Unverfügbarkeit in der Synthese

Untersuchungen zu Chemie und Biotechnologie im Zusammenspiel naturwissenschaftlicher und philosophischer Perspektiven

(gemeinsam mit Michael Richter)

 In: Gabriele Gramelsberger, Peter Bexte, Werner Kogge (Hrsg.), Synthesis. Zur Konjunktur eines philosophischen Begriffs in Wissenschaft und Technik, Transcript Verlag, Bielefeld 2013, S. 121-145.

Einleitung

In diesem Text untersuchen wir, auf welchen konzeptuellen und technischen Voraussetzungen die Annahme weitreichender Möglichkeiten der chemischen, biochemischen und biotechnischen Synthese beruht, die die Herstellung von neuartigen Stoffen und Prozessen bis hin zur Herstellung künstlicher biologischer Systeme und sogar neuartiger Lebensformen in den Horizont des Machbaren rückt. Dabei geht es uns darum, diese Voraussetzungen kritisch auszuleuchten. Ziel ist es, einige Aspekte dessen, was der Annahme von unbeschränkten schöpferischen Möglichkeiten entgegensteht (und was unter dem Schlagwort ‚Komplexität‘ häufig mehr verdeckt als herausgearbeitet wird), zu verdeutlichen. Dabei gehen wir davon aus, dass eine Sichtweise, die die sich der Beherrschung entziehenden Momente der stofflichen und lebendigen Natur in Rechnung stellt, zu einer angemesseneren Haltung führt, sowohl dieser Natur als auch den sie erforschenden Wissenschaften gegenüber.

Methodisch gehen wir so vor, dass wir unser Thema von zwei Seiten her beleuchten. Aus der Perspektive einer Reflexion von Theorie und Praxis in den chemischen Wissenschaften spüren wir den Momenten nach, an denen sich Risse zwischen dem Glauben an unbeschränkte Synthesemöglichkeiten und den tatsächlichen wissenschaftlichen Ergebnissen und Vorgehensweisen zeigen. Aus philosophischer Perspektive untersuchen wir, welche Denkfiguren, Begriffe und konzeptuelle Transformationen mit dieser Annahme verbunden sind. Die beiden Perspektiven werden alternierend und sich aufeinander beziehend im Text eingenommen.

„Das Lego-Baustein-Bild erweist sich vor diesem Hintergrund als verführerische Metapher: Es suggeriert freie Konstruierbarkeit nach planmäßigen Entwürfen – und zugleich eine Kombinatorik nach eindeutigen Regeln. Denn die Noppen der Lego-Bausteine lassen ja keine kontinuierlich-unbestimmte Weise der Verknüpfung von Elementen zu, sondern immer nur bestimmte distinkte Kombinationen; sie funktionieren als ein digitales, nicht als ein analoges System (im Sinne der Unterscheidung von digital und analog, wie sie z.B. in Bezug auf Uhren verwendet wird und wie sie der Philosoph Nelson Goodman expliziert hat). So entsteht das Bild der Möglichkeit einer freien und dennoch Schritt für Schritt planbaren, nach eindeutigen Vorgaben realisierbaren Konstruktion.

Wie verhält sich nun die chemische Synthese zu diesen Denkfiguren? Lässt sich die Syntheseplanung mit der Anleitung vergleichen, die etwa einem Lego- Schiffsbaukasten beiliegt und die Schritt für Schritt angibt, welche Elemente wie zusammenzusetzen sind? Wie frei ist die Planung in der chemischen Synthese? Offenbar ist es der Chemie ja gelungen, nicht nur Naturstoffe zu rekonstruieren, sondern neuartige Stoffe, Kunststoffe, zu konstruieren. Was aber beschränkt die Möglichkeiten solcher Synthese? Warum kann nicht nach Belieben konstruiert werden?“

Leseprobe

DER BEGRIFF DER SYNTHESE: EIN PHILOSOPHISCHER EINSATZ

 

Auf die Frage, welches philosophische Thema mit ›Synthese‹ angesprochen ist, liegt eine Antwort nahe, die auf die Begriffsgeschichte des Wortes verweist, wie sie in philosophischen Lexika dokumentiert ist. Zwar sind die Verhältnisse in dieser Geschichte verwickelterals es zunächst scheint (dazu später), doch es ist zu bemerken, dass das altgriechische Wort ›synthesis‹ mitsamt seiner lateinischen Übersetzung ideengeschichtliche Traditionsstränge bildete, in denen es bis ins zwanzigste Jahrhundert eine gewichtige Rolle im Nachdenken über Erkenntnis und Wissenschaft spielte.

Bevor historische Verwicklungen des Begriffs in einigen Aspekten beleuchtet werden, soll hier zunächst anders angesetzt werden: und zwar direkt bei der Frage, was am Begriff der Synthese uns denn im philosophischen Sinne zu frap- pieren in der Lage ist. Wo liegt heute eine Frage, wo zeigt sich ein Problem von weitreichender Bedeutung in unserem Begriff der Synthese?

Im heutigen Sprachgebrauch findet sich ›Synthese‹ (wo nicht explizit auf philosophische Themen verwiesen wird) in sehr allgemeiner Verwendung (z.B. »das Bauwerk ist eine Synthese unterschiedlicher Einflüsse«) und im chemisch- technischen Kontext, der alltagssprachlich sehr vertraut geworden ist, bis hin zum geläufigen Ausdruck ›Synthetik‹ für Kunstfasertextilien. Geläufig ist auch das BegriffspaarAnalyse/Synthese, in dem ›Synthese‹ als Zusammensetzung von Elementen ein Pendant zur ›Analyse‹ bildet, die ein Ganzes in seine Elemente auflöst. Dieses Bild nun ist es, das bei näherer Betrachtung immer mehr Fragen aufwirft. Es hat zwar den Anschein, dass im Sinne von Zerlegung und Verbind- ung mit Analyse und Synthese schlicht zwei einander gegengerichtete Hand- lungsarten angesprochen sind. Doch sind denn die Begriffe der Synthese und  der Analyse in dieser Weise schon bestimmt? Sind sie schlicht Fremdwörter für deutsche Wörter wie Zerlegung und Zusammensetzung?

