Studienbrief "Einführung in die Informationsethik"

 in: Sandro Gaycken / Werner Kogge: Zertifikatsprogramm Informationsethik und Datenschutz für Ermittler und Verteidiger, Freie Universität Berlin 2015, S. 11-46. 

Lernziele

Dieser Studienbrief gibt Ihnen einen Überblick über das Thema Ethik und über Grundfragen eines Spezialgebietes der Ethik, nämlich die Informationsethik. Sie erfahren, was mit dem Begriff Ethik bezeichnet wird und erhalten Orientierung darüber, in welchem Verhältnis Ethik zu Moral und Recht steht. Dabei liegt ein Schwerpunkt auf ethischen Fragen im beruf- lichen Umfeld. Indem Ihnen verschiedene Ansätze der philosophischen Ethik vermittelt werden, sollen Sie auch in die Lage versetzt werden, un- terschiedliche Typen ethischer Argumentation zu identifizieren. Ein Ziel ist schließlich, dass Sie vor diesem Hintergrund Problemstellungen der Technik- und Informationsethik selbständig behandeln können.

Der Studienbrief ist aus einer interdisziplinären Zusammenarbeit des Fachbereichs Mathematik und Informatik und des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften an der Freien Universität Berlin hervorgegangen.

Leseprobe

 

1   Einführung in die Informationsethik

Was wird Ihnen vermittelt?

1.1      Lernziele

Dieser Studienbrief gibt Ihnen einen Überblick über das Thema Ethik und über Grundfragen eines Spezialgebietes der Ethik, nämlich die Informationsethik. Sie erfahren, was mit dem Begriff Ethik bezeichnet wird und erhalten Orientierung darüber, in welchem Verhältnis Ethik zu Moral und Recht steht. Dabei liegt ein Schwerpunkt auf ethischen Fragen im beruflichen Umfeld. Indem Ihnen verschiedene Ansätze der philosophischen Ethik vermittelt werden, sollen Sie auch in die Lage versetzt werden, unterschiedliche Typen ethischer Argumentation zu identifizieren. Ein Ziel ist schließlich, dass Sie vor diesem Hintergrund Problemstellungen der Technik- und Informationsethik selbständig behandeln können.

1.2      Advanced Organizer

Für den Studienbrief 1 „Einführung in die Informationsethik“ werden keine Vorkenntnisse vorausgesetzt. Es werden grundlegende Prinzipien und Zusammenhänge erklärt, um das Verständnis der folgenden Studienbriefe zu erleichtern.

1.3      Moral, Ethik und Recht

Was ist Moral?

Stellen Sie sich vor, eine größere Anzahl Schiffsbrüchiger erreicht eine unbewohnte Insel. Ausgehungert und dem Verdursten nahe stürzen sich die Passagiere auf alles Trink- und Essbare, das Sie finden können. Einige allerdings geben zuerst ihren Kindern, andere beginnen bald, die Alten und Kranken zu versorgen. Wieder andere teilen alles, was sie finden und geben den Menschen in ihrer Umgebung ab. Bald wird es bei einigen üblich, alle gefundene und erjagte Nahrung in ihrer Mitte zu sammeln und zu gleichen Teilen an die Mitglieder der Gruppe abzugeben. In den verschiedenen Familien und Gruppen der Schiffsbrüchigen bilden sich verschiedene Umgangsformen aus. Diese Umgangsformen unterscheiden sich voneinander. Gemeinsam unterscheiden sie sich allerdings vom Anfangszustand kurz nach der Landung dadurch, dass das Handeln hier nun Regeln folgt, die mit Auffassungen darüber verbunden sind, was gut und gerecht ist. Die Schiffsbrüchigen, die solchen Regeln folgen, verhalten sich moralisch.

D

Definition 1.1:

Moralisch: Moralisch ist ein Handeln, das sich an in einer Gruppe geteilten Auffassungen darüber orientiert, was gut und gerecht ist.

Das Adjektiv „moralisch“ bezieht sich zunächst auf die Weise, in der etwas getan wird. Genauer: Es bezieht sich darauf, woran sich jemand, der handelt, orientiert. Abgeleitet davon können Überzeugungen und sprachliche Äußerungen als moralisch bzw. unmoralisch bezeichnet werden.

Schwieriger ist die Bestimmung des Substantivs „Moral“. Sehen Sie sich die Definition im Duden an:

D

Definition 1.2:

Moral: „Gesamtheit von ethisch-sittlichen Normen, Grundsätzen, Werten, die das zwischenmenschliche Verhalten einer Gesellschaft regulieren, die von ihr als verbindlich akzeptiert werden.“ (Duden Online)

Die Schwierigkeit in dieser Definition besteht darin, dass in ihr weitere erklärungsbedürftige Wörter verwendet werden. Zu klären ist vor allem, was mit „ethisch-sittlich“ gemeint ist.

Kehren wir dazu noch einmal zurück zu den Schiffsbrüchigen: Wir können uns vorstellen, dass die Leute dort ihre Auffassungen darüber, was im Handeln gut und gerecht ist, in vielen Situationen sprachlich vermitteln und verhandeln: „Teile gerecht!“; „Man gibt zuerst den Ältesten.“; „Wer am meisten arbeitet, soll auch am meisten essen.“ Solche Anweisungen und Regeln können Nachfragen und Widerspruch hervorrufen. Nachfragen und Widerspruch erfordern wiederum Begründungen und Rechtfertigungen. Unterschiedliche Begründungen und Rechtfertigungen können aber einander widersprechen. So entsteht in vielen Situationen der Bedarf, in einer Gemeinschaft Einigkeit darüber zu erlangen, was als gut und gerecht gilt oder zumindest: Klarheit darüber zu gewinnen, was, unter welchen Umständen und für wen zu gelten hat.

Für gewöhnlich beschränken sich solche Rechtfertigungen und Begründungen darauf zu erklären, es sei gut und gerecht, z.B. den Notleidenden zu helfen, die Alten zu ehren, für die Kinder zu sorgen. So zu handeln sei üblich, es entspreche Brauch und Sitte in der Gemeinschaft.

Das Verhältnis von Moral und Ethik

An dieser Stelle können wir nun verdeutlichen, in welchem Verhältnis die Begriffe Moral und Ethik zueinander stehen: Während mit dem Wort Moral das an Auffassungen von gut und gerecht orientierte Handeln verstanden wird, bezieht sich das Wort Ethik auf Überlegungen, Diskussionen und Verhandlungen darüber, was als gut und gerecht zu gelten habe und aus welchem Grund. Kurz: Moral betrifft Handeln, Ethik das Nachdenken über Handeln. „Die Ethik ist nicht selber Moral, sondern redet über Moral.“ (Pieper 2007, 24) In unserem Beispiel: Während sich Moral bei den Schiffsbrüchigen schon früh in ihren Verhaltensweisen zeigte, bildeten sie Ethiken erst aus, als sie über gutes und gerechtes Handeln ausdrücklich nachdachten und diskutierten.

D

Definition 1.3:

Ethik: Ethik ist die Thematisierung moralischen Handelns und der mit diesem verbundenen Fragen, Auffassungsunterschiede, Gründe, Rechtfertigungen und Widersprüche.

 

K

Kontrollaufgabe 1.1

Welches der beiden Adjektive, moralisch oder ethisch, ist in folgenden Sätzen sinnvollerweise einzufügen?                                                                                                     (1) Die Firma erstellte nach ausführlicher Diskussion einen Katalog ________________ Prinzipien, an denen sich die Mitarbeiter orientieren sollten.            (2) Sie handelte spontan in hoch- _____________ Weise.

(1 ethischer; 2 moralischer)

 

Andere Definitionen von Ethik

In Einführungen und Lehrbüchern zur Ethik finden Sie häufig Begriffsbestimmungen, die Ethik als „Wissenschaft vom moralischen Handeln“ (Pieper 2007, 17), als „philosophische Untersuchung des Problembereichs der Moral“ (Patzig 1971, 3) oder als „gleichbedeutend mit Moralphilosophie“ (Hoerster  1976, 9) verstehen. Wenn Sie diese Begriffsbestimmungen mit unserer Definition 1.3 vergleichen, dann sehen Sie, dass mit diesen Bestimmungen deutlich ‚höher gegriffen‘ wird. Definition 1.3 spricht von „Thematisierung“. Eine Thematisierung muss aber nicht sogleich zu einer „Wissenschaft“, zu einer „philosophischen Untersuchung“ oder einer „Moralphilosophie“ ausgebaut werden. Ethik ist keine Spezialdisziplin, für die nur Wissenschaftler und Philosophen zuständig wären. Ethische Überlegungen und Aushandlungen finden überall dort statt, wo Menschen zusammenleben, zusammenarbeiten, ganz allgemein: Wo Menschen ihrem Tun und Lassen Anleitung und Orientierung geben.

 

E

Exkurs 1.1: Wortgeschichte und philosophische Ethik

Das altgriechische Wort für Brauch und Sitte ist „ethos“. Wer sich gemäß Brauch und Sitte verhält, verhält sich „ethikos“. Das deutsche Fremdwort Ethik stammt also aus dem Altgriechischen und bedeutet zunächst nichts anderes als Sitte und Brauch. Ebenso entstammt das Wort Moral einer antiken Quelle. Das lateinische Wort „mos“ (Plural „mores“) bezeichnete ebenfalls Sitte und Brauch. Demgemäß haben römische Gelehrte das griechische Wort „ethos“ mit „mos“ übersetzt. Die Bedeutungen der beiden Worte haben sich dann aber im Verlauf der abendländischen Geistesgeschichte immer mehr unterschieden. Während das Wort Moral sich gleichbleibend auf Sitte und Gebrauch bezog, bezeichnete Ethik eine philosophische Textsorte (Genre), die in der Tradition der ethischen Schriften des Aristoteles stehen. Philosophinnen und Philosophen denken deshalb, wenn sie das Wort Ethik verwenden, zuerst und zumeist an dieses philosophische Genre und nicht an ethische Fragen und Erwägungen, die wir alle auch im Alltag anstellen. Die Beschränkung des Wortes Ethik auf wissenschaftliche oder philosophische Untersuchungen ist nicht unproblematisch. Denn so kann es scheinen, dass Ethik nur da zu finden sei, wo eine spezielle Technik der Argumentation entwickelt ist. In einer philosophischen Einführung in die Ethik lesen wir zum Beispiel: „Die Ethik erörtert alle mit dem Moralischen zusammenhängende Probleme […], indem sie rein formal die Bedingungen rekonstruiert, die erfüllt sein müssen, damit eine Handlung, gleich welchen Inhalt sie im einzelnen haben mag, zu Recht als eine moralische Handlung bezeichnet werden kann.“ (Pieper 2007, 23) Eine formale Rekonstruktion ist eine spezielle Technik und deshalb wurde in der Philosophie eigens eine „Metaethik“ entwickelt, die „Begründungs- und Rechtfertigungsmethoden moralischer Urteile“ (Hoerster 1976, 10) zum Gegenstand hat. Betont werden muss aber, dass es nur eine bestimmte Denkrichtung in der Philosophie ist, in der eine philosophische Ethik als formal-technische Aufgabe begriffen wird. Wir werden auf andere philosophische Strömungen zu sprechen kommen, die die Aufgabe der Philosophie in der Ethik völlig anders bestimmen.

