Technologie des 21. Jahrhunderts

Perspektiven der Technikphilosophie

In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 6 / 2008, S. 935-956.

Abstract

Jüngste technologische Entwicklungen werfen die Frage auf, ob die Technikphilosophie über ausreichende konzeptuelle Mittel verfügt, Tragweite und Charakter dieser Veränderungen kritisch einzuschätzen. Auch bei Skepsis gegenüber visionären Szenarien ist festzustellen, dass einige Tendenzen jüngster Technologien darauf hindeuten, dass die jetzige Entwicklung nicht mehr in der Logik des Informationsparadigmas gedacht werden kann. Der Text skizziert eine Reihe aktueller technischer Phänomene und gibt sodann eine Umschau zeitgenössischer Ansätze der Techniktheorie.

Recent technological developments pose the question whether the philosophy of technology is conceptually equipped to provide a meaningful critique of the consequences and the character of these transformations. Even while keeping a sceptical distance towards visionary scenarios it is at the same time remarkable that at least some tendencies of recent technologies indicate that the current development can no longer be framed within the logic of the information paradigm. The text depicts a number of current technological phenomena and provides a survey of contemporary approaches in technology theory.

 

Mit einem Nachwort Über Deep Learning, Intransparenz und Verantwortung wird der Text 2024 wieder abgedruckt in tu: Zeitschrift für Technik im Unterricht, aufgeteilt auf die Nummern 191 und 192. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags De Gruyter.

Leseprobe

 

  1. Resumée und Ausblick

Betrachten wir die Diskurslandschaft um das Thema Neue Technologien von Ferne, so zeichnen sich zwei das Bild prägende Erhebungen ab: auf der einen Seite sehen wir einen massiven Diskurs, der unmittelbar bei den neuen technischen Phänomenen ansetzt, und – schwankend zwischen science und science fiction – Tendenzen gegenwärtige Forschung so extrapoliert, dass das Bild einer technologisch gänzlich beherrschten und durchdrungenen Welt entsteht. Da diesem Diskurs jede strukturelle und methodische Grundlage fehlt, die es erlauben würde, Phänomene kritisch zu analysieren und zu kontextualisieren, bedeutet für seine Autoren jedes Auftauchen eines Phänomens zugleich das Auftauchen eines neuen Phänomens.

Auf der anderen Seite stehen die kritischen Kommentatoren, die den technologischen Diskurs einer Revision unterziehen. Sie untersuchen Begriffe und Denkfiguren und zeigen, in welchen ideengeschichtlichen Zusammenhängen die aktuellen Konzepte, etwa der Molekularen Maschine, und die zugrundeliegenden Denkfiguren von Atomismus, Reduktionismus und Determinismus stehen.

Neben diesen beiden auf jüngste Technologien bezogenen Diskursen zeichnet sich eine systematische Konvergenz klassischer techniktheoretischer Diskussionszusammenhänge ab: der jüngere deutschsprachige Diskurs der Technikphilosophie mit seinem Medienparadigma, der internationale, insbesondere amerikanische Diskurs der phänomenologisch-hermeneutischen Technikphilosophie mit seinem Mediationsparadigma und der soziologische Diskurs, wie er sich im Ansatz technischer Delegation von Latour zuspitzt. Diese drei Diskurse kommen darin überein, erstens Technik nicht als Antagonistin, sondern als konstitutiver Teil menschlicher Lebenswelten zu betrachten, zweitens den technischen Artefakten eine nicht-neutrale Rolle in der Prägung und Veränderung von Lebenswelten zuzuschreiben und drittens anzunehmen, dass den technischen Artefakten eine Materialität und eine Eigensinnigkeit innewohnt, die es verbieten, sie verlustfrei in diskursive und konzeptuelle Figuren zu übersetzen. Die Annahme dieses Eigenwerts macht es erforderlich, differenzierte Analysen technischer Phänomene vorzunehmen, also technische Artefakte nicht ausschließlich auf der Ebene des ’Sprechens über’, sondern auch auf der ihrer nicht explizit verfaßten Strukturen, auf der von nicht konzeptuell vorgefaßten Formen des Handelns und Erfahrens zu untersuchen. Und tatsächlich sind diese drei Diskurse die einzigen Diskussionszusammenhänge, aus denen solche materialen Studien hervorgegangen sind, wobei zu bemerken ist, dass die im Vergleich anspruchsvollere philosophische Fundierung sich für den phänomenologisch-hermeneutischen Diskurs bezahlt macht.