Wir brauchen uns nur zu vergegenwärtigen, dass, wenn wir beispielsweise ein Puzzle aus seinen Teilen zusammensetzen, wir nicht von Synthese sprechen würden – so wenig wie von Analyse, wenn wir es zerlegen. Wird aus Ziegelsteinen eine Mauer aufgeschichtet, so gereicht das ebenso wenig zu einer Synthese wie ihr Abtrag zu einer Analyse. Das Begriffspaar Synthese/Analyse verlangt offenbar mehr als bloße Zusammensetzung und Zerlegung. Wir verstehen darunter of- fenbar etwas Bestimmteres – ›besondere Weisen‹ derZusammenfügung und Au- flösung. Doch worin könnte dieses Spezifische bestehen? Dass nicht jede Zusam- menfügung als eine Synthese gelten kann, ist klar: Offenbar muss daraus etwas entstehen, doch was? Sollen wir sagen: ein ›Ganzes‹? Doch auch das vollständig gesetzte Puzzle kann als ein ›Ganzes‹ bezeichnet werden – gleichwohl bleibt es dabei: Ein solches Ganzes ist nicht ganz durch Synthese.

Der Ausdruck ›Analyse eines Puzzles‹: wenn jemand die Puzzleteile nach der Bildvorlage vorsortiert, z.B. nach Farbe, Zugehörigkeit zu bestimmten Bildele- menten etc.: Könnten wir dann nicht von einer Analyse sprechen? – Vielleicht. So wäre Analyse mit Zerlegung nach bestimmten Kriterien verbunden. Das Ganze würde zerlegt und zugleich sortiert nach bestimmten Unterscheidungsmerk- malen. Woher aber sind diese gewonnen? Zeigt sich von selbst, wie zu zerlegen und zu sortieren ist? Offenbar gelangen wir hier an einen prekären Punkt: Denn es erschließt sich nicht von selbst, woher die Leitvorgaben – oder sollen wir sa- gen: ›Prinzipien‹? – der Zerlegung und Sortierung zu nehmen sind. Sicherlich hätte die Analyse des Puzzles etwas mit dem Puzzlebild, mit seiner Gliederung und seinem Aufbau zu tun. Doch ebenso offensichtlich ist, dass unterschiedliche Analysten unterschiedlich gliedern und sortieren könnten.

Fraglich bliebe auch, ob in Bezug auf die Zusammensetzung eines Puzzles aus gefertigten Teilen überhaupt von ›Synthese‹ gesprochen werden kann, auch wenn die Zusammensetzung einer Analyse im genannten Sinne nachfolgte. Spricht man in der Erstellung eines Puzzles von Synthese, so wäre wohl eher an die Bildkomposition zu denken, also daran, wie etwa im Vorgang desEntwerfens die Bildwirkung aus Quellen der Farbigkeit, der Proportion und Formgebung er- wächst. Synthese bedeutete also auch hier weit mehr als bloße Zusammenset- zung. Der Begriff zeigt sich verwiesen auf weitere Begriffe wie ›Ganzes‹, ›Ord-

 

nung‹, ›Gliederung‹, ›Sortierung‹, ›Unterscheidung‹, ›Merkmal‹ und ›Prinzip‹. Eine ganze Kohorte philosophischer Grundbegriffe tritt zum Vorschein, wenn wir daran rühren, was wir meinen, wenn wir von Synthese sprechen. Es wird also darum gehen müssen, Synthese im Kontext solcher Begriffe zu verstehen. Doch wollen wir zunächst sehen, was heute unter dem Begriff der Synthese in derChe- mie tatsächlich verstanden wird.

 

8.2     DER BEGRIFF DER SYNTHESE IM SPRACHGEBRAUCH IN DER CHEMIE

 

Der Begriff Synthese hat in der Chemie als ›chemische Synthese‹ eine zentrale Bedeutung gefunden. In diesem Wortsinne verstehen Chemiker darunter den planmäßigen und praktisch realisierbaren Aufbau von chemischen Verbindun- gen aus anderen chemischen Verbindungen oder Elementen.6 Das Gegenstück zur chemischen Synthese ist die chemische Analytik, mit der das Ziel verfolgt wird, chemische Substanzen hinsichtlich ihres chemischen Aufbaus und ihrer Eigenschaften aufzuklären. Beide Disziplinen bedingen und ergänzen sich ge- genseitig. So kann zum Beispiel Synthese eine wichtige Rolle bei der Analytik spielen. Die Notwendigkeit der Aufklärung solcher synthetischen Prozesse durch instrumentelle Analytik und bioanalytische Verfahren gilt auch für die Biosyn- theseforschung, die sich mit der Synthese in Organismen oder durch Substruk- turen von Organismen, wie beispielsweise Enzyme, beschäftigt.

Die chemische Synthese beschreibt die Herstellung von Ziel-Verbindungen (Produkten) aus einer oder mehreren Ausgangsstoffen (Edukten) unter defini- erten Reaktionsbedingungen und meist unter Verwendung einer bestimmten Apparatur. Das Produkt unterscheidet sich vom Edukt-Material in seinen Eigen- schaften, welche aber nicht einfach aus der molekularen Struktur ohne eigens angestellte Analytik ableitbar sind.

Die Umsetzung einer chemischen Synthese oder die Produktion von che- mischen Verbindungen ist im Wesentlichen in folgenden Ablauf eingebettet: 1.) Syntheseplanung, 2.) Synthesedurchführung (ein- oder mehrstufige chemische Reaktion oder Stoffumwandlung, 3.) Isolation des Produkts oder der Produkte, 4.) Charakterisierung des jeweiligen Produkts (Analytik). Demnachgeht der Syn- these die Syntheseplanung voraus. Diese beinhaltet Literaturrecherche, um zu sehen, ob wirklich ein neuer Stoffsynthetisiert wird und ob bereits eine Synthe- sevorschrift besteht. Im Falle der Synthese von neuen Verbindungen folgen Tes- texperimente (wie Löslichkeitsversuche der Edukte, Reinheitstests und Synthe- sen im analytischen Maßstab, d.h. mit Mengen, diefür die notwendige Analytik

6 | Etliche Kurzbeschreibungen zum Verständnis von chemischer Synthese finden sich im Artikel von Kyriacos C. Nicolaou: Vom Aufkommen des Molekülkonzepts zur Kunst der Molekülsynthese, in: Angewandte Chemie, 125(2013), 141-157, S. 151.

 ausreichend sind), um erste Erkenntnisse für die Synthesebedingungen zu ge- winnen. Eine gründliche, auch energetische Abschätzung des Reaktionsablaufs und der Stabilitäten möglicher Intermediate und Produkte anhand des auf Papier gezeichneten vorgeschlagenen Reaktionsschemas und Mechanismus, inklusive der Berechnung der Stöchiometrie der Reaktionspartner, ist oft notwendig und angelehnt an bekannte, analytisch beschriebene Beispiele für Reaktionstypen sowie an bekannte Werte strukturell ähnlicher Verbindungen.

