Was heißt ’Übersetzen’?

Eine sprachpragmatisch-kriteriologische Skizze

Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte, 67. Jahrgang 2017, 1, S. 11-19.

Abstract

In der sprachpragmatischen Perspektive, die hier eingenommen wird, ist ein Begriff weder ein willkürlich eingesetztes Instrument, noch eine Repräsentation schlicht gegebener Einteilungen der ’Wirklichkeit’, vielmehr ein Mittel des Unterscheidens, das tief in kulturellen Praktiken und Erfahrungen wurzelt. Welche Unterscheidungen sind es nun, die den Begriff des Übersetzens konturieren und attraktiv machen für eine Fülle kultur-, wissens- und wissenschaftstheoretischer Verwendungen? Fast scheint es, als ob alles, was zuvor mit Vokabeln wie verstehen, übertragen, vermitteln, aneignen oder ausdrücken bezeichnet wurde, derzeit als Vorgänge des Übersetzens erscheint. Was aber macht übersetzen aus? Was unterscheidet einen Vorgang des Übersetzens von einem der Interpretation, der Diffusion oder der Hybridisierung?

Durch eine Betrachtung einiger Fälle des Sprachgebrauchs treten Kriterien hervor, die deutlich werden lassen, worin die Attraktivität des Übersetzungsbegriffs in der gegenwärtigen Theorielandschaft begründet liegt.

„Es könnte genau dieses Moment sein, das den Übersetzungsbegriff in jüngeren Diskursen so attraktiv gemacht hat. Im Unterschied zu Vokabeln wie übertragen, hybridisieren, diffundieren, interagieren drückt das Wort übersetzen die Widerständigkeit und Andersartigkeit dessen aus, das übersetzt werden soll. Es gibt im übersetzen keine Selbstläufigkeit, Eigenlogik, Prozesshaftigkeit; es gibt gebahnte Übertragungswege, aber keine solchen Übersetzungswege; das Übersetzen bewegt sich im suchen, probieren, revidieren – also da, wo die Weiterführung oder Fortsetzung des Handelns gerade nicht unproblematisch ist, sondern eigener Anstrengung bedarf.“

Leseprobe

 

2. Übersetzen und Übertragen: Kriteriologische Überlegungen

Zurück zum Übersetzungsbegriff: Viele gängige Versuche, den Begriff Übersetzung zu bestimmen, setzen beim Begriff des Übertragens an: Übersetzung als Übertragung in eine andere Sprache. Aber wieviel Übertragen steckt im Übersetzen? Kann Übersetzen tatsächlich als ein Übertragen verstanden werden? 

In einer sprachpragmatischen Perspektive stellt sich die Frage so: Wie gebrauchen wir die Worte? In welchen Fällen sprechen wir von ‚übertragen‘? Beispiele: Krankheiten werden übertragen – sofern Erreger von einem Körper auf den anderen übergehen; es sind ‚übertragbare‘ Krankheiten. Ferner werden Notizen, Schnittmuster, Korrekturen von einem Blatt Papier auf ein anderes, von einem Heft in ein anderes übertragen; Aufzeichnungen, Bilder, Sendungen werden von einem Sendegerät auf ein Empfangsgerät übertragen, mit einer bestimmten Übertragungsgeschwindigkeit, unter Einhaltung von Übertragungsrechten usw.

Eine erste Beobachtung ist hier: In keinem dieser Fälle wäre es möglich, anstelle des Wortes übertragen das Wort übersetzen zu verwenden: ‚eine Krankheit übersetzen‘ – was immer das bedeuten könnte, es bedeutet jedenfalls nicht ‚Krankheitsübertragung‘.

Es springt hier schon ein Unterschied ins Auge, eine völlig andere Tendenz im Gebrauch der beiden Wörter: wird ein Schnittmuster nicht übertragen, sondern übersetzt, dann wird eine ganz andere Bewegung, ein ganz anderer Transfer adressiert: „sie übersetzte das herkömmliche Schnittmuster in eine ungewöhnliche Kreation“, könnte man vielleicht sagen und damit andeuten, dass sie sehr viel mehr und anderes tat als nur Längen- und Flächenverhältnisse von Papier auf Stoff zu übertragen.

„Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen“[1]; so Wittgenstein in einem solchen Kontext. Das in Sprachformen sedimentierte Bild, das übersetzen und übertragen umstandslos zusammenstellt, ist das Bild des Hinüber-Transferierens: etwas wird über eine Kluft, ein Hindernis hinüber bewegt; dabei scheint es von geringfügiger Bedeutung zu sein, ob diese Bewegung als eine des Tragens oder eine das Setzens gekennzeichnet wird. Das Grundmuster des Beförderns von einem zum anderen, scheint in beiden Fällen dasselbe zu sein. Doch der Sprachgebrauch hat sich – in einer begriffsgeschichtlichen Entwicklung, die hier instruktiv wäre, aber nicht im Detail verfolgt werden kann – auf eine Unterscheidung festgelegt. Worin aber besteht der Unterschied dieser Unterscheidung? Was ist das Kriterium dafür, in einem Fall von übersetzen, im anderen von übertragen zu sprechen?

Während zu einfache Bilder irreführend sein können, lohnt es sich, sich möglichst konkrete Situationen des Sprachgebrauchs in Erinnerung zu rufen. Übertragen und übersetzen sind auch technische Begriffe. Man spricht zum Beispiel davon, dass bei einem Fahrzeug die Kraft eines Motors auf die Räder übertragen wird – das kann mechanisch über Zahnräder, oder auch hydraulisch oder elektrisch erfolgen – entscheidend ist, dass  die Kraft von einem Ort auf einen anderen weitergeleitet wird. Im gleichen Kontext wird auch von Übersetzung gesprochen: Eine Übersetzung liegt vor, wenn beispielsweise ein kleines Zahnrad ein großes antreibt. Hier wird Kraft nicht einfach weitergeleitet, sondern es findet eine Umwandlung statt: Drehgeschwindigkeiten  und Drehmomente werden in ein anderes Verhältnis zueinander übersetzt.

Ganz analog verwendet die Molekularbiologie das Begriffspaar transcription und translation: während die Transkription eine Sequenz der DNA in das strukturgleiche Medium der RNA überträgt, bezeichnet die Translation die Übersetzung in ein biochemisch, räumlich und funktional völlig anderes Material. Auch hier wieder die gleiche Differenz: übersetzenunterscheidet sich von einem einfachen übertragen, weiterleiten oder transkribieren darin, dass der Übergang hier eine Umwandlung erfordert, eine Umsetzung in einem anders gearteten, neuen Medium. Während bei Übertragungen etwas von Gleichartigem auf Gleichartiges übergeht, was, auf Grund dieser Gleichartigkeit, widerstandslos vor sich geht, bedarf es für das übersetzen eines eigenen Aktes, eines gesonderten Einsatzes. Auch die reflexive Form, die nur im Wortgebrauch von übertragen, nicht aber von übersetzen üblich ist, drückt dies aus: Etwas überträgt sich von einem zum anderen, aber niemals übersetzt sich etwas von selbst oder leichthin: zu übersetzen heißt, in den Raum einer Verschiedenartigkeit einzutreten.

Auch im Bereich des Übersetzens zwischen Sprachen setzt eine Übersetzung eine Leistung voraus, die eigens erbracht werden muss. Während durch bloßen Sprachkontakt sprachliche Formen auch übertragen, diffundiert oder angeeignetwerden können (ebenso wie andere Gewohnheiten, Verhaltensmuster, Gesten, Stimmungen), wird übersetzt, was nicht einfach übernommen, verstanden und verwendet werden kann. Selbst, wo in einem gehobenen Sprachspiel von einer ‚Übertragung aus dem Lateinischen/ Arabischen/ Holländischen‘ die Rede ist, schwingt dieser Unterschied gleichwohl mit: Werke können als unübersetzbar gelten, aber nicht als unübertragbar.

[1] Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (Frankfurt/M. 1984), § 115.

Keywords

 

Übersetzung, Übertragung, Begriff, Begriffsforschung, Kriterium, Kriteriologie, Definition, Sprachpragmatik, Experimentelle Begriffsforschung,  Wittgenstein