Haben wir nun aber die Technikphilosophie, die wir brauchen? Was zeigt uns der Überblick über technologische Tendenzen und Diskurse in Bezug auf unsere Ausgangsfrage?

Wir wollen wissen, ob wir neue Technologien zu gewärtigen haben, die unser Leben und unsere Welt in wesentlich neuer Weise prägen. In einer Weise also, die nicht nur manche neue Phänomene hervorbringt, denen wir gelegentlich begegnen, sondern so, dass sich Grundstrukturen unseres Handelns und Erfahrens verändern.

Eine angemessene Antwort auf diese Frage setzt ein sorgfältiges Vorgehen in drei Punkten voraus: Erstens müssen die neuen Technologien, so weit sie realisiert sind, wie auch die Forschung in ihren Hemmnissen und abzeichnenden Wegen, so sachnah und nüchtern beschrieben werden wie irgend möglich. Zweitens muss eine umfassende Kritik der Diskurse um Machbarkeits- und Horrorszenarien der neuen Technologien ausgearbeitet werden, die deren stereotype Denkfiguren freilegt und historisch kontextualisiert. Drittens müssen in Auseinandersetzung mit dieser Kritik und den Phänomenbeschreibungen neue Denkfiguren und Unterscheidungen entwickelt werden, die es erlauben, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen neueren und älteren Technologien in ihren wesentlichen, handlungs- und erfahrungsrelevanten Zügen wahrzunehmen, konzeptuell zu erfassen und in ihren voraussichtlichen konkreten Relevanzen einzuschätzen.

Was die zweite Aufgabe der Diskurskritik anbelangt, so ist hier im Feld der kritischen NBIC- und CT-Diskurse bereits viel geleistet. Grundbegriffe des technologischen Diskurses wie Maschine und Automat, Grundfiguren wie Atomismus, Reduktionismus, Mechanizismus und Cartesianismus sind Gegenstand kritischer Studien. In diesem Feld ist sicher noch vieles zu tun, aber auch vieles schon getan. Anders sieht es in den beiden anderen Arbeitsbereichen aus: In Bezug auf sachnahe Studien aktueller technischer Phänomene und Entwicklungen gibt es nur wenige dieser wichtigen Studien, die sich konkreten Forschungs- und Entwicklungszusammenhängen widmen. Umfassende Untersuchungen technologischer Felder, etwa der Art,  wie sie in Bezug auf die Wissenschaften die Laborstudien hervorgebracht haben, stehen hier noch aus. Dramatisch unterbelichtet ist der dritte Punkt: die techniktheoretische (Neu-)Konzeptualisierung. Hier hatten wir eine bislang kaum überbückte Kluft zu konstatieren: da, wo die NBIC-Technologien Gegenstand der Abhandlung sind, wird nicht mehr als punktuell auf Techniktheorie rekurriert, und umgekehrt: da, wo technikphilosophisch an Material und Konzeptionen gearbeitet wird, treten wiederum NBIC-Technologien bislang nur punktuell in Erscheinung.

Aus der Perspektive dieses Berichts ist also zu wünschen, dass die konvergierenden Techniktheorien des reformierten VDI-Diskurses, der phänomenologisch-hermeneutischen Tradition und der Soziologie, den normativen Impuls der Kritischen Theorie aufgreifend, sich zu einem intensiven Diskussionszusammenhang verdichten, und zwar mit einem Schwerpunkt auf der Frage, wie der begriffliche Apparat der Techniktheorie weiter entwickelt werden kann und muss, damit sich Richtung und Stellenwert jüngster technologischer Entwicklungen differenziert analysieren und darstellen lassen. Auf der anderen Seite könnte eine Rezeption dieses Diskussionszusammenhangs durch auf die NBIC-Problematik spezialisierte Autor/inn/en zu dem Schluss führen, dass sich eine Vertiefung der theoretischen Grundlagen lohnt, so dass in der Zusammenarbeit eine Grundlage für ebenso theoretisch und phänomenal reichhaltige wie auch kritische Untersuchungen jüngster technologischer Entwicklungen entstehen kann.

Schlüsselbegriffe

Techniktheorie, NBIC-Konvergenz, situierte Technologien, phänomenologisch-hermeneutische Ansätze, Kritische Theorie

Keywords

technology theory, converging technologies (NBIC), situated technologies, phenomenological hermeneutical approach, critical theory