 

Welche Regeln sind Regeln von Moral und Ethik?

Wir hatten oben gesagt, dass ein Handeln dann moralisch ist, wenn es sich an in einer Gemeinschaft geteilten Auffassungen orientiert und dass Ethik die Auseinandersetzung mit solchen Auffassungen in Gedanken, Gesprächen und Texten ist. Doch sind Moral und Ethik zuständig für jede Art von gesellschaftlicher Regelung? Offenbar gibt es eine Vielzahl von Regelungen, die nicht moralisch-ethischer Natur sind: Höflichkeitsregeln (man gibt zur Begrüßung die rechte Hand), stilistische Regeln (z.B. in welchen Farben ein Haus bemalt sein darf), technische Regeln (z.B. welche Wattzahlen in einer Lampe erlaubt sind), Spielregeln (z.B. Abseits im Fußball) gelten nicht als moralische Regeln. Wer gegen solche Regeln verstößt, handelt nicht unmoralisch. Er handelt unhöflich, geschmacklos, unklug oder inkorrekt. Was also ist es, was eine Regel zu einer Regel der Moral macht? Wir hatten bisher davon gesprochen, dass ein Handeln moralisch ist, wenn es sich an bestimmten Auffassungen orientiert, nämlich an solchen davon, was gut und gerecht ist. Was unterscheidet nun aber Auffassungen davon, was gut und gerecht ist von etwa solchen darüber, was höflich, was schön, was korrekt ist? Einige Ethiker und Moralphilosophen meinen, dass ein Handeln nur dann moralisch ist, wenn es sich letztlich an unbedingten, nicht mehr hinterfragbaren Prinzipien und „obersten Normen“ (Hoerster 1976, 12) orientiert. Daran ist richtig, dass wir für gewöhnlich unsere Auffassungen davon, was gut und gerecht ist, nicht so leicht zur Disposition stellen wie eine Höflichkeits-, Mode- oder Abseitsregel. Andererseits ist uns durchaus bewusst, dass andere Menschen mit anderen Erfahrungen, oder auch anderen kulturellen Hintergründen, andere Auffassungen davon haben können, was in einer bestimmten Situation gut und gerecht ist. Jemand, der sich für den Statthalter des absolut Guten und absolut Gerechten hält, läuft Gefahr, zum Fanatiker zu werden. In Fragen der Moral geht es also um einen Ausgleich zwischen zwei starken Motiven: Auf der einen Seite sind unsere moralischen Auffassungen so beschaffen, dass wir an ihnen unbedingt festhalten wollen, auf der anderen Seite erfahren und wissen wir, dass auch – und gerade! — in moralischen Fragen sich gewichtige und konflikträchtige Unterschiede zwischen den Auffassungen zeigen können. Dieser Zusammenhang von Unbedingtheit einerseits und Verschiedenheit andererseits ist ein zentraler Gegenstand moraltheoretischer Überlegungen. Er wird in der Ethik unter dem Titel ‚Relativismus‘ verhandelt. Wir kommen dazu in Abschnitt 1.6.

 

Der Zusammenhang von Moral, Ethik und Recht

Eine andere Reaktion auf diese Problematik ist die Einführung von Recht. Was ist Recht? Und wie verhält es sich zu Moral und Ethik?

Kehren wir zur Klärung dieser Fragen wieder zurück zu den Schiffsbrüchigen. Wir können uns vorstellen, dass die Diskussionen zwischen Vertretern verschiedener Auffassungen sich hin und her bewegen: zeitweise setzten sich die einen mit ihrer Auffassung durch, zeitweise die anderen, zweitweise gab es Patt-Situationen, in denen ganz unklar ist, was gilt und wie zu handeln ist. Das wird als unbefriedigend und unpraktikabel empfunden, so dass die Forderung laut wird, man solle die Regeln verbindlich festlegen und diejenigen bestrafen, die sich nicht an sie halten. Eine solche Festlegung von Regeln können wir als den Akt der Einführung von Recht verstehen.

Was ist Recht?

Recht wird folgendermaßen definiert:

D

Definition 1.3

Recht: „Gesamtheit der staatlich festgelegten bzw. anerkannten Normen des menschlichen, besonders gesellschaftlichen Verhaltens; Gesamtheit der Gesetze und gesetzähnlichen Normen; Rechtsordnung“ (Duden online)

Rechtspositivismus

Doch ebenso wie die Bestimmung des Begriffs Ethik wirft auch die Definition von Recht Fragen auf, über die sich die Gelehrten uneins sind. Es entsteht nämlich folgendes Problem: Bestimmt man Recht tatsächlich nur als die Menge der durch gesetzgebende Institutionen festgelegten und durch staatliche Organe durchgesetzten Normen, dann muss man auch z.B. die von einem Diktator erlassenen Gesetze als Recht bezeichnen. Recht ist dann eine wertneutrale Sammelbezeichnung für festgesetzte Regelungen, gleich wie sie zustande kommen, gleich wie sie begründet sind. Eine solche Auffassung wird in der Rechtslehre Rechtspositivismus genannt.

Dagegen argumentieren andere Rechtsgelehrte, dass Gesetze nicht automatisch als Recht gelten können. Wenn z.B. Gesetze erlassen werden, die bloß der Herrschaftssicherung der Machthaber dienen, die willkürliche Privilegien und Diskriminierungen festschreiben, die menschenverachtendes Verhalten dulden oder fordern, so handele es sich um ungerechte Gesetze und damit nicht um Recht. Ein Gesetz ist demnach nicht schon allein dadurch Recht, dass es besteht. Damit ein Gesetz Recht ist, muss es vielmehr höheren Normen der Gerechtigkeit folgen.

E

Exkurs 1.2                          

Gustav Radbruch, Reichsjustizminister in der Weimarer Republik und einer der einflussreichsten Rechtsphilosophen des 20. Jahrhunderts, hat, unter Eindruck des „Dritten Reiches“, auf besonders eindrückliche Weise eine Abkehr vom Rechtspositivismus gefordert:

„Vielfältig haben die Machthaber der zwölfjährigen Diktatur dem Unrecht, ja dem Verbrechen die Form des Gesetzes gegeben. Sogar der Anstaltsmord soll durch ein Gesetz untergründet gewesen sein, freilich in der monströsen Form eines unveröffentlichten Geheimgesetzes. Die überkommene Auffassung des Rechts, der seit Jahrzehnten unter deutschen Juristen unbestritten herrschende Positivismus und seine Lehre ‚Gesetz ist Gesetz‘, war gegenüber einem solchen Unrecht in der Form des Gesetzes wehrlos und machtlos; die Anhänger dieser Lehre waren genötigt, jedes noch so ungerechte Gesetz als Recht anzuerkennen. Die Rechtswissenschaft muss sich wieder auf die jahrtausendealte gemeinsame Weisheit der Antike, des christlichen Mittelalters und des Zeitalters der Aufklärung besinnen, daß es ein höheres Recht gebe als das Gesetz, ein Naturrecht, ein Gottesrecht, ein Vernunftrecht, kurz ein übergesetzliches Recht, an dem gemessen das Unrecht Unrecht bleibt, auch wenn es in die Form des Gesetzes gegossen ist“. (Radbruch 2006 [1947], 291)

Rechtspositivisten haben ihre Position immer wieder damit begründet, dass das Recht von moralischen Fragen und ethischen Auseinandersetzungen frei gehalten werden müsse. Doch offensichtlich ist es notwendig, auch Kritik an Gesetzen zu ermöglichen. Es muss die Frage gestellt werden können, ob ein bestimmtes Gesetz gerecht ist oder nicht.

Das Verhältnis von Moral und Recht

Das bedeutet nicht, dass jeder Einzelne seiner privaten Moral folgen und nach Belieben Gesetze beachten dürfe oder auch nicht. Es bedeutet, dass wir alle in dem Bewusstsein mit unseren Gesetzen leben und handeln sollten, dass auch Gesetze moralischer Bewertung und ethischer Diskussion unterliegen. Dies gilt sowohl für die Formulierung von rechtlichen Normen, als auch für ihre Auslegung und Durchsetzung.

Moral und Recht dürfen nicht in einem Konkurrenzverhältnis verstanden werden. Es geht nicht darum, moralische Maßstabe an die Stelle von rechtlichen Normen oder rechtliche Normen an die Stelle von moralischen Maßstäben zu setzen. Dass Gesetze als Recht gelten können, wird vielmehr erst dadurch garantiert, dass sie im Rahmen ethischer Diskussion stehen; und dass gemeinschaftliche ethische Überzeugungen auch wirklich zur Geltung kommen, wird dadurch garantiert, dass sie in einem Rechtssystem ausdrücklich formuliert und tatsächlich durchgesetzt werden. Recht und Moral können sich im Idealfall also gegenseitig stützen. Voraussetzung dafür ist, dass in einer Gesellschaft freie, öffentliche Debatten geführt werden, in denen unterschiedliche Vorstellungen, was in einer Sache gut und gerecht ist, vorgebracht werden (Ethik). Solche Äußerungen dürfen nicht ohne triftigen Grund verhindert werden und müssen eine Chance haben, sich in der öffentlichen Auseinandersetzung zu behaupten und in die rechtlichen Regelungen einzugehen. Im Rahmen solcher Debatten können auch veränderte moralische Werte, neue Anforderungen und Bedürfnisse zum Ausdruck kommen, so dass rechtliche Normen verändert oder weiter entwickelt werden.

 

K

Kontrollaufgabe 1.2

Nennen Sie zwei Grundrechte, die in Demokratien auch dafür garantieren sollen, dass staatliches Handeln und Gesetze an ethische Maßstäbe gebunden bleibt.

[Meinungsfreiheit; Pressefreiheit]

 

1.4      Moral, Ethik und Recht im Beruf

Ethik und Beruf

Neben allgemeinen ethischen Auffassungen haben viele Gemeinschaften, etwa Religionsgemeinschaften und Berufsstände gruppenspezifische moralische Regeln, z.B. einen Berufs- oder Standesethos entwickelt:

„Der ‚Eid des Hippokrates‘ verpflichtet den Arzt in Anwendung der allgemeinen moralischen Forderung, seinen Mitmenschen in der Not zu helfen, auf die ärztliche Tätigkeit dazu, nach besten Wissen und Gewissen für das körperliche Wohlergehen und die Gesundheit der ihm anvertrauten Patienten zu sorgen.

Das Ethos des Lehrers besteht in der Forderung, die Schüler über die angemessene Vermittlung bestimmter Wissensinhalte zu aufgeklärten, mündigen Menschen zu erziehen.

Das Ethos des Busfahrers liegt in der Verantwortung für seine Passagiere, die er ungefährdet an ihr Ziel zu bringen hat.“ (Pieper 2007, 35)

 

Exkurs 1.3:

Viele Organisationen und Unternehmen geben sich einen ethischen Code, um das Verhalten ihrer Mitglieder zu regeln. 2001 hat der Europäische Rat eine Empfehlung unter dem Titel The European Code of Police Ethics mit 66 Punkten verfasst. Folgende generelle Prinzipien zu polizeilicher Intervention (Punkte 35-46) sind dort zu lesen (Übersetzung WK):

„35. Die Polizei, und alle polizeiliche Operationen, müssen jedermanns Recht zu Leben respektieren.