In der Entwicklung von Synthesen neuer Verbindungen kann das Betrachten der Synthese homologer Verbindungen lohnenswerte Hinweise geben, bei ganz neuen Verbindungen die Betrachtung der Energetik der sich bildenden und bre- chenden Bindungen. Energetische Berechnungen für den Reaktionsverlauf sind letztlich auch deshalb wichtig, um die Synthese problemlos apparativ steuern zu können.

Eine Strategie zur Isolation von Zwischenprodukten in Mehrstufensynthesen gehört zur optimalen Syntheseplanung, wie auch die Wahl günstiger und struk- turell einfach aufgebauter Ausgangsstoffe. Dabei spielt in der organischen Che- mie der Begriff des ›Synthons‹ eine große Rolle. Unter einem Synthon versteht man eine strukturelle Einheit innerhalb eines Moleküls, das für einen Synthe- seschritt verwendet wird.7 Weitere wichtige Aspekte sind heutzutage die Opti- mierung der Atomökonomie, Nachhaltigkeit und Umweltverträglichkeit eines Prozesses und die Minimierung der allgemeinen der Synthese (einschließlich  der Apparatur etc.).

Synthesechemiker orientieren sich bei der Planung und Durchführung  einer chemischen Synthese am geeignetsten Reaktionstyp für einen geplanten Umsatz einer Verbindung und möchten sicherstellen, dass die gewünschte che- mische Reaktion möglichst quantitativ abläuft, das bedeutet, dass ein vollstän- diger Umsatz der Edukte zum gewünschten Produkt ohne Nebenreaktionen stattfindet. Der zentrale Umformungsschritt bei einer chemischen Synthese ist die chemische Reaktion. Wichtige Parameter zur Charakterisierung einer che- mischen Reaktion sind kinetische und thermodynamische Größen. Diese werden für definierte Reaktionsbedingungen wie gegebener Temperatur, Druck, Stoff- mengenkonzentrationen und Reaktionszeit beschrieben. Ein erwähnenswertes Prinzip ist, dass manche Reaktionen unter kinetischer Kontrolle, andere dagegen unter thermodynamischer Kontrolle ablaufen können. Ganz wichtig, besonders in der Naturstoffsynthese, sind Phänomene der Chemo-, Regio- und Stereoselek- tivität.8 Die Reaktionen in der organischen Chemie umfassen zahlreiche Reak-

  • | Vgl. Elias Corey: General methods for the construction of complex molecules, in: Pure and Applied Chemistry, 14, 1967, 19-37.
  • | Reinhard Brückner: Reaktionsmechanismen: organische Reaktionen, Stereoche- mie, moderne Synthesemethoden,Heidelberg/Berlin: Spektrum 2003.

 

tionstypen und Namensreaktionen, deren Kenntnis zum Handwerkszeug jedes Chemikers gehört.9

 
8.3     SKRIPTURALES REAKTIONSSCHEMA UND ›GEEIGNETSTER

REAKTIONSTYP‹: EIN SCHRIFTTHEORETISCHER ASPEKT

Bei der Syntheseplanung spielt das schriftliche Reaktionsschema eine zentrale Rolle, bei der Durchführung der ›geeignetste Reaktionstyp‹. ›Eine‹ Antwort auf die Frage, was der Annahme weitreichender oder gar unbeschränkter Möglich- keiten durch chemische Synthese zugrunde liegt, weist in eine medien- und schrifttheoretische Richtung. Ursula Klein hat gezeigt, dass die vom schwedi- schen Chemiker Jacob Berzelius eingeführten chemischen Formeln nicht bloß Aufzeichnungen chemischer Verbindungen im Sinne ihrer Repräsentation dar- stellen, sondern zugleich als Werkzeuge, als ›papertools‹ zu betrachten sind.10 Die Möglichkeit nämlich, auf Papier Kombinationen chemischer Bestandteile versuchsweise herzustellen, umzuschreiben, ja: die Kombinationen beliebig zu verändern, macht die Zeichen und ihre Verknüpfungen zu einem Baukasten, bei dem – genau genommen – jedes Zeichenelement als Material und als Werkzeug der Manipulation dienen kann. In der Schrifttheorie spricht man vom ›opera- tiven Aspekt‹ des Schriftzeichens. Dem liegt die Beobachtung zugrunde, dass schriftlichen Zeichenelementen nicht nur die Möglichkeit der Bezugnahme auf Anderes (Referenz), der Verdauerung und sinnlichen Vergegenwärtigung (aisthe- tische Präsenz), sondern auch der operativen Manipulation eignet, was sich am eindrücklichsten im schriftlichen Rechnen, aber auch beispielsweise im musika- lischen Komponieren in Notenschrift und eben auch in der chemischen Formel- schreibweise äußert.11

Ein eindrückliches Beispiel dafür, wie die schriftliche Praxis in der Chemie die Herstellung und Komposition chemischer Verbindungen möglich erscheinen lässt, indem sie ihre schriftliche Darstellbarkeit vor Augen führt, demonstriert Klein, wenn sie ausdem Text Mémoire sur les ethers composés von Jean Baptiste Dumas und Polydore Boullay von 1828 zitiert:

  • | Viele chemische Reaktionen sind nach dem Namen ihrer Entdecker benannt (wie die Wöhlersche Harnstoff-Synthese). WeitereBeispiele dafür finden sich in: Brückner, Reakti- onsmechanismen,
  • | Ursula Klein: Experiments, Models, Paper-Tools. Cultures of Organic Chemistry in the Nineteenth Century, Stanford:Stanford University Press, 2003.
  • | Werner Kogge, Gernot Grube: Zur Einleitung: Was ist Schrift?, in: Gernot Grube, Wer- ner Kogge und Sybille Krämer (Hg.): Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Ma- schine, München: Fink, 2005, 9-21.

 

6 7 31/2

6   6    3                   1/2

»In der Tat, nach der Analyse von Th. de Saussure enthalten diese Zucker C H O , was wir repräsentieren als H C O + HO , indem wir das halbe Atom Wasser als Kristallwasser betrachten.

