Die Frage nach den Kriterien.

Wittgensteinsche Perspektiven für die Technikphilosophie

 In: Jahrbuch Technikphilosophie. Ding und System, Zürich, Berlin 2015, S. 93-115.

Abstract

Wie kann eine kritische Untersuchung von entstehenden Technologien aussehen, wenn sie über leichter fassbare Folgen (z.B. gesundheitliche, ökologische, soziale) hinaus auch ethische Implikationen zu fassen versucht. Je mehr sich die Technikphilosophie auf die Konkretheit ihrer Gegenstände und darauf besinnt, wie sich eine jeweilige Technik in unserem Leben auswirkt, desto mehr rückt die Frage ins Zentrum, auf welchen Wegen sich solche Implikationen erforschen und antizipieren lassen. 

In diesem Text untersuche ich, wie weit das Wittgensteinsche Verfahren einer grammatischen Begriffsforschung einen kriteriologischen Zugriff auf die tiefliegenden Unterscheidungen ermöglicht, die unser Handeln und Erfahren strukturieren. Ich erläutere Wittgensteins Verständnis von Begriff und lege dar, wie seine Methode die Möglichkeit einer nicht-technomorphen Analyse von Technik eröffnet. Am Beispiel einer aktuell marktreifen Technologie zur Beschleunigung des Lesens profiliere ich diese Vorgehensweise im Verhältnis zu Ansätzen wie z.B. ELSI-Programme, Szenario-Analysen und antizipatorischer Ethik.

„Ein Impuls des Wittgensteinschen Ansatzes für die Technikphilosophie besteht demnach darin, das Thema der Werte nicht als eigenen Bereich zu konzeptualisieren, sondern als ein den Unterscheidungen intrinsisches Moment. Formelhaft gesprochen: Der Wortgebrauch führt auf Unterscheidungen, die Unterscheidungen auf Gründe, die Gründe auf Werte – Werte allerdings nicht gleichsam ontisch als Gegebenheiten verstanden, sondern als Punkte eines Typs von Einsicht, die sich etwa in dem Satz ausdrücken könnte ›hier entscheidet sich etwas von Belang und Tragweite‹.“

Leseprobe

In jüngeren Publikationen der Technikphilosophie finden sich drei Anliegen vereint, die in Herkunft, Denkstil und Perspektive einander zuvor fremd gewesen sind: nämlich das einer philosophischer Denkweise, die danach fragt, wie Technik – und zwar als Ganze – Bedingung menschlichen Lebensverhältnisses ist; dann das der Reflexion vom Standpunkt technischer Expertise, die die Frage nach der Technik aus der Perspektive des Ingenieurshandelns stellt, und schließlich das Bemühen um Einschätzungen und Bewertungen von Technik, das die Diskurse der Begleitforschung, Technikfolgenabschätzung und Ethik prägt. In Titeln wie Anticipatory Ethics, Accompanying Technology, Materializing Morality und Anticipating the Interaction between Technology and Morality schlägt sich eine Konvergenz nieder, die auf mehreren Reformschritten der jüngeren Technikphilosophie beruht, welche in aktuellen Diskursen durch Titel wie material turn, empirical turn und ethical turn adressiert werden.[1]

Was sich als Resultat dieser Reformschritte an Übereinstimmung abzeichnet[2], scheint sich so zu stabilisieren, dass es vielleicht sogar als ein neues Paradigma der Technikphilosophie angesehen werden kann; ein Paradigma, das gegenüber den älteren Traditionen zumindest auf drei Entscheidungen beruht: Aus der philosophischen Tradition übernimmt es die Sichtweise, dass Technik maßgebliche Bedingung im menschlichen Leben ist, aber nicht die damit einhergehende Totalisierung von Technik; dem ›Expertendiskurs‹ entspricht es in der Emphase auf der Konkretheit technischer Artefakte und Systeme, aber nicht in der dort dominierenden Deutung in Kategorien von Mittel-Zweck-Verhältnissen; aus der ›Begleitforschung‹ geht das Bestreben ein, Auswirkungen von Technik einschätzen und in Technikentwicklung intervenieren zu können – dies nun aber nicht vom Standpunkt einer in sich selbst begründeten Verfahrenslogik. Die Frage, »woher die evaluativen Kriterien herkommen könnten«[3], ist – wie kürzlich in einem Artikel zu Technology Assessment pointiert wurde, im Diskurs der Begleitforschung stets umstritten gewesen. Das neue Paradigma scheint mir nun darin seine Pointe zu haben, dass ihm gemäß in eine solche Bewertung und Einschätzung sowohl Beschreibungen konkreter technischer Artefakte und Prozesse als auch die ›Impact-Frage‹ im philosophischen Sinne (als Frage nach den Auswirkungen auf Grundbedingungen menschlichen Weltverhältnisses) einzugehen haben. Das bedeutet gleichsam einen Brückenschlag vom Konkretesten zum Grundsätzlichsten, denn was interessiert, ist die Frage, wie eine jeweilige Technik sich nicht nur auf einzelne Aspekte und Gegenstände auswirkt, sondern auf die Bedingungen, in denen unser Handeln und Erfahren sich vollzieht.