  1. Die Polizei darf unter keinen Umständen Folter, unmenschliche oder degradierende Behandlung oder Bestrafung zufügen, einleiten oder tolerieren.
  2. Die Polizei darf Gewalt nur anwenden, wenn es absolut notwendig ist und nur in dem Maße, in dem sie erforderlich ist, um legitime Ziele zu erreichen.
  3. Die Polizei muss sich stets der Gesetzmäßigkeiten ihrer beabsichtigten Aktionen versichern.
  4. Polizeiliches Personal soll Befehle seiner Vorgesetzten sorgfältig ausführen, doch es soll auch verpflichtet sein, die Ausführung von Befehlen zu unterlassen, die offensichtlich illegal sind und es soll darüber Bericht geben, ohne Sanktion befürchten zu müssen.
  5. Die Polizei soll ihre Aufgaben in fairer Weise erfüllen, insbesondere geleitet von den Prinzipien der Unparteilichkeit und Nicht-Diskriminierung.
  6. Die Polizei soll das individuelle Recht auf Privatheit nur beeinträchtigen, wenn es absolut notwendig ist und nur, um ein legitimes Ziel zu erreichen.

E

  1. Die Sammlung, Speicherung und der Gebrauch persönlicher Daten durch die Polizei soll in Übereinstimmung mit internationalen Datenschutzbestimmungen erfolgen und insbesondere nur in dem Maße erfolgen, wie es zur Erfüllung gesetzlicher, legitimer und besonderer Aufgaben erforderlich ist.
  2. Die Polizei soll sich in ihren Aktivitäten stets der für jedermann bestehenden fundamentalen Rechte bewusst sein, wie die Freiheit der Gedanken, des Gewissens, der Religion, des Ausdrucks, der friedlichen Versammlung, der Freizügigkeit und des friedlichen Genusses von Eigentum.
  3. Polizeiliches Personal soll integer und respektvoll gegenüber der Öffentlichkeit handeln und dabei besonders die Situation von Individuen, die zu gefährdeten Gruppen gehören, berücksichtigen.
  4. Polizeiliches Personal soll sich während eines Einsatzes normalerweise in seinem polizeilichen Status und seiner beruflichen Identität ausweisen können.
  5. Polizeiliches Personal soll sich allen Formen von Korruption innerhalb der Polizei widersetzen. Es soll Vorgesetzte und andere mit Korruption befasste Instanzen innerhalb der Polizei informieren.“ (Council of Europe 2002)

Das Wort Beruf bedeutete ursprünglich: „persönliche Berufung […], die völlige Hingabe verlangt und dafür Erfüllung verspricht“ (Tenbruck 1995, 50). Zwar denken viele heute, dass die Erwerbsarbeit mit solchen anspruchsvollen Erwartungen nichts mehr zu tun hat, aber gerade solche Berufe, die mit großem persönlichen Einsatz, Verantwortung oder auch Gefahren verbunden sind, werden auch heute meist auf Grund einer bestimmten inneren Einstellung gewählt. Feuerwehrmann, Entwicklungshelfer/in, Polizist/in, Lehrer/in, Ärztin oder Sozialarbeiter (um nur einige Beispiele zu nennen) wird man nicht, weil man einen Job sucht, sondern auf Grundlage von Lebensentscheidungen. Man braucht in der Ausbildung viel Ausdauer und muss sich einige Qualifikationsstufen erarbeiten. Eine Überzeugung, dass die mit dem Beruf verbundenen Aufgaben und Tätigkeiten grundsätzlich gut und gerecht sind, ist erforderlich – rein egoistische Motive reichen für solche Berufe nicht aus. Die Berufsentscheidung hat also in vielen Berufen tatsächlich mit moralischen Einstellungen zu tun.

Ethische Problemstellungen im Beruf

Eine Schwierigkeit im Berufsleben besteht in der Frage, wie sich die Wertvorstellungen, die in der Berufswahl entscheidend waren, in der konkreten Ausübungen des Berufes realisieren lassen – oder auch nicht. Frustration und Burn-out sind nicht selten Folgen davon, dass sich Erwartungen und Wirklichkeit in einem Beruf schlecht in Übereinstimmung bringen lassen.

In der Berufs- und Wirtschaftsethik werden folgende Punkte hervorgehoben, an denen sich ethische Fragen stellen:

Verantwortung und die Entpersonalisierung von Entscheidungen

Verantwortung zu übernehmen für das Unternehmen oder der Institution, für Mitarbeitern und Untergebene, für eine Aufgabe oder ein Projekt gehört zu den elementaren Voraussetzungen guten beruflichen Handelns. Für gewöhnlich kann Verantwortung nur einem Individuum zugeschrieben werden: jede und jeder einzeln muss Verantwortung übernehmen, damit eine Gruppe oder Institution als ganze verantwortlich agiert. Doch das einzelne Verantwortungssubjekt ist in vielen Berufsbereichen immer weniger gefragt: „Immer häufiger werden Entscheidungen […] von Gruppen getroffen und von Organisationen umgesetzt.“ (Zimmerli/ Assländer 1996, 302). Organisationen schreiben Abläufe vor, so dass der Einzelne darauf festgelegt wird, nur noch gegenüber den Vorschriften korrekt, nicht aber verantwortlich zu handeln.

Loyalität und moralische Verantwortung

Eine Systemlogik – in Wirtschaftsunternehmen die Logik des Marktes, in staatlichen Institutionen ‚Sachzwänge‘ und Verfahrensvorschriften – setzt sich an die Stelle der Verantwortung des Individuums. Daraus entsteht ein ethisches Dilemma: Einerseits ist es für den Erfolg und das Funktionieren des Betriebes erforderlich, dass sich Mitarbeiter loyal und regelgerecht verhalten. Sich loyal und regelgerecht zu verhalten gehört selbst zum Ethos des Berufes. Andererseits stehen die Logik des Marktes, die ‚Sachzwänge‘ und Verfahrensvorschriften indifferent (gleichgültig) gegenüber moralischen Aspekten ihrer Prozesse. Das verantwortliche Individuum findet sich im Beruf deshalb immer wieder in Situationen von Zerreißproben zwischen moralischer Verpflichtung und moralischen Ansprüchen der jeweiligen Situation.

Eine Reaktion auf dieses Dilemma kommt aus dem ordnungstheoretischen Ansatz der Wirtschaftsethik. Karl Homann schlägt vor, zwischen ‚Spielzügen‘ und Spielregeln‘ zu unterscheiden. Während die einzelnen Aktionen eines Berufstätigen innerhalb der Logik und Vorschriften seines Arbeitsgebietes ‚Spielzüge‘ darstellen, bilden diese Logik und Vorschriften die ‚Spielregeln‘, die das Handeln leiten. Daraus leitet Homann einen ethisches Prinzip ab: „Es ist die Pflicht jedes Wirtschaftssubjekts zu versuchen, an einer Änderung der Spielregeln mitzuwirken.“ (Hormann 1996, 314) Tatsächlich kann man erwarten, dass sich Situationen von Zerreißproben entschärfen, wenn das handelnde Individuum Möglichkeiten sieht, die Regeln, nach denen es sich in seinem Beruf zu richten hat, mitzugestalten und zu verändern. Tritt beispielsweise immer wieder das Problem auf, dass durch konformes Handeln Menschen benachteiligt oder unnötig in Schwierigkeiten gebracht werden, dann sollte die Möglichkeit gegeben sein und die Anstrengung unternommen werden, die Form des Handelns, also seine Vorschriften und Regelungen, zu ändern. Dieses ethische Gebot betrifft jeden Berufstätigen. Am stärksten aber ist hier das Leitungspersonal gefordert: Gemäß einer „Führungsethik“ hat das Leitungspersonal „Anreizsysteme“ für moralisches Verhalten der Mitarbeiter zu schaffen und auch „Instanzen, bei denen [die Mitarbeiter] gegen amoralische Unternehmenspolitik appellieren können.“ Eine Voraussetzung dafür ist „Transparenz“, die „durch offene Informationsstrukturen im Unternehmen und durch gegenläufige Informationsströme erreichen“ läßt. (Zimmerli/ Assländer 1996, 330f.).

Recht und Moral im Beruf

Auch in der Wirtschafts- und Berufsethik wird herausgestellt, dass das positive Recht allein keinen ausreichenden Rahmen für ethisches Handeln bereitstellen kann. Für Wirtschaftsunternehmen wird festgestellt: „Handlungen im ökonomischen Kontext können zwar entsprechend der geltenden Gesetzeslage legal sein, aber trotzdem gegen moralische Prinzipien verstoßen, also illegitim sein.“ (Zimmerli/ Aßländer 1996, 315). Gleiches gilt für nicht-wirtschaftliche Institutionen und Berufsfelder. Rechtliche Bestimmungen und Verfahrensvorschriften allein reichen nicht aus, um verantwortliches und moralisch legitimes Handeln zu gewährleisten. Ethische Diskussionen und die Formulierung, Weiterentwicklung und Überarbeitung von ethischen Leitlinien und Ethikkodizes werden darüberhinaus benötigt, um moralische Sensibilität und Verantwortung in Unternehmen und Institutionen zu kultivieren.

K

Kontrollaufgabe 1.3

Nennen Sie vier Punkte aus dem European Code of Police Ethics (siehe Exkurs 1.3), an denen Ermessensspielräume bestehen und daher ethische Verantwortung in besonderer Weise zum Tragen kommt.

Punkte 37, 39, 41, 42

 

1.5      Ethische Theorien

Im Folgenden werden Sie nun drei Typen von Ethik kennenlernen: (1) Utilitarismus, (2) Deontologie und (3) kompetenz- und situationsbezogene Ethiken.

Utilitaristische Ethik

Der Name Utilitarismus leitet sich vom lateinischen Wort für Nutzen ab. Eine utilitaristische Ethik ist also eine nutzenorientierte Ethik. Die Orientierung am Nutzen bedeutet im Utilitarismus aber nicht, dass jeder nur egoistisch seine eigenen  Vorteil zu suchen hätte. Utilitarismus beruht vielmehr auf der Idee des größten Nutzens für die größte Zahl. Was maximiert werden soll, ist nicht der Eigennutz, sondern die Summe des Wohlergehens in einer Gesellschaft.

Exkurs 1.4

„Das ‚great happiness‘-Prinzip (s. d.) findet sich schon bei BECCARIA, HUTCHESON, besonders aber bei dem systematischen Begründer des Utilitarismus (im engeren Sinne), J. BENTHAM. Zweck, Ziel des sittlichen Handelns ist die Maximierung der Glückseligkeit, das größtmögliche Glück der größtmöglichen Anzahl, ‚the greatest happiness of the greatest number‘, ‚the greatest possible quantity of happiness‘ (Introd. II, ch. 17, p. 234. Deontolog.. Traité de la législat. civile et penale, 1802). […] Das Interesse der Gemeinschaft ist ‚the sum of the interest of the several members who compose it‘ (l. c. p. 4 ff.).“ (Eintrag ‚Utilitarismus‘ in: Eisler 1904)

E

Eigennutz und Gesamtnutzen sind im Utilitarismus aber nicht leicht zu trennen und es kommt hier oftmals zu Missverständnissen. Denn tatsächlich hat der Utilitarismus das konkrete, einzelne Individuum im Blick: dessen Wohlergehen ist der Betrag, der in die Gesamtsumme des gesellschaftlichen Glücks eingeht. So kann es scheinen, als ob das Streben nach individuellem Glück zugleich das ethisch Gebotene wäre: ‚Geht es mir besser, dann trage ich mehr zur Summe des Gesamtglücks bei, also ist diese Summe größer‘, so ist Mancher versucht zu denken. Doch die Steigerung des eigenen Wohlergehens geschieht oft auf Kosten des Wohlergehens und der Entfaltungsmöglichkeiten anderer. An dieser Stelle beginnen die Schwierigkeiten einer utilitaristischen Ethik. Um den ethischen Wert einer Handlung bestimmen zu können, müssten die Vor- und Nachteile für alle möglicherweise Betroffenen, auch die, die in Zukunft davon betroffen sein könnten, sorgfältig abgewogen werden. Das aber ist außerordentlich schwierig und gelingt nur so weit, wie sich die Folgen durch Erfahrung und Menschenkenntnis tatsächlich einschätzen lassen.