6   6    3             2    2                 4   4               2

Es verbleibt also:

H C O = C O + (H C + H O),

das heißt, dass der Zucker der Stärke repräsentierbar ist durch gleiche Volumina Kohlen- säure und Alkohol. Unter diesem Gesichtspunkt können der Zucker des Zuckerrohrs und der der Stärke als Carbonate von Bicarboniertem Wasserstoff betrachtet werden, die sich nur darin unterscheiden, dass ersterer zweimal weniger Kristallwasser enthält als der zweite.«12

Wir können uns also das System der chemischen Formelschreibweise gleichsam als ein ›ideales Labor‹ vorstellen, in dem willkürlich Verbindungen zusammen- gestellt werden können, um zu sehen, was sich aus einer bestimmten Konfigura- tionsvariante ergibt oderwas in ihr impliziert sein könnte. Es können Verbindun- gen entworfen, oder – wie man heute sagt – ›designed‹ werden, unabhängig von Restriktionen des chemischen Materials und der Umstände. Diese Möglichkeit des Entwurfs scheint eine nachhaltige Quelle des Machbarkeitsglaubens in Che- mie und Biotechnologie zu sein – was in Anbetracht der aktuellen Konjunktur des Design-Begriffs in diesen Bereichen deutlich wird.13

Die chemische Formelschreibweise war aber nicht die einzige Quelle der sich ausbreitenden Erwartungen an chemische Synthese. Als 1858 Friedrich August Kekulé das Theorem der Kohlenstoff-Kohlenstoff-Verbindungen entwickelte, also der kettenförmigen Moleküle, die in verschiedensten Anordnungen konfiguriert jeweils andere Molekülarten ergeben, wurde es noch bedeutend plausibler, eine explizite Analogie zwischen chemischer und skripturaler Welt herzustellen, und damit die Suggestion zu nähren, mitchemischen Elementen könnte operativ ver- fahren werden wie mit Elementen eines schriftlichen Notationssystems.

Dem entgegen steht das Problem des ›geeignetsten und möglichen Reaktions- typs‹ in der Durchführung der chemischen Synthese. Was macht einen Reak- tionstyp zur Beschreibung einer chemischen Umformung geeignet und wie müs- sen solche Vorgehen eingeordnet werden?

  • | Jean Baptiste André Dumas, Polydore Boullay: Mémoire sur les ethers composés, in: Annales de Chimie et de Physique, 37,1828, 15-53, 47f. Zitiert nach: Klein, Experi- ments, Models, Paper-Tools, 2003, S. 144. Übersetzt in Ursula Klein: Experimente,Mo- delle, Paper-Tools. Kulturen der organischen Chemie im 19. Jahrhundert (Habilitations- schrift), Universität Konstanz1999, S. 218.
  • | Martin Jansen, J.C. Schön: Design in chemical synthesis – An illusion?, in: Ange- wandte Chemie, (Int. Edition), 45,2006, 3406-3412 sowie der übersetzte Artikel in die- sem Band Kapitel 7 ›Design‹ in der chemischen Synthese – eine Fiktion?

 

8.4     DIE ORGANISCHE CHEMIE:

TECHNISIERUNG DER LEBENSKRÄFTE 

Mit dem Entdecken der organischen Synthese 1828 durch Wöhler, der zeigte, dass er Harnstoff ohne Zuhilfenahme eines Organismus synthetisieren konnte, schien die Annahme einer ›vis vitalis‹ obsolet zu werden. Damit vereinnahmte die Synthese-Chemie mit ihrer neuen Disziplin quasi diese bis dahin alles Orga- nische gestaltende Kraft.

»Erst als man statt der Synthese von chemischen ›Elementen‹ diejenige von zusammen- gesetzten Körpern in Angriff nahm und als man statt der belebten Stoffe die organischen Körper unter Ausschaltung der Lebenskraft zu synthetisieren begann, erst dann wurde der wissenschaftlichen Erkenntnis als eine neue Komponente der Erfahrungssatz eingefügt: Die chemischen Stoffe der unorganischen sowie der organischen Natur sind künstlich herstellbar!«14

Die Wöhlersche Harnstoff-Synthese wird deshalb trotz diverser Wegbereiter als Startpunkt der organischen Synthese-Chemiebetrachtet. Damals gelang es Wöh- ler, als »Doktor der Medizin, Chirurgie und Geburtskunde«15 gewissermaßen der Chemie der Lebewesen nahestehend, aus Ammoniumisocyanat Harnstoff (als Umlagerungsprodukt) zu synthetisieren,16 der bis dato nur aus lebenden Orga- nismen isoliert werden konnte. Wöhler schrieb an seinen Lehrer Berzelius »[…] ich muss ihnen erzählen dass ich Harnstoff machen kann, ohne eine Niere oder überhaupt ein Tier […] nötig zu haben«.17

Eine wesentliche Untermauerung des Begriffs ›organische Synthese‹ wurde durch die experimentellen Arbeiten von Herman Kolbeerbracht. Er synthetisierte 1845 erstmals in geplanter Weise Essigsäure aus CS2, Cl2  und H2O, also aus an-

organischen Materialien, und zeigte damit die Möglichkeit auf, von der anorgani-

schen zur organischen Natur eine Brücke zu schlagen.18 In der Folge entwickelte sich die organische Synthese rapide und das Verständnis der Synthese-Chemiker wurde durch die Verbannung der ›vis vitalis‹ vom rein technischen Verständnis abgelöst und damit von Arbeitsmethoden beherrscht, die Organismen wesens- fremd sind.

Die enormen Fortschritte innerhalb der organischen Chemie führten auch dazu, dass enorme Erwartungen für die Gesellschaft durch synthetische Leis- tungen formuliert wurden. Diese Formulierungen reichen von »Wenn einst der

  • | Walden, Die Bedeutung der Wöhlerschen Harnstoffsynthese, 1928, 848.
  • | Walden, Die Bedeutung der Wöhlerschen Harnstoffsynthese, 1928, 837.
  • | Nicolaou, Vom Aufkommen des Molekülkonzepts zur Kunst der Molekülsynthese, 2013, 150.
  • | Walden, Die Bedeutung der Wöhlerschen Harnstoffsynthese, 1928, 836.
  • | Walden, Die Bedeutung der Wöhlerschen Harnstoffsynthese, 1928, 839.

