begriff der Schrift gehaltvoll anwenden läßt, uns weitere phänomenale Unterschiede vor Augen führen, die wir mit dem Schriftbegriff erfassen wollen. Des weiteren muss eine historische Untersuchung der historischen Veränderlichkeit des Gebrauchs von Worten gewahr sein. Es muss also geprüft werden, wie der Begriff in seinem historischen Umfeld zum Einsatz kam und wie sich dieser Einsatz von dem unterscheidet, den eine Untersuchung des gegenwärtigen Gebrauchs zu Tage fördert. In Bezug auf die ‚Vorgeschichte‘ der Molekularbiologie zeigen Eintragungen in Konversationslexika des ausgehenden 19. und 20 Jahrhunderts tatsächlich ein sehr ähnliches semantisches Spektrum. Eine Verschiebung ist lediglich an dem Punkt festzustellen, dass zu Zeiten des manuellen Schriftsatzes die handgreifliche Elementarität der Buchstabenkörper (Lettern), die durch Aneinanderreihung zu lesbaren Gestaltformationen zusammengesetzt werden, noch evidenter war. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum im 19. Jahrhundert „der Abriß, wie die Zähne auf einem Rade verteilt werden“[12] als Schrift bezeichnet werden konnte: es geht um die Anordnung der Elemente auf der Kreislinie des Rades, eine Konstellation, die in ihrer allgemeinen Form auch in der ‚Vorgeschichte‘ der Molekularbiologie relevant ist (darauf werden wir zurück kommen).

Methodisch werden diese vier Aspekte im Folgenden dazu verhelfen, im Dickicht des historischen Materials übergreifende Zusammenhänge sichtbar zu machen. Wir werden sehen, wie sich biologische Phänomene der Beständigkeit der Ordnungsgestalt, der Referenzialität, der Arbitrarität und der elementaren Kombinatorik in der epistemischen Formation einer linearen Sequenz von Elementen verbinden und somit die Verwendung einer skripturalen Terminologie nahelegen.

[1]          Kay 2001.

[2]          Evelyn Fox Keller: Refiguring Life. Metaphors of Twentieth-Century Biology, Columbia University Press, New York 1995.

[3]          François Jacob: Die Logik des Lebenden. Eine Geschichte der Vererbung, Frankfurt am M. 2002.

[4]          Hans-Jörg Rheinberger: „Kurze Geschichte der Molekularbiologie“, in: Jahn, Ilse (Hg.): Geschichte der Biologie (3.Aufl.), Heidelberg, Berlin 2000 (Sonderausgabe 2004), S. 642-663.

[5]          Ludger Weß: Die Träume der Genetik. Gentechnische Utopien von sozialem Fortschritt, Nördlingen 1989.

[6]          Robert Olby: The Path to the Double Helix. The Discovery of DNA, New York 1994.

[7]          Vgl. Ian Hacking: Was heißt ’soziale Konstruktion‘? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften, Frankfurt am M. 1999, S. 137-146.

[8]          Vgl. Werner Kogge/ Gernot Grube: „Der Begriff der Schrift und die Frage nach der Forschung in der Philosophie“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2007 (1), S. 81-96.

[9]          Vgl. Werner Kogge/ Gernot Grube: „Zur Einleitung: Was ist Schrift?, in: Grube, Gernot/ Kogge, Werner/ Krämer, Sybille (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, München 2005, S. 9-19.

[10]         Auch in der Mathematik, wo der Referenzaspekt der schriftlichen Konfigurationen durchaus zur Debatte stand, werden, wenn diese nicht mehr auf allgemeine Ordnungsformen Bezug nehmend gedacht werden, Zweifel laut, ob es sich überhaupt noch um Mathematik, nicht vielmehr um bloßes „Formelspiel“ handele. Vgl. David Hilbert: „Die Grundlagen der Mathematik“, in: Abhandlungen aus dem mathematischen Seminar der Hamburgischen Universität, Leipzig 1928, S. 65-85, hier S. 79.

[11]         Kogge/ Grube 2007, S. 90.

[12]         Pierer’s Universallexikon der Vergangenheit und Gegenwart oder: Neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe, Altenburg 1862, Band 15, S. 428.