Der Utilitarismus ist eine Lehre, die sich im 18. Und 19. Jahrhundert in England entwickelte. Der Hintergrund dieser Lehre ist die Welt des kaufmännischen Bürgertums, in der man gewohnt war, Gewinn- und Verlustrechnungen aufzustellen. Entsprechend ist die utilitaristische Ethik eine Ethik, die auf einem Kalkül beruht: Man glaubt, berechnen zu können, was als Endsumme zu erwarten ist, wenn man die glücks- und die leidfördernde Konsequenzen einer Handlung miteinander verrechnet. Daraus spricht „eine Zuversicht, der wir heute, nach vielen gescheiterten Versuchen, auch nur für den Bereich der vergleichsweise leicht zu erfassenden wirtschaftlichen Güter ein gesellschaftliches Wohlfahrtsmaximum zu bestimmen, weitaus skeptischer gegenüberstehen“ (Birnbacher 1976, 199).

Trotzdem hat der Utilitarismus einige Plausibilität für sich. Wenn auf der Insel der Schiffsbrüchigen beispielsweise einer sagte, „lasst uns sehen, dass sich die Situation für möglichst viele von uns möglichst verbessert“, dann könnte er damit durchaus auf Zustimmung stoßen. Das Problem des Utilitarismus zeigt sich, wenn das Kalkül zur Erhöhung des Gesamtwohlergehens radikal und über alle sonstigen Wertvorstellungen hinweg durchgesetzt wird. Warum soll man – nach diesem Kalkül – nicht Alte und Kranke ausstoßen, wenn die Mühe der Pflege größer scheint als das Wohlergehen, das sich damit noch erreichen lässt? Solche Probleme treten auf, wenn der Wert des Lebens nicht an sich als Wert gilt, sondern nur in Hinsicht auf einen Gesamtnutzen. Ebenso ist es schwierig, Fragen der Gerechtigkeit utilitaristisch zu behandeln: „Das Prinzip der Nutzenmaximierung sagt nichts über die Kriterien der Nutzenverteilung. Es lässt offen, in welchem Maße [und nach welchem Kriterium, WK.] der einzelne an dem ‚Glück der größten Zahl‘ teilhaben soll: nach seinem moralischen Verdienst, nach der von ihm erbrachten Leistung, nach der subjektiven Anstrengung, die diese ihn gekostet hat, oder nach dem Prinzip der Gleichverteilung“ (Birnbacher 1976, 202).

Der Utilitarismus hat sich in Reaktion auf solche Probleme weiter entwickelt und ist heute in ein Bündel ethischer Theorien aufgefächert. In seiner jüngeren Ausprägung unterscheidet der Utilitarismus zwischen dem Primärprinzip der Nutzenmaximierung und Sekundärprinzipien, nämlich denen der alltäglichen moralischen Praxis. Normalerweise handeln und entscheiden wir demnach gemäß alltäglicher moralischer Regeln, das Nutzenprinzip dient lediglich dazu, solche moralischen Regeln auf ihren ethischen Wert hin zu prüfen.

Deontologische Ethik

 

Damit nähern sich utilitaristische Ethiktheorien einem anderen Ansatz an, der für gewöhnlich als Gegenentwurf beschrieben wird: dem der deontologischen Ethiken. Das Wort deontologisch kommt vom altgriechischen Wort to deon, was ‚die Pflicht‘, ‚das Schickliche‘ bedeutet. Deontologische Ethiken bezeichnet man deshalb auch als Pflichtenethiken.

Im Kern unterscheidet sich deontologische Ethiken von utilitaristischen Ethiken darin, dass sie moralische Gebote als in sich selbst verbindlich betrachten. Utilitaristen rechtfertigen moralische Regeln dadurch, dass sie zu etwas dienen (nämlich zur Steigerung des Gesamtnutzens). Anhänger der Deontologie behaupten dagegen, dass moralische Regeln nicht durch etwas anderes als durch eine Begründung im Moralsystem selbst gerechtfertigt werden dürfen. Sie sagen: Moralische Gebote sind in sich selbst verbindlich, nicht, weil sie zu etwas anderem gut oder nützlich sind. Anders gesagt: Nicht die Konsequenzen oder Ziele, die man durch moralisches Handeln verfolgt, sind entscheidend, sondern das Handeln in seiner Beschaffenheit selbst. Demgemäß unterscheidet man begrifflich konsequenzialistische bzw. teleologische Ethiken (auf Konsequenzen bzw. Ziele (telos = Ziel) bezogene Ethiken) von deontologischen Ethiken, die als nicht-konsequenzialistisch und nicht-teleologisch gelten.

Der Hauptvertreter einer deontologischen Ethik ist der Philosoph Immanuel Kant (1724-1804). Kant hat sich die Aufgabe gestellt, ein logisch durchdachtes ethisches System aufzubauen, in dem sich moralisches Handeln schlüssig rechtfertigen lässt. Den Kern dieses ethischen Systems bildet der berühmte kategorische Imperativ. ‚Imperativ‘ bedeutet eine ‚befehlende Formulierung‘ und ein ‚kategorischer Imperativ‘ ist ein Befehlsausdruck, „welcher eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung auf einen anderen Zweck, als objektiv notwendig vorstellte“ (Kant 242).

D

Definition 1.5

„Der kategorische Imperativ ist also ein einziger und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (Kant 1968 [1785], 421)

Eine Maxime ist ein Maßstab des Handelns. Der kategorische Imperativ sagt also nicht direkt etwas darüber aus, welches Handeln moralisch ist, sondern etwas darüber, wie der Maßstab beschaffen sein soll, nach dem zu handeln ist. Dabei ist der kategorische Imperativ so etwas wie ein Test: „Dieser Test prüft Maximen, d.h. subjektive Handlungsmaßstäbe, danach, ob sie damit vereinbar sind, daß andere Personen sich die gleichen Maximen zu eigen machen.“ (Nida-Rümelin 1996, 21) Der kategorische Imperativ stellt in Kants System die oberste Maxime dar. Er ist ein Maßstab, an dem sich alle anderen Maßstäbe zu orientieren haben. Allerdings ist er nicht nur allgemein gültig, sondern seine einzige inhaltliche Forderung ist die nach vollständiger Verallgemeinerbarkeit von Handlungsregeln: Der kategorische Imperativ fordert, dass jede Person ihre Maxime darauf hin prüft, dass sie sie nicht nur für sich selbst oder für seinesgleichen gelten lassen will, sondern für jede und jeden anderen auch. Der kategorische Imperativ stellt uns also jeweils vor die Frage: Kann ich meine Handlungsrichtlinie auch noch dann als gut befinden, wenn ich mir vorstelle, dass alle danach handeln?

E

In Kants ethischem System ist eine Handlungsrichtlinie also dann ethisch gerechtfertigt, wenn sie zugleich als allgemeines Gesetz gelten könnte. Das bedeutet, dass dieses System unabhängig davon, um welche moralische Frage es gerade geht, ein formales Kriterium für das ethisch Richtige bereitstellt: Ethisch gerechtfertigt ist eine Handlungsleitlinie dann, wenn sie vollständig verallgemeinerbar („universalisierbar“) ist. Dieser formale Charakter von Kants deontologischer Ethik erweist sich oftmals als Schwäche, wenn es um konkrete moralische Fragen geht.

Exkurs 1.5

„Wie stets wieder gegen Kant geltend gemacht wurde, reicht das formale Prinzip des kategorischen Imperativs […] zur Ableitung inhaltlich bestimmter moralischer Prinzipien nicht aus. […] Falls ich etwa materiell in so guten Verhältnissen lebe, daß ich auf die Hilfeleistung anderer nicht angewiesen bin, würde ich es mir diesem Kriterium zufolge durchaus zum Prinzip machen können, anderen in einer Notlage niemals beizustehen, da ich ja durchaus wollen kann, daß diese meine Maxime allgemein akzeptiert wird. Die bloße Verallgemeinerbarkeit meiner Maxime kann also keine hinreichende, sondern allenfalls eine notwendige Bedingung ihrer moralischen Gültigkeit sein; das heißt, alle Maximen, die als Pflichterfüllung gelten wollen, müssen dieses Kriterium erfüllen, aber daß sie es erfüllen, reicht nicht aus, um sie zu Pflichten zu machen. Kant scheint diese Unzulänglichkeit durchaus gesehen zu haben. Er hat nicht nur den kategorischen Imperativ in dessen späterer, abweichenden Formulierung ansatzweise inhaltlich eingegrenzt, sondern ihm darüber hinaus – ungeachtet seines formalistischen Programms – in den Diskussionen einzelner Beispielfälle inhaltliche Normen an die Seite gestellt wie etwa die, seine Talente auszubilden und sich in seinem Handeln mit der objektiven Zweckmäßigkeit der Natur in Einklang zu setzen.“ (Birnbacher 1976, 235)

 

kompetenz- und situationsbezogene Ethiken

 

Ein dritter Typ von Ethik unterscheidet sich von den beiden bisher besprochenen utilitaristischen und deontologischen Ansätzen dadurch, dass er nicht voraussetzt, dass sich moralische Fragen einem einzigen logischen oder berechenbaren System fügen. Ethische Konzeptionen von diesem dritten Typ „bestreiten […] gerade, dass es überhaupt möglich und sinnvoll ist, die Gesamtheit unserer berücksichtigungswerten moralischen Intuitionen und Argumente auf einen Nenner zu bringen, sie durch ein einziges übersichtlich konstruiertes Gedankenmodell zu fassen und an einem einzigen Moralprinzip zu orientieren.“ (Werner 2011, 191)

Ein Problem mit ethischen Systemen besteht darin, dass sie in Bezug auf konkrete Fragen oft zu einander widersprechenden Schlussfolgerungen kommen. Für viele Probleme in der Medizin-, Bio-, Sozial- und Medienethik entsteht dadurch die Situation, dass die Expertenmeinungen auseinandergehen und dass komplexe moralische Fragen „als unvereinbare Alternativen dargestellt“ werden (Badura 2011, 192). Praktikern, die „konkrete Hilfe zur moralischen Orientierung seitens der Ethik suchen“ (ebd.), ist damit kaum geholfen.

Eine Antwort auf diese Problematik könnte lauten: Die Idee, für moralische Probleme Entscheidungen aus logische Ableitungen oder Rechenkalkülen zu erhalten, ist an sich verfehlt. Es ist eine falsche Erwartung, dass sich Probleme komplexer Handlungssituationen, deren jede ja auch einzigartig ist, nach einem einheitlichen Schema, in einem einheitlichen System lösen lassen.