 

große Plato das Weltganze […] durch Götter erschaffen ließ, so werden dereinst die Chemiker-Techniker aus Luft, Kohlensäure, Wasserdampf und Erde ihre Synthesen der organischen Stowelt vollführen!« bis zum pathetischen Fazit »Die Erde aber selbst bleibt der begrenzte Kampfplatz ums Dasein für die Menschenmilliarden. Möge die große Symphonie des Weltgeschehens eine erhöhte Konsonanz gewin- nen, indem die chemische Synthese ihrerseits ein wirksames Instrument des Frie- dens und Wohlergehens der Menschheit wird!«19

Eine in der Synthesechemie allgegenwärtige Frage ist, neben den Aspekten

›was‹ und ›woraus‹ etwas synthetisiert wird, immer schon die Frage nach dem,

›wie‹ es synthetisiert wird, die besonders von Friedrich Mohr 1868 gestellt wurde. Er forderte in Bezug auf organische Stoffe, den Weg zu finden »[…] auf welchem die Natur diese Stoe aus Kohlensäure, Wasser und Ammoniak bildet.«20 Es ist er- staunlich, dass 100 Jahre nach der ersten organischen Synthese als ein Ziel der Synthesechemie für das kommende Jahrhundert klar formuliert wird, dass der Weiterentwicklung der chemischen Synthese mittels Enzymen und Katalysatoren sowie Energiesteigerungen eine große Bedeutung zukommt:

»Das höchste und reizvollste Objekt der experimentellen Forschung ist nun die lebende Natur selbst. Ihren Chemismus zu erforschen, aus dem Reich der Lebensvorgänge neue Provinzen auch für die chemische Synthese abzuringen, dies ist eines der Ziele der che- misch-synthetischen Forschung im zweiten Jahrhundert ihres Bestehens. ›Zurück zur le- benden Natur!‹ […]«21

Die hier angesprochenen Aspekte sind tatsächlich Gegenstand aktueller For- schung und Entwicklung, sofern sie nicht schon in vielen Lebensbereichen in Prozessen oder Produkten erfolgreich etabliert sind.

 
8.5      BEGRIFFSGESCHICHTLICHE ASPEKTE:

ARISTOTELES, EUKLID UND DIE REZEPTION

 Offenbar schwanken die mit dem Begriff der Synthese verbundenen Assozia- tionen zwischen der Vorstellung einer (nahezu) willkürlich planbaren Zusam- mensetzung aus Einzelteilen einerseits und der Entstehung eines neuen Her- stellungsweges andererseits, der nur unter Voraussetzung eines umfassenden Verständnisses des betreffenden Naturbereichs und großer praktischer Erfah- rung zustande kommen kann. Während der erste Fall im Anwenden einer Tech- nik nach gegebenen Regeln besteht, ist im zweiten Fall ein Typ von Wissen und Könnerschaft erforderlich, der sich auch in ausdauernder Praxis bildet und be-

19 | Walden, Die Bedeutung der Wöhlerschen Harnstoffsynthese, 1928, S. 848. 20 | Walden, Die Bedeutung der Wöhlerschen Harnstoffsynthese, 1928, S. 843. 21 | Walden, Die Bedeutung der Wöhlerschen Harnstoffsynthese, 1928, S. 849.

 

währt – ein Motiv, das in der Aristotelischen Philosophie von zentraler Bedeutung ist. Überhaupt ist es naheliegend anzunehmen, dass das Schwanken im moder- nen Verständnis von Synthese etwas mit der Geschichte des Begriffs zu tun hat. Im Folgenden sollen nun einige entscheidende Punkte und Wendungen dieser Geschichte skizziert werden, um ein klareres Bild von begrifflichen Unterschie- den in diesem Bereich zu gewinnen.

Wenn wir versuchen, den Begriff der Synthesis in seinem historischen Hinter- grund zu verorten, so geraten wir in eine zunächst verwirrende Situation. Geläu- figerweise wird das Begriffspaar Analyse/Synthese auf Autoren der griechischen Antike zurückgeführt, nämlich auf Euklid und Aristoteles. Doch bei genauerer Hinsicht findet sich ein entsprechendes Begriffspaar im griechischen Denken  gar nicht. Zwar kann Analysis als ein Schlüsselbegriff der Aristotelischen Philo- sophie gelten – titelgebend für zwei Hauptwerke (ErsteAnalytik und Zweite Ana- lytik), doch ist der ›analysis‹, die in diesen und anderen Schriften erläutert wird, nicht unmittelbar ›synthesis‹ als Pendant zur Seite gestellt. Analysis ist ein Be- griff aus den methodischen Schriften des Aristoteles. Er bezeichnet die Zerglie- derung (wörtlich: Auflösung) eines Satzes in die vorausgesetzten Schlussformen, Prämissen und Prinzipien. Synthesis dagegen ist ein Begriff aus den Aristoteli- schen Schriften zu Physik und Metaphysik. Er steht im Zusammenhang damit, wie etwas ausAnfangsgründen aufgebaut ist oder entsteht. Tatsächlich findet sich in den Aristotelischen Werken keine Textstelle, in der ›analysis‹ und ›synthesis‹ als Komplementärbegriffe erläutert oder auch nur gemeinsam erwähnt werden.

Diese Zusammenstellung taucht erstmals in einem Zusatz zu dem mathe- matischen Grundlagenwerk Die Elemente von Euklid auf. Dort liest man: »Was ist eine Analysis und was eine Synthesis? Eine Analysis ist die Zugrundelegung des Gefragten als anerkannt um seiner auf anerkannt Wahres führenden Folge- rungen willen. Eine Synthesis ist die Zergliederung des Anerkannten um seiner auf Vollendung oder Ergreifung des Gefragten führenden Folgerungen willen.«22 Liest man zuweilen, Aristoteles habe methodische Leitlinien aus den Eukli- dischen Elementen übernommen, so steht dem schon die Chronologie entgegen: Aristoteles war bereits gut zwei Jahrzehnte tot, als Die Elemente verfasst wurden (Aristoteles 384-322; Verfassung der Euklidischen Elemente zwischen 305 und285).23 Der zitierte Textteil zu Synthesis und Analysis ist sicher noch weit später hinzugefügt worden, vermutlich von dem um 100 n. Chr. lebenden Mathematiker und Ingenieur Heron von Alexandrien. Darauf deuten Passagen aus den Euklid-

  • | Euklid: Die Elemente, Buch 1-13, (hg. übers. von Clemens Thaer), Darmstadt: Wis- senschaftliche Buchgesellschaft1963, S. 386f.
  • | für Aristoteles Otfried Höffe: Aristoteles, München: Beck 1996, S. 288. Vgl. für Euklid: Paulys Realencyclopädie derclassischen Altertumswissenschaft, (hg. von Georg Wissowa), 11. Halbband, Stuttgart: Alfred Druckenmüller 1907, 1003-1052,S. 1004.