Wie aber kann ein solcher Brückenschlag aussehen? Mir scheint, dass die jüngeren Ansätze auf eine Antwort zuarbeiten, hier aber dennoch eine Lücke offenbleibt, die nach einem Neuansatz verlangt. In vorliegendem Text will ich prüfen, ob Vorgehensweisen in der Philosophie Wittgensteins geeignet sein könnten, an dieser Stelle eine neue Perspektive zu öffnen. Eine Methode der Begriffsuntersuchung, die sich aus Wittgensteins philosophischer Vorgehensweise extrahieren lässt, soll erprobt werden in Hinblick darauf, wie weit begriffliche Arbeit, wenn sie sach- und kriterienbezogen vorgeht, über eine Selbstverständigung unseres Sprachgebrauchs hinaus auch dahin reicht, Wirkungen und Gestaltungsmöglichkeiten in sich aktuell formierenden Techniken offenzulegen. Die Annahme ist, dass in einem solchen Vorgehen tatsächlich Potenziale liegen, die bisherige Ansätze der jüngeren Technikphilosophie nicht nutzen.

[1] Philipp Brey: »Anticipatory Ethics for Emerging Technologies«, in: Nanoethics 6(1), 2012, S. 1–13; Peter-Paul Verbeek: Moralizing Technology: Understanding and Designing the Morality of Things, Chicago und London 2011; Peter-Paul Verbeek: »Accompanying Technology: Philosophy of Technology after the Ethical Turn«, in: Techné: Research in Philosophy and Technology 14 (2010), Heft 1, S. 49–54; Peter-Paul Verbeek: »Materializing Morality – design ethics and technological mediation«, in: Science, Technology and Human Values 31 (2006), Heft 3, S. 361–380; Marianne Boenink, Tsjalling Swierstra and Dirk Stemerding: »Anticipating the Interaction between Technology and Morality: A Scenario Study of Experimenting with Humans in Bionanotechnology«, in: Studies in Ethics, Law, and Technology 4 (2010), Heft 2.

[2] Die ›Vorgeschichte‹ dieser aktuellen Perspektive lässt sich folgendermaßen rekonstruieren: In seinem 1994 erschienen, für die jüngere Technikphilosophie zentralen Werk Thinking through Technology. The Path between Engineering and Philosophy (Chicago 1994) fasst Carl Mitcham theoretische Ansätze, die Folgen von Technik mit Strukturen der technischen Artefakte selbst verknüpfen, unter dem Titel »Phenomenology of Artifacts« (S. 181). Dazu rechnet er die – inzwischen klassischen – Arbeiten von Ivan Illich, Jacques Ellul, Günther Anders, Lewis Mumford, Marshall McLuhan, Jean Baudrillard und Richard Weaver. Allerdings, so Mitcham, blieben diese Ansätze weitgehend auf der Ebene des Programmatischen:

»In none of the cases listed, however, do the authors provide extended and detailed analysis of the inner structures of artifacts and how such structures give artifacts inherent tendencies toward specific kinds of human engagement and use.« (S. 182) Mitcham bezieht sich hier auf Texte, die bis 1970 erschienen. In der Folge hat etwas stattgefunden, was inzwischen als ein erster »empirical turn« der Technikphilosophie bezeichnet wird. Philipp Brey charakterisiert die Melange an Theorietraditionen, die zu dieser Welle der Konkretion beitrugen, so: »Neo-Heideggerians, neo Critical-Theorists and post-phenomenologists started to focus on concrete technologies and issues , attempted to develop contextual, less deterministic theories of technology or started borrowing from STS, and started taking on a less dystopian, more pragmatic and balanced attitude towards modern technologies.« (Philipp Brey: »Philosophy of Technology after the Empirical Turn«, in: Techné: Research in Philosophy and Technology, 14 (2010), Heft 1, S. 36-48). Als Autoren dieser Neuperspektivierung nennt Brey Andrew Feenberg, Don Ihde, Hubert Dreyfus, Larry Hickmann, Andrew Light, Donna Haraway und Bruno Latour. Ich würde zumindest Albert Borgmann, Berward Jörges, Bill Hook, Terry Winograd, Peter-Paul Verbeek und Philip Brey selbst als weitere Protagonisten hinzufügen.

[3] Armin Grunwald: »Technology Assessment. Concepts and Methods«, in: Anthonie Meijers (Hg.): Philosophy of Technology and Engineering Sciences. Handbook of the Philosophy of Science Vol. 9, Amsterdam u.a. 2009, S. 1103–1146, S. 1126. Vgl. Werner Kogge: »Technologie des 21. Jahrhunderts. Perspektiven der Technikphilosophie«. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 56 (2008), S. 935–956.

Keywords

Wittgenstein, Technikphilosophie, Ethik, grammatische Untersuchung, experimentelle Begriffsforschung, Kriterien, Kriteriologie, Konkretheit, Technikfolgenabschätzung, ELSI, Begleitforschung