Diese Antwort verbindet ethische Ansätze miteinander, die sich als Kompetenz- und situationsbezogene Ethiken bezeichnen lassen.

D

Definition 1.5

Kompetenz- und situationsbezogenen Ethiken sind dadurch charakterisiert, dass sie als Voraussetzung für moralisches Handeln eine Kompetenz (eine gut entwickelte Fähigkeit) ansehen und dass sie diese Fähigkeit als eine Fähigkeit verstehen, situationsbezogen im moralischen Sinne richtig zu handeln.

Während utilitaristische Ansätze auf den angelsächsischen Empirismus und deontologische Ansätze auf den deutschen Idealismus zurückgehen, haben kompetenz- und situationsbezogene Ethiken ihren Ursprung in der antiken Philosophie, insbesondere in der Philosophie des Aristoteles.

Tugendethik

 

Die Ethik des Aristoteles wird als eine Tugendethik verstanden. Tugenden sind Eigenschaften von Menschen, nicht von Handlungen. Das bedeutet, dass diese Form von Ethik weniger darauf hin angelegt ist, Handlungen kritisch einzuschätzen, vielmehr richtet sie sich direkt an Menschen. Und zwar mit zwei Aufforderungen: Erstens, sollten wir so handeln, wie unter ähnlichen Umständen ein tugendhafter Mensch handeln würde. Zweitens sind wir aufgefordert, unsere Anlagen zur Tugend, die jeder Mensch in sich trägt, möglichst umfassend zu entfalten. Die Tugendethik zielt also auf die Fähigkeit des Menschen, sich zu entwickeln und nach Besserem zu streben. In Bezug auf die Frage, was als Tugend angestrebt werden sollte, spricht Aristoteles von klassischen Werten wie Tapferkeit, Besonnenheit, Freigebigkeit, Sanftmut und Gerechtigkeit. Der eigentliche ethische Impuls kommt dadurch zustande, dass gemäß der Aristotelischen Ethik diese traditionellen Werte nicht einfach hingenommen werden, sondern im Sinne einer Lehre entwickelt werden, die die ‚richtige Mitte‘ sucht. Diese sogenannte Mesotes-Lehre besagt, dass wir uns darum bemühen sollten, zum Beispiel in der Tugend der Tapferkeit die richtige Mitte zwischen dem Extrem des draufgängerischen Leichtsinns und dem Extrem der unbegründeten Furchtsamkeit zu finden. Dabei zielt diese Lehre „nun aber gerade nicht darauf ab, dass man einen möglichst leidenschaftslosen Zustand erreichen sollte, sondern dass man die Leidenschaft auf die richtige Weise haben soll“ (Rapp in Handbuch, 74).

Moderne kompetenz- und situationsbezogene Ethiken

 

 

Eine ganze Reihe von modernen Ethiken bauen auf dem Aristotelischen Erbe auf. Insbesondere der Gedanke, dass zu moralischem Verhalten auch kulturelle Voraussetzungen, gute Vorbilder, gute Erziehung und die Anleitung zur Fähigkeit, im moralischen Sinne klug zu handeln gehört, haben moderne Tugendethik, hermeneutische Ethik, Klugheitsethik, Kommunitarismus und einige Formen der sprachanalytischen Ethik gemeinsam. Alle diese Ethikansätze gehen davon aus, dass sich nicht logisch ableiten, berechnen oder sonstwie vorschreiben lässt, was in einer Situation moralisch richtig ist, sondern dass es in der Ethik um die Frage gehen müsse, wie man Menschen in die Lage versetzt, moralisch orientiert zu handeln.

Der US-amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey hat in seinem Buch „Theory of  the Moral Life“ von 1908 eine Sichtweise, die für kompetenz- und situationsbezogenen Ethiken typisch ist, anschaulich formuliert:

E

„Ein moralisches Prinzip, wie etwa das der Keuschheit, das der Gerechtigkeit, das der  Goldenen Regel, gibt dem Handelnden eine Grundlage, ein spezielles Problem, das auftaucht, vor sich zu bringen und zu untersuchen. Es stellt ihm mögliche Aspekte einer Handlung vor Augen; es warnt ihn davor, eine zu kurz greifende oder einseitige Sicht bezüglich der Handlung einzunehmen. Es ökonomisiert seinen Denkprozeß, indem es ihn mit den Hauptaspekten ausstattet, hinsichtlich derer die Auswirkungen seiner Wünsche und Absichten zu bedenken sind; es leitet ihn in seinem Denken an, indem es ihn auf wichtige Erwägungen stößt, die ihm nicht entgehen sollten. Ein moralisches Prinzip ist also nicht ein Befehl, in einer bestimmten vorgegebenen Weise zu handeln oder darauf zu verzichten; es ist ein Werkzeug um eine spezielle Situation in ihrer Gesamtheit, und nicht nur durch die Regel als solche, zu analysieren.“ (Dewey 1996 [1908], 141; Übersetzung WK)

 

1.6      Ethischer Relativismus

Wir machen alltäglich die Erfahrung, dass es sehr unterschiedliche Auffassungen darüber gibt,  was in einer Frage moralisch richtig und moralisch verwerflich ist. Teilweise unterscheiden sich die Auffassungen anderer von unseren eigenen sogar so tiefreichend, dass sie nicht nur in einer Sache zu anderen Schlüssen führen, sondern dass ihnen offenbar ganz andere Annahmen, was wichtig und was wertvoll ist, zu Grunde liegen. Es gibt offenbar verschiedene Systeme moralischer Werte und Richtlinien, in denen sich unterschiedliche Menschen orientieren.

Einige Ansätze der philosophischen Ethik bestehen in dem Versuch, diese Vielfalt einem rationalen oder logischen Kalkül zu unterwerfen. Sie zielen darauf, Formen des ethischen Argumentierens, Begründens und Ableitens zu entwickeln, so dass sich wohl begründete von schlecht begründeten moralischen Urteilen unterscheiden lassen. Dagegen ist aber eingewandt worden, dass rein formale Richtigkeit die Gültigkeit eines moralischen Urteils nicht sicherstellt. Wenn solche ethischen Begründungen aber inhaltliche Komponenten enthalten, so sind sie selbst schon bestimmten moralischen Voraussetzungen und Wertsystemen geschuldet. Jedes moralische Urteil steht immer schon unter bestimmten Voraussetzungen, ist immer schon bezogen – „relativ“ – zu bestimmten moralischen Werten. Entsprechend lautet die Grundthese des ethischen Relativismus:

D

Definition 1.6

Der ethische Relativismus ist durch folgende Überzeugung definiert: „Es gibt keine allgemeinverbindlichen Urteile darüber, was moralisch richtig oder falsch ist.“ (Hoerster 1976, 24).

 

Allerdings lässt sich diese Grundthese in sehr verschiedenen Weisen verstehen. Es ist zu unterscheiden zwischen moralischem Subjektivismus, ethischem Kulturrelativismus und dem Problem multikultureller Gesellschaften.

Moralischer Subjektivismus

Der moralische Subjektivismus geht davon aus, dass ethische Fragen in die Privatsphäre des je einzelnen Subjekts fallen. Demnach hätte jeder Einzelne seine eigenen moralischen Werte und Richtlinien, an denen er sich orientiert. Die Unmöglichkeit allgemeinverbindlicher Urteile wird hier so interpretiert, dass über das hinaus, wie der Einzelne seine Überzeugungen gewinnt und sein Handeln ausrichtet, keine verbindlichen Richtlinien geben kann.

Diese Position des moralischen Subjektivismus sieht sich mit zwei Einwänden konfrontiert:

  1. Die moralischen Richtlinien des Einzelnen entstehen stets in Übernahme und in Auseinandersetzung mit Werten, die in Familie, Schule, Freundeskreis, Beruf vermittelt werden. Kein Mensch entwickelt sich völlig isoliert von gesellschaftlichen Verbünden, die menschliche Entwicklung erfolgt als Sozialisation. Daher ist jede moralische Selbstverständigung, auch die Zurückweisung und Abgrenzung von den Werten der Eltern zum Beispiel, stets eine Antwort auf bestimmte, in einer Gesellschaft vermittelte moralische Richtlinien, keine Neuschöpfung nach bloß eigener Maßgabe.
  2. Da moralische Richtlinien in weiten Bereichen das Verhältnis und Verhalten zu anderen betreffen, stehen sie in ständigem Kontakt und Konfrontation mit den Richtlinien derer, die von diesem Verhalten betroffen sind. Ethische Auseinandersetzung und Abstimmung mit anderen, und damit eine Reflexion, die die eigene Privatsphäre überschreitet, läßt sich also gar nicht vermeiden.

 

K

Kontrollfrage 1.4

Von ‚Racial Profiling‘ wird gesprochen, wenn Personal von Polizei, Zoll oder anderen Sicherheitsdiensten Menschen einer bestimmten ‚Rasse‘, Ethnie, Kultur oder Religion pauschal kritischer inspiziert als andere Menschen. Ordnen Sie die folgenden vier Aussagen den vier Ethiktypen Utilitarismus, Deontologie, kompetenz- und situationsbezogene Ethiken und moralischem Subjektivismus zu.

(1) „Da tickt jeder Beamte anders. Wen er sich bei der Kontrolle herausgreift, muss jeder selbst entscheiden.“

(2) „‚Racial Profiling‘ ist nicht effektiv. Die Belastungen für die Betroffenen und der Schaden für das Vertrauensverhältnis zwischen bestimmten Bevölkerungsgruppen und Sicherheitspersonal ist viel größer als der Sicherheitsgewinn, der sich durch Kontrollen auf Grund von pauschalem Verdacht erreichen läßt.“

(3) „Es ist für mich ein hoher Wert, Menschen vorurteilsfrei gegenüber zu treten, unabhängig davon, welchen ersten Eindruck ich habe. In vielen Momenten muss ich aber spontan entscheiden. Es wäre gut, noch besser darin geschult zu werden, Vorurteile von begründeten Verdachtsmomenten zu unterscheiden.“

(4) „Aus dem Prinzip der Gleichheit und dem Verbot jeglicher Diskriminierung, wie sie auch im Grundgesetz und im internationalen Recht verankert sind, leitet sich ab, dass ‚Racial Profiling‘ ethisch nicht zu befürworten ist.“

(1) moralischer Subjektivismus, (2) Utilitarismus, (3) kompetenz- und situationsbezogene Ethiken, (4) Deontologie

 

ethischer Kulturrelativismus

Vom moralischen Subjektivismus ist der ethische Kulturrelativismus zu unterscheiden. ‚Kulturrelativismus‘ bedeutet, dass unterschiedliche Kulturen unterschiedliche Ideen- und Handlungssysteme entwickeln, die sich nicht auf eine einheitliche Grundstruktur von logischer oder natürlicher Ordnung zurückführen lassen. ‚Ethischer Kulturrelativismus‘ bedeutet, dass auch die moralischen Werte in unterschiedlichen Kulturen je eigene Ordnungen bilden, die die Richtlinien für das Handeln in den jeweiligen Kulturen bilden. Es gibt demnach keine für alle Menschen gleichermaßen gültige – „universale“ – moralische Prinzipien, die moralische Prinzipien hängen von der jeweiligen Kultur ab.