 

Kommentaren des Proklus (nach 400 n. Chr.) und des al-Nairizi (um 920 n. Chr.) hin.24

Das wissenstheoretische Vorbild, an das die Euklid-Kommentatoren die ma- thematische Methode anpassten, findet sich in einem Text der Aristotelischen Ethik besonders prägnant ausgedrückt. Dort erläutert Aristoteles in Bezug auf den Begriff des Überlegens(›bouleúesthai‹ – im Sinne von ›praktisch Bedenken‹), dass Gegenstand dieser Geistestätigkeit nicht das Ziel, sondern das Mittel sei,um ein Ziel zu erreichen. Dabei gibt er einem Begriff der ›analysis‹ Kontur als einer Tätigkeit, die auf einen Endpunkt führt, welcherwiederum auch einen Ausgangs- punkt bietet. Aristoteles schreibt:

»[…] nachdem man sich ein Ziel gestellt hat, sieht man sich um, wie und durch welche Mittel [das Ziel] zu erreichen ist; wenn es durch verschiedene Mittel möglich scheint, sieht man zu, durch welches es am leichtesten und besten erreicht wird; und wenn es durch eines regelrecht verwirklicht wird, fragt man wieder, wie es durch dasselbe verwirklicht wird, und wodurch wiederum jenes, bis man zu der ersten Ursache gelangt, die als letzte gefunden wird. Auf diese so beschriebene Weise verfährt man analysierend, d.h. zergliedernd, wie wenn es sich um die Konstruktion einer geometrischen Figur handelte. Doch ist nicht jedes Suchen ein Überlegen, z.B. das Suchen des Geometers nicht: dagegen ist jede Überlegung ein Suchen, und das, was bei der Zergliederung als Letztes herauskommt, ist bei der Ver- wirklichung durch die Handlung das Erste.«25

In der Analogie zur Geometrie tritt Aristoteles aus dem Kontext der praktischen Philosophie heraus und ordnet die praktische Fragestellung in einen allgemein wissenstheoretischen Rahmen ein. Jedoch bezieht sich diese Analogie nur auf den Weg ›hin‹ zur ersten Ursache auf die Analysis. Ausgehend ›von‹ der ersten Ursache findet sich hier kein mathematisches Verfahren, sondern ein unmittel- bar auf Wirklichkeit bezogenes praktisches Tun. In den Analytiken steht an dieser Stelle ebenfalls kein mathematisches, sondern ein logisches Verfahren, nämlich der ›syllogismos‹, der aus Voraussetzungen methodisch auf das schließt, was aus ihnen folgt.

  • | Anthony Lo Bello (Hg.): The Commentary of al-Nayrizi on Books II-IV of Euclid’s Ele- ments of Geometry, Leiden/Boston: Brill2009, S. 22; Jürgen Schönbeck: Euklid, Basel: Birkhäuser 2003, 202. Eventuell fand diese Hinzufügung auch erst im EuklidKommentar des Neuplatonikers Proklos Diadochos im 5. Jahrhundert n. Chr. statt. Vgl. Hans-Jürgen Engfer: Philosophie als Analysis. Studien zur Entwicklung philosophischer Analysiskon- zeptionen unter dem Einfluss mathematischerMethodenmodelle im 17. und frühen 18. Jahrhundert, Stuttgart: Fromann-Holzbog 1982, S. 72.
  • | Aristoteles: Nikomachische Ethik (auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rol- fes, von Günther Bien), Hamburg:Meiner 1985, 1012b16-25.

 

Um zu verstehen, welche begrifflichen Überlagerungen und Verwirrungen in der Aristoteles-Rezeption entstanden sind, müssenfolgende Punkte der Aristote- lischen Philosophie berücksichtigt werden, die ich hier nur kurz erläutern kann:

  1. Epagogé, Induktion und Analysis: An zwei prominenten Stellen der Aristoteli- schen Schriften, nämlich am Beginn der Metaphysik und am Ende der Zweiten Analytik erklärt Aristoteles, wie der Mensch zu den ersten Ursachen und Prinzi- pien gelangt – also zu dem, worauf auch die Analyse führt. Er beschreibt diesen Weg als einen stufenförmigen Aufbau von der Erfahrung als Verallgemeinerung von sinnlichen Wahrnehmungen über die sprachliche und begriffliche Erfassung der Erfahrung in Wissen/Wissenschaft (›epistemé‹) und Kunst/Können (›tech- né‹) bis hin zu den ersten Ursachen und Prinzipien, nach denen sich dasErfasste verhält. In welcher Beziehung steht nun dieser Weg, den Aristoteles mit dem Be- griff der ›epagogé‹ (ins Lateinische mit›Induktion‹ übersetzt) fasst, zu der Tätigkeit der Analysis? Man muss hier zwischen einem genealogischen und einem re- flexivenAspekt dieses Erkenntnisweges unterscheiden:26 Während ›epagogé‹ sich darauf bezieht, wie Erkenntnis der ersten Ursachen und Prinzipien überhaupt entsteht, bezeichnet ›analysis‹ die besondere Tätigkeit der sprachlichen Reflexion, durch die innerhalb von Wissen/Wissenschaft und Kunst/Können die ersten Ursachen und Prinzipien expliziert Da in der Rezeptionsgeschichte diese Differenzierung aber verwischt wurde, kam es zur Überblendung von ›epagogé‹ und ›analysis‹, was letztere zu einem genuinen Erkenntnismittel aufwertete und erstere (unter dem Begriff Induktion) logifizierte.
  1. Die Rolle der ersten Ursachen und Prinzipien: Um der Aristotelischen Konzep- tion in ihrer Eigenheit gerecht zu werden, müssen insbesondere die Begriffe der ersten Prinzipien und Ursachen geklärt Prinzip (›arché‹) und Ursache (›aitía‹) werden von Aristoteles weitgehend als eine semantische Einheit behan- delt (»alle Ursachen sind Prinzipien«)27. Beide Begriffe beziehen sich aufdas Wo- durch und das Woher in einem Sinne, der nicht mit einer modernen Vorstellung von Kausalketten identifiziert werden darf. Vielmehr bezeichnen beide Begriffe die konstitutiven Faktoren, die sowohl zur Entstehung als auch zum Verständnis einer Sache vorausgesetzt werden müssen: »Allgemeines Merkmal […] ist, daß es ein Erstes ist, wovon her etwas ist, wird, oder erkannt wird.«28 Erste Ursachen und Prinzipien lassen sich also als so etwas wie Konstituenten verstehen: Bedin- gungen, deren Gegeben- und Wirksamsein wir für eine Sache oder Entwicklung voraussetzen müssen und können.
  • | zu dieser Unterscheidung Höffe, Aristoteles, 1996, S. 53.
  • | Aristoteles: Metaphysik, Halbband, (Neubearb. d. Übers. v. Hermann Bonitz mit Einl. u. Komm. hg. von Horst Seidl),Hamburg: Meiner 1989, 1013a.
  • | Aristoteles, Metaphysik, 1989,