Die beiden Einwände, die gegen den moralischen Subjektivismus vorgebracht werden, betreffen den ethischen Kulturrelativismus offenbar nicht. Der ethische Kulturrelativismus geht ja gerade davon aus, dass moralische Richtlinien ein gemeinschaftlich geteiltes Gut sind, das sich im Zusammenleben entwickelt und darin Gültigkeit gewinnt.

E

Gegen den ethischen Kulturrelativismus wird häufig der Einwand erhoben, dass er eine allgemeingültige Aussage voraussetze, die er gerade negiere. So sei die Forderung, andere Kulturen seien in ihren anderen Maßstäben zu tolerieren, „selbst eine universal gültige Norm, aber die Existenz solcher universeller Normen wird von den Relativisten ja gerade bestritten.“ (Rippe 2011, 482) Es ist allerdings fraglich, ob sich Kulturrelativisten tatsächlich auf universale Allgemeinaussagen festlegen lassen. Den meisten Kulturrelativisten geht es weniger um die (tatsächlich universalistische und problematische) Behauptung, alle Kulturen seien prinzipiell verschieden, sondern darum, einzelne Handlungs- und Sichtweisen im Zusammenhang mit der Kultur zu verstehen, in der sie stehen.

Exkurs 1.7

Ein Beispiel, wie unterschiedlich eine Handlung zu interpretieren sein kann, wenn man sie in ihrem kulturellen Zusammenhang betrachtet, gibt der amerikanische Philosoph Richard B. Brandt in seinem Text „Drei Formen des Relativismus“ von 1961:

„Die Römer waren der festen Überzeugung, es sei verwerflich, seinen Vater zu ermorden und sahen die furchtbarsten Strafen für den vor, der dieses Kapitalverbrechen verübte. Die Römer würden sicher erklärt haben: „Es ist falsch, seinen Vater zu töten.“ Andererseits gab es primitive Stämme, bei denen es zu den Sohnespflichten gehörte, seinen Vater zu töten. Angenommen, wir sprächen mit einem Südseebewohner, in dessen Stamm es üblich ist, daß der Sohn den Vater an dessen 60. Geburtstag lebendig begräbt, und zwar ohne Rücksicht auf dessen Gesundheitszustand. Vermutlich würde dieser Südseebewohner sagen: „Es ist richtig, seinen Vater zu töten.“ Nun stellt sich die Frage, ob es sich hier um einen Unterschied in den grundlegenden moralischen Axiomen handelt. Möglicherweise, aber nicht unbedingt. Gewiß wird Vatertötung gegensätzlich beurteilt. Aber hat die Tötungshandlung dieselbe Bedeutung für beide? Nicht in jeder Beziehung. Der Südseebewohner mag etwa der Meinung sein, der Körper seines Vaters werde im nächsten Leben dieselbe Gestalt behalten wie im Zeitpunkt des Todes. Unter diesen Umständen erscheint es ratsam, aus dem Leben zu scheiden, bevor der Körper von Schwäche befallen wird. Dem Römer dagegen mag diese Überzeugung über das Jenseits fehlen; er glaubt vielleicht überhaupt nicht an ein Leben nach dem Tode. So redet der Südseebewohner über das Lebendigbegrabenwerden seines Vaters, der in der nächsten Welt in einer bestimmten körperlichen Verfassung existieren wird, der Römer aber nicht. Hier schiene es mir nur verwirrend zu sagen, zwischen dem Römer und dem Südseebewohner bestünde ein Gegensatz in grundlegenden moralischen Axiomen. Denn die moralischen Bewertungen der beiden beziehen sich nicht eigentlich auf dieselbe Handlung, das heißt auf eine Handlung, die für beide genau die gleiche Bedeutung hat. (Brandt 1961, 45)

 

kulturelle Vielheit

Der ethische Kulturrelativismus ist da von besonderer Bedeutung, aber stößt auch an Gren-zen, wo es um das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Kulturen geht. Es stellt sich hier die Frage, inwieweit eine Gesellschaftsordnung eine Ausrichtung des Handelns an kulturell geprägte Handlungsrichtlinien ermöglichen kann bzw. muss. Eine Extremposition wäre hier ein Relativismus, der jede Handlungsweise, sofern sie sich auf eine kulturelle Tradition berufen kann, als prinzipiell legitim ansehen würde. Der extreme Gegenpol bestünde in der Auffassung, dass ein bestimmtes Moralsystem, etwa weil es das „rationalste“, das „fortschrittlichste“ oder das schlicht das „hier etablierte“ sei, bei allen Mitgliedern einer Gesellschaftsordnung durchzusetzen sei.

E

Als Beispiel für einen differenzierten Zugang zu ethischen und rechtlichen Fragen unter Bedingungen kultureller Vielheit lesen Sie die im Folgenden abgedruckten Ausschnitte aus einem Artikel des ehemaligen Verfassungsrichters Dieter Grimm und beantworten Sie die Fragen zu diesem Text.

Exkurs

„[Das] Grundgesetz [ist] eine Verfassung, die sich zu Toleranz, auch zu Toleranz gegenüber kultureller Andersartigkeit, bekennt. Zu seinen maßgeblichen Prinzipien gehören die in der Menschenwürde wurzelnde Gleichheit aller, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Freiheit der Meinung und der Kunst, die Freiheit, sich zu versammeln und Vereinigungen zu bilden. Kurz: Meinungsunterschiede, Pluralität von Religionen und Weltanschauungen, kulturelle Vielfalt sind nach der Verfassung legitim; Andersartigkeit muss im Prinzip ertragen werden. Jeder kann seine Lebensform wählen und seine Auffassung vertreten. Jeder kann auch andere Auffassungen und Lebensformen ablehnen, nicht aber ihr Existenzrecht verletzen. Der Staat hat die Freiheit aller zu garantieren und darf für keinen Partei ergreifen. […]

Das heißt aber nicht, dass der Einwanderer […] der einheimischen Bevölkerung seine kulturellen Eigenheiten aufnötigen darf. Ebenso wenig heißt es, dass er auf die Überzeugungen und Gewohnheiten der einheimischen Bevölkerung keine Rücksicht nehmen muss. Das Grundgesetz ist nicht wertneutral, sondern auf den Wert der Menschenwürde und die daraus folgenden Grundsätze individueller Selbstbestimmung und gleicher Freiheit gegründet. […]

Das Grundgesetz geht davon aus, dass sich die Freiheit aller nur garantieren lässt, wenn keine einzelne Freiheit unbegrenzt ist. Da jede Freiheit, auch die religiöse, in Konflikt mit anderen Freiheiten oder derselben Freiheit anderer geraten kann, sind gesetzliche Beschränkungen zur Verhütung von Freiheitsmissbrauch und zur Wahrung wichtiger Gemeinschaftsgüter nötig und zulässig. Sie gelten grundsätzlich für alle, die sich auf das Gebiet der Bundesrepublik begeben, ungeachtet ihrer kulturellen Herkunft. Die Frage ist nur, ob bei einem Konflikt zwischen einer fremden Kultur und der deutschen Rechtsordnung die Verfassung Ausnahmen von Freiheitsbeschränkungen zulässt oder gar gebietet. Es geht also um das Verhältnis von Einheit und Differenz, Gleichheit und Dispens, das bei jedem Zusammentreffen unterschiedlicher Kulturen nach Klärung verlangt. […]

Im Bereich der Ausnahmen von allgemein geltenden und an sich wohl begründeten Regelungen zugunsten kultureller Minderheiten ist der Toleranzspielraum größer, als gewöhnlich angenommen. So sollte niemand an der Erfüllung religiöser Pflichten nur deswegen gehindert werden, weil sich die einheimische Bevölkerung durch die Fremdartigkeit des Verhaltens irritiert zeigt oder allein an dem Vorhandensein von Ausnahmen Anstoß nimmt. […]

Solche Ausnahmen sind auch keineswegs eine Neuigkeit. Die Rechtsordnung ist vielmehr voll von Ausnahmen zugunsten bestimmter Gruppen: Jugendliche sind vom allgemeinen Strafrecht ausgenommen. Arbeitnehmer, die dem Betriebsrat angehören, fallen nicht unter das allgemeine Kündigungsrecht. Beamte werden von der gesetzlichen Altersversicherung ausgenommen. Arme Menschen sind von der Bezahlung der Rundfunkgebühr befreit, Priester von der Wehrpflicht. Der gesellschaftliche Zusammenhalt oder die Rechtstreue der Bevölkerung haben darunter nicht gelitten. Es bedarf der Einsicht, dass kulturelle Unterschiede ebenso gute Gründe für Befreiungen sein können. […]

Was für Ausnahmen von allgemeinen Verboten gilt, muss jedoch nicht für Ausnahmen von allgemeinen Erlaubnissen gelten. Dort ist der Spielraum für Toleranz in der Regel geringer. Jede Begrenzung der allgemeinen Freiheitssphäre zugunsten der kulturellen Identität einer Minderheit kann für das einzelne Mitglied dieser Minderheit einen erheblichen Freiheitspreis haben. In den USA stellte sich die Frage, ob die Mitglieder der religiösen Gruppe der Amish ihre Kinder in den beiden letzten Jahren der Schulpflicht in eine öffentliche Schule schicken müssen oder ob sie davon zu entbinden seien. Nach Ansicht der Amish wurden ihre Kinder in öffentlichen Schulen zu Werthaltungen und Lebensweisen erzogen, die den eigenen krass widersprechen. Der Supreme Court erkannte dieses Argument an, weil die Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht für die Gruppe identitätsvernichtendes Gewicht hätte. In Deutschland sind Schulpflichtfälle anders entschieden worden. Allerdings wäre wohl auch die US-Entscheidung anders ausgefallen, hätten nicht die Eltern gegen, sondern Amish-Schüler für die Ausbildung in einer öffentlichen Schule gestritten.

Das gilt erst recht, wollte eine Minderheit zur Wahrung ihrer kulturellen Identität ihren Mitgliedern Verhaltensweisen verbieten oder aufnötigen, die gerade den fundamentalen Freiheits- und Gleichheitsverbürgungen der einheimischen Rechtsordnung entgegenstehen. Die Gesellschaft ist nicht gezwungen, zur Anerkennung fremder kultureller Identität die eigene Identität aufzugeben. Im Bereich der Gleichberechtigung werden sich dafür besonders viele Beispiele finden. Die Zwangsverheiratung von Mädchen, rituelle Verstümmelungen, Ausschluss von höherer Bildung, aber auch entehrende Strafen oder Meinungs- und Informationsverbote dürfen daher selbst dann nicht toleriert werden, wenn sie religiöse oder sonstige kulturelle Wurzeln haben. Nicht alle Kulturkonflikte lassen sich harmonisch lösen. In bestimmten Kernbereichen bleibt nur die Alternative von Anpassung oder Wegzug.“ (Grimm 2000)

 

 

1.7       Technikethik

Neue ethische Herausforderungen durch Technik

 

 

Bisher haben wir hauptsächlich ethische Fragen in den Blick genommen, wie sie sich im unmittelbaren Umgang der Menschen miteinander stellen: Was ist gut und gerecht in der Verteilung von Gütern, in der Erfüllung beruflicher Aufgaben, im Verhältnis zu Hilfs- und Schutzbedürftigen, in der Beziehung zu kulturell Andersdenkenden. Eine neue Dimension ethischer Problemstellungen tritt hervor, wenn in einer Gemeinschaft Technik zum Einsatz kommt. Ein Angelhaken, ein hochseetaugliches Boot oder ein Pflug ist nicht nur ein Gut, für das sich die Frage stellt, wie die Teilhabe an diesem Gut in einer Gemeinschaft moralisch richtig zu regeln ist, sondern es ist zugleich ein Potenzial: Ein solches Instrument verschafft denjenigen, die darüber verfügen und damit umzugehen wissen, eine Produktivität und Handlungsspielräume, über die die anderen nicht verfügen. Dies wäre unproblematisch, wenn der Vorteil, der durch Technik erlangt wird, sich stets und gleichmäßig als Vorteil für alle auswirken würde. Doch die technischen Mittel, die die einen einsetzen, können sich auch zum Nachteil für andere auswirken: Neue Fortbewegungsmittel, chemische Stoffe, Herstellungstechniken stellen zwar häufig Verbesserungen innerhalb eines technischen Aufgabenbereichs dar, bedeuten aber zugleich neue Gefahren für Betroffene, die nicht unbedingt zugleich – oder in gleichem Maße – davon profitieren. Mit neuen technischen Anlagen können zwar neue Produkte hergestellt und auf den Markt gebracht werden, sie können aber zugleich – etwa durch Verschmutzung von Luft, Böden und Wasser, durch Lärm und Gesundheitsgefährdung, durch Verbrauch an Land und Ressourcen, durch Zerstörung von natürlichen Lebensräumen andere in ihren Handlungsmöglichkeiten einschränken, ihnen sogar die Lebensgrundlage entziehen.

Technik ist zu einem zentralen Thema aktueller Ethik geworden, weil die mit ihr verbundene Steigerung von Möglichkeiten und Effekten auch die Konflikte verschärft, die zwischen den Handlungsweisen verschiedener Akteure entstehen können. Vor- und Nachteile, Wirkungen, Neben- und Langzeitwirkungen müssen hinsichtlich der Frage, was gut und gerecht ist, immer wieder neu verhandelt und ausbalanciert werden.

Technik wird also zu einem ethischen Problem vor allem dann, wenn Technik neue Situationen schafft und die Voraussetzungen für Handeln und Leben verändert. Entsprechend wird der Technikbegriff der Technikethik so definiert, dass er in erster Linie auf dieses Veränderungspotenzial von Technik zielt.

D

Definition 1.7

Der Technikbegriff der Technikethik: „Der dabei zugrunde gelegte Technikbegriff bezieht sich in der Regel auf neue Techniken, Technologien oder Großtechnologien, die entweder moralische Fragen aufwerfen, zu deren Beantwortung die gesellschaftlichen Üblichkeiten nicht hinreichen, oder die zu moralischen Konflikten führen.“ (Grunwald 2011, 284)

Antworten auf Einwände gegen Technikethik

Technikethik spielt in der dynamischen technischen Entwicklung moderner Gesellschaften eine wachsende Rolle. Jedoch ist in den diesbezüglichen Debatten nicht unumstritten, ob Technik überhaupt sinnvollerweise Gegenstand der Ethik sein kann. Es sind vier Annahmen, die den Sinn einer Technikethik in Frage stellen und gegen die sich das Unternehmen einer Technikethik behauten muss:

  1. Ein Fortschrittsglaube, demgemäß alle Technik stets letztlich dem Menschen dient. Wäre dies zutreffend, wäre Technik an sich gut und gerecht und ethische Debatten über Technik erübrigten sich. Aus Sicht der Technikethik stellt sich eine solche Annahme als unhaltbar naiv und dogmatisch dar.
  2. Eine generelle Technikfeindlichkeit, der gemäß alle Technik grundsätzlich von Übel ist. Auch hier erübrigte sich jegliche differenzierende Reflexion; allerdings aus ebenso wenig überzeugenden Gründen wie in Annahme (1).
  3. Eine Sichtweise, die Technik als naturwüchsige, schicksalhafte Entwicklung betrachtet: Technik entwickelte sich gemäß dieser Annahme nach Gesetzmäßigkeiten, die unveränderlich und daher der Gestaltung entzogen sind. Eine gewisse Plausibilität erhält diese Sichtweise durch die Tatsache, dass technische Entwicklung insgesamt voranschreitet, ohne dass sie einem bestimmten Plan oder vorgegebenem Programm folgt. Allerdings ist der Schluss auf die Unveränderlichkeit und Nichtgestaltbarkeit bestimmter technischer Entwicklungen aus Perspektive der Technikethik ein Fehlschluss. Auch Naturprodukte, die ohne menschliches Zutun entstanden sind, werden der Um- und Verarbeitung unterworfen. Wie könnte dann Technik, die ohne menschliche Gestaltung gar nicht entstünde, dem gestaltenden Zugriff entzogen sein?
  4. Die These von der Neutralität der Technik: Technik ist gemäß dieser Annahme ein neutrales Mittel: ein Messer kann dazu dienen, Brot zu schneiden oder dazu, einen Menschen zu ermorden. Daher seien nicht die technische Mittel, sondern nur die Zwecke, für die die Technik eingesetzt werde, Gegenstand ethischer Fragen. Aus Perspektive der Technik-ethik verkennt diese Sicht allerdings, wie technische ‚Mittel‘ auch unabhängig von ihren Zwecken Auswirkungen auf die Handlungsmöglichkeiten und Lebensbedingungen von Akteuren haben. Die scheinbare Plausibilität des Messerbeispiels kommt nur dadurch zustande, dass der moralisch richtig Umgang mit gefährlichen Gegenständen in Gesellschaften durch Erziehung und Sanktionen weitgehend gewährleistet wird. Es ist kein Zufall, dass es moralisch verwerflich erscheint, Kinder oder unberechenbare Personen mit gefährlichen Gegenständen auszustatten. Die scheinbare Neutralität von Mitteln erweist sich aus Perspektive der Technikethik als eine Neutralisierung schädlicher Potenziale, die gerade auf Moral und ethischer Reflexion beruht.

Zwei Schlüsselbegriffe der Technikethik sind Verträglichkeit und Verantwortung.

Verträglichkeit von Technik

Unter der Perspektive der Verträglichkeit ist neue Technik danach zu befragen, inwiefern sie „die Macht und das Wissen jedes Einzelnen vermehrt und ihm erlaubt, seine Kreativität zu betätigen, ohne damit notwendigerweise dem anderen diesen Spielraum zu verschließen.“ (Illich 1975, 13f.) Dabei lassen sich nach Hastedt fünf Dimensionen der „Auswirkungen und Voraussetzungen“ unterscheiden: Gesundheit, Gesellschaft, Kultur, Psyche, Umwelt. (Hastedt 1994, 74ff.; 94ff.) Das bedeutet, dass hinsichtlich der Verträglichkeit neuer Technik neben manifesten Effekten auf Umwelt und Gesundheit auch schwierigerer zu erfassende Auswirkungen im Feld des psychischen Wohlergehens und Feld des kulturellen Entfaltung zu berücksichtigen sind. Es stellt sich in Hinblick auf Verträglichkeit von technik nicht nur die Frage, welcher Einsatz welcher Technik moralisch richtig ist, sondern darüber hinaus: wie wirkt sich dieser Einsatz auf die Lebensqualität der direkt und indirekt Betroffenen insgesamt aus.

Folgende Abbildung zeigt einen Versuch des „Vereis deutscher Ingenieure“ (VDI), einige der für Technik relevanten Richtwerte in ihren Beziehungen untereinander darzustellen.

Abb. 1.1

 

Technik und Verantwortung

Ein zweites Grundthema der Technikethik ist mit dem Begriff Verantwortung verknüpft. Verantwortung ist ein dialogischer Begriff: Man ist für etwas „vor oder gegenüber jemandem“ verantwortlich. Verantwortlich zu sein unterscheidet sich vom Rechenschaft abgeben in einem persönlichen Autoritätsverhältnis (gegenüber dem Vorgesetzten; dem Lehrer, den Eltern o.ä.) dadurch, dass nicht der Wille oder die Anweisung der Autorität maßgeblich sind, sondern Verantwortung stets nur „aufgrund bestimmter normativer Standards“ (Werner 2011, 543) besteht. Verantwortung bezieht sich also darauf, was in ethischer Verhandlung als gut und gerecht bestimmt ist. Dabei kann Verantwortung nur zugeschrieben werden, insoweit eine Person (durch Handeln oder Unterlassen) Einfluss auf das hat, wofür sie sich zu verantworten hätte. Verantwortung reicht zunächst einmal nur so weit wie der Aktionsradius der Verantwortlichen.

Doch das einfache Entsprechungsverhältnis zwischen Aktionsraum und Verantwortung wird durch die Potenziale von Technik gesprengt. Ein Atomphysiker oder ein Molekularbiologe fühlt sich vielleicht nur für die sorgfältige Durchführung seiner Experimente verantwortlich. Doch was ist, wenn er dadurch die Technologie zur Konstruktion von Atombomben oder menschheitsgefährdende Viren bereitstellt? Der Philosoph Hans Jonas hat in seinem Buch „Das Prinzip Verantwortung“ auf diese Problemstellung reagiert, indem er den kategorischen Imperativ Kants neu formulierte.

E

Exkurs 1.9

Das Prinzip Verantwortung nach Hans Jonas:

„Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“. (Jonas 1979, 37)

Technik erhöht die Wirkungsmacht und Reichweite des Handelns – in manchen Fällen bis zur Gefährdung ganzer Lebensformen. Deshalb stellt sie uns vor die Aufgabe, in unserem Handeln nicht nur unmittelbare Folgen zu bedenken, sondern auch Fern-, Neben-  und Langzeitwirkungen.

In Bezug auf die Frage der Verantwortung hatte sich die Technikethik ursprünglich hauptsächlich als eine Ethik für das Handeln des Ingenieurs verstanden. Man konzentrierte sich auf die Frage, was es bedeutet, als Hersteller von Technik ethisch zu handeln. Doch Verantwortung für Technik besteht nicht nur bei den Herstellern, sondern ebenso bei den politischen und wirtschaftlichen Akteuren, die die Entwicklung von Technik fördern, sie regulieren und verbreiten. Und sie liegt auch auf Seiten der Nutzer, die Technik erwerben und einsetzen. Technikethik ist also mehr als eine Ethik des Ingenieurshandelns.

D

Definition 1.8

Technikethik ist die Verhandlung der Frage, welcher Einsatz, Förderung, Zulassung und Verbreitung von wie beschaffenen technischen Artefakten und Prozessen gut und gerecht sind und welche nicht.