 

  1. Synthesis und Ursachenlehre: Aristoteles differenziert den Begriff der Ursache näher in seiner Lehre von den vier Ursachen: Stoff-,Form-, Beweg- und Zielursa- che. Während die Moderne nur die Bewegursache als Ursache im engeren Sinne akzeptiert, erschien es im griechischen Denken sinnvoll, ebenso Stoff, Form und das Telos eines Geschehens als Konstituenten für eine Gegebenheit gleichwertig zu behandeln. Der Begriff der Synthesis spielt im Rahmen dieser Ursachenlehre bei Aristoteles eine spezielle Rolle: Wenn Aristoteles nämlich erklärt, wie etwas aus einem Stoff zu etwas Bestimmten wird, so schlüsselt er dies so auf, dass die

»Ganzheit (hólon), die Zusammensetzung (synthesis) und die Form (eídos)« diese Bestimmung ergeben.29 Synthesis ist hier also als ein Bestimmungsaspekt im Be- reich der Formung von Gegebenheiten konzipiert.

Beziehen wir diese drei Punkte auf die Rezeptionsgeschichte, so wird deutlich, welche einschneidenden konzeptionellen Veränderungen mit der Einführung von Analysis und Synthesis als Begriffspaar verbunden waren: Indem Synthesis aus dem Kontext der Ursachenlehre herausgelöst und als Komplementärbegriff zu einem Analysis-Konzept eingesetzt wurde, das seinerseits von einem sprach- logisch-reflexiven Konzept zu einem Konzept genereller Erkenntnisgewinnung ausgeweitet wurde, konnte ein Bild entstehen,dem gemäß es möglich erscheinen konnte, mit sprachlogischen Mitteln konstitutive Bestandteile zu erschließen,  die in umgekehrter Richtung– auf konstruktivem Wege – sich zu bestimmten Entitäten zusammensetzen lassen. Dass in dieser logisch reduzierten Form der Synthesis die Bedingungen der Stoff-, der Beweg- und der Zielursache und auch die Bedingungen der jeweiligen Form und Ganzheit (um hier die Aristotelische Ursachensystematik zu vervollständigen) hinter das Konzept einer Zusammen- setzung ausBestandteilen zurücktrat, wird als eine der Quellen des mit dem Syn- thesis-Begriff verknüpften modernen Machbarkeitsglaubens angesehen werden müssen.

Anders gesagt: In der Geschichte der Rezeption wurden zwei aristotelische Begriffe, nämlich ›analysis‹ und ›syllogismos‹, die beide eine Funktion bloß in- nerhalb des ›logos‹ haben, mit dem Begriffspaar ›epagogé‹ (lateinisch: Induktion) und ›synthesis‹ überblendet (wobei dieser Begriff der ›synthesis‹ weder als Pen- dant zur logischen ›analysis‹, noch als Pendant zur epistemologischen ›epagogé‹ in der aristotelischen Philosophie vorkommt, vielmehr nur eines der ontologisch- epistemologischenPrinzipien innerhalb der aristotelischen Wirklichkeitskonzep- tion ist). Indem dabei der Begriff der Synthesis sowohl dem Begriff derlogischen

›analysis‹ als auch dem der epistemologischen ›epagogé‹ in einem allgemeinen Sinne von Ableitung und Beweisführung als Pendant diente, entstand die Ten- denz, diese beiden Aspekte, miteinander zu verschmelzen und eine logische De- duktion als gegenläufigeBewegung zur Induktion zu verstehen, die ihrerseits in

  • | Aristoteles: Metaphysik, Vgl. Aristoteles: Physik, 1. Halbband, (Übers., mit Einl. u. Anm. hg. v. Hans Günter Zekl),Hamburg: Meiner 1987, 195a.

 

dieser Neuinterpretation zu einem bloß logischen Verfahren wurde. Diese Ten- denz prägte sich immer da aus, wo ohnehin die(Aristoteles fremde) Annahme vo- rausgesetzt war, dass die Ordnung der Welt im Grunde in logisch-mathematischer Form besteht – wo also (aristotelisch gesprochen) das Abstrakte dem Konkreten vorausgesetzt wird. Während, gemäß Aristoteles, in den konkreten Wesenheiten jeweils verschiedene Prinzipien wirksam sind, die sie jeweils konstituieren und die erst gleichsam nachholend und nurunter der Bedingung vorhergegangener

›epagogé‹ durch ›analysis‹ reflexiv-logisch erschlossen werden, entsteht nun ein Bild, demgemäß die Prinzipien durch Analyse logisch-mathematischer Formen erschlossen und aus den Prinzipien durch logisch-mathematische Synthese For- men gebildet werden können. Ein Bild, dem gemäß der Mensch durch die bloße Beherrschung logisch-mathematischer Verfahren konstruktiv tätig werdenkann

  • und zwar nicht nur innerhalb eines Bereiches logischer Abstraktion, sondern – so war man dann im Selbstbewusstsein derRenaissance bereit zu glauben und zu denken – innerhalb der als mathematisch verfasst gedachten Ordnung der Wirk- lichkeit

Ist es nicht mehr als naheliegend, dass dieser Konstruktionsgedanke und die- ser Machbarkeitsglaube für die Neuzeit bestimmend wurden? Und dass der Be- griff der Synthese, als er sich in der Chemie mit der Erfolgsgeschichte der Herstel- lung von Stoffen verband, zu einem Zentralbegriff dieses Denkens und Glaubens werden musste – sodass sich im Begriff der Synthese die Frage bündelte, wozu der Mensch mit seinen wissenschaftlich-technischen Verfahren in der Lage sein kann?

In der Denkfigur einer Synthese aus Einzelteilen – im Unterschied zum Ver- ständnis einer Sache aus dessen Konstitutionsbedingungen – liegt eine Quelle eigentümlicher Verkürzungen und Ausblendungen. Das zeigt sich am deut- lichsten dort, wo die Vorstellung von Synthesevorgängen explizit einem Bau- kastenmodell folgt (wie etwa im Lego-Baustein-Bild, das in der Frühphase der Synthetischen Biologie prominent wurde (dazu später mehr). Gemäß diesem Denkschema können aus einzelnen Bausteinen, die in Größe, Form und anderen Eigenschaften differieren, in freier Variation unterschiedliche Gebilde hergestellt werden. Mit der Zusammensetzung eines Puzzles hat der Aufbau aus Bausteinen gemeinsam, dass das Ganze aus einer Zusammenfügung bestimmbarer dingli- cher Einzelteile entsteht. Doch es gibt auch einen Unterschied: Während im Fall des Puzzles bereits durch die Form der Einzelteile bestimmt ist, wie das Ganze aussehen wird, bietet ein herkömmlicher Baukasten (etwa aus Holzbausteinen) die Möglichkeit, aus demselben Bausatz ganz unterschiedliche Gebilde aufzu- führen. Die Bauelemente lassen unterschiedliche Kombinationen zu, sodass aus ihnen prinzipiell unbeschränkt viele Varianten hergestellt werden können. Wird allerdings nach einem vorgegebenen Plan gebaut, dann gleicht sich der Fall dem der Puzzle-Zusammensetzung an: Der Plan definiert, was durch dieBauelemente unterdeterminiert ist; er bestimmt Position und Verbindung der Elemente zuei- nander. Als Unterschied zwischen denFällen bleibt bestehen, dass beim Puzzle

 

bereits die Elemente durch ihre Gestalt die Bauform des Ganzen determinieren, während dies im planmäßigen Bau mit Bausteinen erst durch den Plan des Gan- zen geschieht; was wiederum bedeutet, dass die Unterdeterminierung der Bau- elemente in Bezug auf das Ganze Freiheiten in der Planung, mithin auch die Verwendung nach unterschiedlichen Plänen erlaubt.

Das Lego-Baustein-Bild erweist sich vor diesem Hintergrund als verführe- rische Metapher: Es suggeriert freie Konstruierbarkeit nach planmäßigen Ent- würfen – und zugleich eine Kombinatorik nach eindeutigen Regeln. Denn die Noppen der Lego-Bausteine lassen ja keine kontinuierlich-unbestimmte Weise der Verknüpfung von Elementen zu, sondern immer nur bestimmte distinkte Kombinationen; sie funktionieren als ein digitales, nicht als ein analoges System (im Sinne der Unterscheidung von digital und analog, wie sie z.B. in Bezug auf Uhren verwendet wird und wie sie der Philosoph Nelson Goodman expliziert hat). So entsteht das Bild der Möglichkeit einer freien und dennoch Schritt für Schritt planbaren, nach eindeutigen Vorgaben realisierbaren Konstruktion.

Wie verhält sich nun die chemische Synthese zu diesen Denkfiguren? Lässt sich die Syntheseplanung mit der Anleitung vergleichen, die etwa einem Lego- Schiffsbaukasten beiliegt und die Schritt für Schritt angibt, welche Elemente wie zusammenzusetzen sind? Wie frei ist die Planung in der chemischen Synthese? Offenbar ist es der Chemie ja gelungen, nicht nur Naturstoffe zu rekonstruieren, sondern neuartige Stoffe, Kunststoffe, zu konstruieren. Was aber beschränkt die Möglichkeiten solcher Synthese? Warum kann nicht nach Belieben konstruiert werden?

Zitate

»Während einzelne skeptische Naturforscher von der chemischen Synthese nicht einmal einen unmittelbaren Nutzen für die Biologie erwarten, sind im großen Publikum übertrie- bene Vorstellungen besonders über die wirtschaftlichen Folgen einer solchen Entdeckung verbreitet. Durch die glänzenden Leistungen der chemischen Synthese auf dem Gebiet der Farben, Heilmittel, Riechstoffe, Sprengstoffe, Süßstoffe usw. ist die Welt in den letzten 50 Jahren so verwöhnt worden, daß sie alles für möglich hält und deshalb in dem künst- lichen Eiweiß die billige und gute Volksnahrung der Zukunft erblickt. Diese Hoffnung kam in der Öffentlichkeit zum lebhaften Ausdruck, als ich vor Jahresfrist eine Zusammenfassung meiner synthetischen Versuche gab, und steigerte so weit, daß eine ausländische Zeitung unter dem Stichwort ›Nahrung aus Kohle‹ ein prächtiges Bild brachte, auf dem ein vornehmes Speisehaus mit einem Kohlenbergwerk durch ein chemisches Laboratorium in Verbin- dung gebracht war, und wo man die Transformation von Steinkohlen in schöne Speisen aller Art sehen konnte.«

(Emil Fischer 1907)1

»Die ›Philosophie der Chemie‹ oder die theoretische Grundlagen der modernen Chemie sind ursächlich mit der Entwicklung der chemischen Synthese verknüpft. Der Begriff der chemischen Synthese von Naturstoffen ist ein altes Problem der Philosophie überhaupt […]. A priori gingen Jatrochemiker von der Möglichkeit der Synthese sogar belebter Naturstoffe aus unbelebten Material aus, indem sie der Palingenesie und der generatio aequivo- ca s. spontanea nachstrebten.«

»Erst als man statt der Synthese von chemischen Elementen diejenige von zusammenge- setzten Körpern in Angriff nahm und als man statt der belebten Stoffe die organischen Körper unter Ausschaltung der Lebenskraft zu synthetisieren begann, erst dann wurde der wissenschaftlichen Erkenntnis als eine neue Komponente der Erfahrungssatz eingefügt: Die chemischen Stoffe der unorganischen sowie der organischen Natur sind künstlich herstellbar!«

(Paul Walden 1928)

»Heutzutage ist die chemische Wissenschaft recht weit fortgeschritten. Während sie voran- schreitet und sich selbst immer weiter verfeinert, wird sie genutzt, um Fortschritte und Ent- deckungen in einem beeindruckenden Aufgebot an Forschungsgebieten zu ermöglichen,
z.B. in der Gesundheitspflege, Ernährung, Energieversorgung und in der Herstellung von Hochleistungsmaterialien sowie Werkzeugen, um komplexe biologische Vorgänge zu beobachten, zu enträtseln und zu nutzen. […] Die Leistungsfähigkeit der Chemie leitet sich hauptsächlich von ihrer Fähigkeit ab, die molekulare Struktur zu verstehen, sie zu synthetisieren und in ihr durch molekulares Design und Synthese eine Funktion zu schaffen.«

(Kyriacos C. Nicolaou 2013)

»[Drew] Endy believes it will someday be possible for anyone to participate in the design of synthetic organisms. He imagines a new class of professionals similar to today’s graphic designers that will design new biological devices on laptops and then send those designs by email to gene foundries.«

(Drew Endy 2007)

»Creation of a Bacterial Cell Controlled by a Chemically Synthesized Genome.«

(Daniel Gib son et al. 2010)