 

1.8       Informationsethik

Informationsethik hat es zunächst einmal mit einer sehr allgemeinen Problemstellung zu tun. Denken wir zum Beispiel daran, wie schon der Erfolg von Jägern und Sammlern davon abhängt, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Kenntnisse darüber, wo gerade Nahrung zu finden ist, können von größter Bedeutung sein. Solche Kenntnisse werden an andere weiter gegeben, vorenthalten, verfälscht oder sie können gegen anderes eingehandelt werden. Information können wir als ein Gut ansehen, für das sich die Frage stellt, wie die Teilhabe an diesem Gut in einer Gemeinschaft geregelt ist. Für eine Gemeinschaft stellt sich die Frage, wer, wann und unter welchen Umständen über welche Informationen verfügen soll. Information kann Insider und Outsider schaffen, sie kann ein Instrument von Macht und Kontrolle ebenso wie von Beteiligung und Kooperation sein. Information kann schädlich wirken, überflüssig, verwirrend und zerstörend ebenso wie befreiend und orientierend. Alle Gesellschaften regeln deshalb Zugänge, Verteilungswege und Schranken in den Informationsflüssen. Und es ist offensichtlich, dass die Frage, wie solche Zugänge, Verteilungswege und Schranken eingerichtet werden sollen, nicht nur eine praktische Frage ist, sondern in hohem Maße eine Frage dessen, welche Form der Regelung jeweils gut und gerecht ist. Die Regelung von Information wirft eine Vielzahl moralischer Fragen auf. Zur Behandlung dieser Fragen bedarf es einer Disziplin der Aushandlung und Debatte. Diese Disziplin bildet ein Teilgebiet der angewandten Ethik, nämlich die Informationsethik. 

Informationsethik ist eine relativ junge Disziplin. Warum die Regelung von Informationsflüssen lange Zeit nicht als eigenständiges ethisches Problemfeld angesehen wurde, läßt sich leicht verstehen, wenn wir uns klar machen, dass bis zur Einführung moderner Kommunikationsmittel der Umgang mit Information stets eine Angelegenheit der persönlichen Interaktion war. Die Frage, wie mit Information umzugehen sei, war also gar nicht losgelöst von der Frage, wie man sich gut und gerecht im zwischenmenschlichen Verkehr überhaupt verhält.

Das begann sich zu ändern, als die Druckerpresse es ermöglichte, Schriftstücke in großer Zahl in Umlauf zu bringen, Bücher, und auch Flugblätter und Traktate. Die neuen technischen Möglichkeiten wurden im 16. Jahrhundert von reformerischen und revolutionären Kräften genutzt, während weltliche und kirchliche Machthaber auf Mittel zur Regulierung sannen. Der sogenannte Index, das ‚Verzeichnis der verbotenen Bücher‘ der katholischen Inquisition, wurde 1559, in unmittelbarer Folge der Einführung moderner Druckerpressen, erstmals erstellt. Auf der anderen Seite forderten Vertreter der Aufklärung freien Zugang zu Büchern für alle Menschen.

Radio und Fernsehen und schließlich das Internet multiplizierten die technischen Möglichkeiten der Beschaffung und Verbreitung von Information. Technik stellt auch hier ein Potenzial dar, das neue Dimensionen ethischer Fragestellung eröffnet. Je mehr durch technische Mittel Information potentiell immer und überall zur Verfügung steht, desto dringlicher stellt sich die Frage, wie die wirkliche Teilhabe an diesem Potenzial auf gute und gerechte Weise zu gewährleisten ist.

Definition 1.9

Einer der Hauptvertreter der Informationsethik, Rafael Capurro, definiert die Aufgaben der Informationsethik folgendermaßen:

„Informationsethik: 

– als deskriptive Theorie beschreibt die verschiedenen Strukturen und Machtverhältnisse, die das Informationsverhalten in verschiedenen Kulturen und Epochen bestimmen,

– als emanzipatorische Theorie befaßt sie sich mit der Kritik der Entwicklung moralischen Verhaltens im Informationsbereich. Sie umfaßt: individuelle, kollektive und menschheitliche Aspekte. Sie schließt normative Aspekte ein.“ (Capurro 2013)

 

Als eine Disziplin, die die Regelung des Umgangs mit Information kritisch reflektiert, ist die Informationsethik mit folgenden Themen befasst:

  1. Alle Formen der Beschränkung und tendenziösen Steuerung von Informationsflüssen: Die offensichtlichste Form einer solchen Einschränkung ist Zensur. Von Zensur zu unterscheiden sind Verfahren der Selektion. Selektion bedeutet die Auswahl von Information, ihre Zusammenstellung und Zugänglichmachung im Dienste bestimmter Gruppen, Institutionen oder Interessen. Dies geschieht stets auf Kosten anderer Information. Im Internet geht es hier auch um technische Verfahren des Filterns und Blockens, die auf Rating basieren. „Rating ist die Einschätzung und Bewertung von Informationsobjekten bezüglich der Qualität ihrer Inhalte“ (Kuhlen 2004, 197). Fragen, nach welchen Kriterien Information bereitzustellen oder vorzuenthalten ist, verbinden die Informationsethik mit den älteren Bibliotheks- und Informationswissenschaften, die eine ihrer Wurzeln darstellen.
  2. Fragen des geistigen Eigentums, Urheberrechts und der Beschränkung der Kopie und Weitergabe von Information: „Wem gehört Wissen? Wem gehört Information? Darf Wissen überhaupt jemandem gehören, wenn dadurch andere von der Nutzung der aus Wissen abgeleiteten Informationsprodukte ausgeschlossen werden?“ (Kuhlen 2004, 10)
  3. Fragen des Ausschlusses von Information auf Grund sozialer Benachteiligung: Diese Fragen werden mit Hilfe der Unterscheidung von Informationsreichtum („information rich“) und Informationsreichtum („information poor“) diskutiert. Faktoren für eingeschränkten Zugang zu Information können die Gesellschaftsschicht, aber auch Alter und die geographische, politische und ökonomische Situation des Wohnortes eines Informationsteilnehmers sein. Der Preis der erforderlichen technischen Geräte und die Anforderung an eine öffentliche Infrastruktur schließt beispielsweise viele Menschen in Entwicklungsländern von der Teilhabe am „World Wide Web“ aus.
  4. Fragen der Regulierung des Verhaltens im Internet, Selbstkontrolle, Moderation, Ethikkodizes und Verhaltensrichtlinien („Netiquette“). Die Internet Community entwickelt verschiedene Verfahren der Reflexion und Beeinflussung von dienlichem und schädlichem Verhalten im Internet. Die Informationsethik begleitet diese sich autonom weiter entwickelnden Regulierungen in Form kritischer Beobachtung und Kommentierung.

Näheres zu diesen Punkten erfahren Sie im Studienbrief (2.) „Informationsethik und Sicherheitsrationalität“.

 

K

Kontrollaufgabe 1.5

Geben Sie Beispiele, an welchen Punkten der vier genannten Themen der Informationsethik herkömmliche Werte berührt werden und an welchen Punkten sich ethische Probleme speziell aus den neuartigen Potentialen der Informationstechnik ergeben.

Herkömmliche Werte: z.B. Recht auf Information; freie Meinungsäußerung; Gleichbehandlung; Eigentum; Lohn für Arbeit; freie Verfügbarkeit von Wissen; Chancengleichheit; kulturelle Selbstbestimmung.

Neuartige Probleme: z.B. maschinelle, in Algorithmen manifestierte Selektion; digitales Kopieren; Kosten von Technik; infrastrukturelle Ungleichheit; Anonymität im Internet

 

 

1.9      Übungen

Ü

Übungen

  1. Folgende Fragen beziehen sich auf den Text von Dieter Grimm
    • In welchem Sinne lässt sich die Position des ethischen Relativismus mit dem Grundgesetz vereinbaren, gemäß der Darstellung von Dieter Grimm?
    • Nennen Sie Punkte, an denen das Grundgesetz die Orientierung an kulturellen Richtlinien beschränkt.
    • Wie unabhängig ist das Grundgesetz selbst von kulturellen Werten?
    • Welche Typen von Ethik können Sie in Grimms Argumentation ausmachen?
  2. Für folgende Übung nehmen Sie bitte Abb. 1.1 zur Hand. Abbildung 1.1 zeigt Relationen zwischen Richtwerten, die für Technik relevant sind.
    • Erläutern Sie in Bezug auf vier Relationen die jeweiligen Ziel-Mittel bzw. Konkurrenzbeziehungen.
    • Geben Sie Beispiele, unter welchen Umständen die erläuterten Ziel-Mittel-Beziehungen auch Konkurrenz beinhalten und wie Unvereinbarkeiten in Konkurrenzbeziehungen aufgelöst werden.

 

 

  I.         Literaturhinweise

 

Badura, Jens (2011): „Kohärentismus“. In: Marcus Düwell, Christoph Hübenthal und Micha H. Werner, Hg.: Handbuch Ethik (2., aktualisierte. u. erweiterte Auflage). Stuttgart/ Weimar: Metzler, S. 194-205.

Birnbacher, Dieter (1976): „Der Utilitarismus. Einleitung“. In: Ders. Und Norbert Hoerster, Hg.: Texte zur Ethik. (3. Auflage). München: dtv, S. 198-203.

Brandt, Richard B. (1961): Drei Formen des Relativismus; in: ders., Hg. Value and Obligation, New York, Hartcourt, Brace & World 1961, S. 433-440; hier zitiert  nach der Übersetzung von Herlinde Gindlhuber und Norbert Hoerster in: Dieter Birnbacher und Norbert Hoerster, Hg., Texte zur Ethik, München 1976, S. 45.

Capurro, Rafael, Klaus Wiegerling, Andreas Brellochs, Hg. (1995): Informationsethik. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz.

Capurro, Rafael (2013): Informationsethik. Einführung. Internetquelle: http://www.capurro.de/Ethik/ (15.Januar 2013).

Dewey, John (1996 [1908]): Theory of the Moral Life. New York: Irvington.

Duden online, Eintäge ‚Moral‘; ‚Recht‘ (http://www.duden.de/woerterbuch; 15.Januar 2013).

Eisler, Rudolf (1904): Wörterbuch der philosophischen Begriffe. 2. Bd. (2.,völlig neu bearbeitete Auflage). Berlin: Mittler.

Grimm, Dieter (2000): „Das Andere darf anders bleiben. Wie viel Toleranz gegenüber fremder lebensart verlangt das Grundgesetz?“. http://www.zeit.de/2000/08/200008.toleranz_.xml (letzter Zugriff 17.1.2013)

Grunwald, Armin (2011): „Technikethik“. In: Marcus Düwell, Christoph Hübenthal und Micha H. Werner, Hg.: Handbuch Ethik (2., aktualisierte. u. erweiterte Auflage). Stuttgart/ Weimar: Metzler, S. 283-287.

Hastedt, Heiner (1991): Aufklärung und Technik. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Hoerster, Norbert (1976): „Ethik und Moral“. In: Dieter Birnbacher und Norbert Hoerster, Hg.: Texte zur Ethik. (3. Auflage). München: dtv, S. 9-23.

Homann, Karl. und Franz Blome-Drees (1992): Wirtschafts- und Unternehmensethik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Illich, Ivan (1975): Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik. Reinbek: Rowohlt.

Jonas, Hans (1979): Das Prinzip der Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt/M.: Insel.

Kant, Immanuel (1968 [1785]): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Kants Werke. Akademie Textausgabe. Berlin: Walter de Gruyter & Co.

Kuhlen, R. (2004): Informationsethik. Umgang mit Wissen und Information in elektronischen Räumen, Konstanz: UVK Verlagsanstalt.

Nida-Rümelin, Julian (1996): „Theoretische und angewandt Ethik: Paradigmen, Begründungen, Bereiche“. In: Ders., Hg.: Angewandte Ethik. Stuttgart: Kröner, S. 3-85.

Patzig, Günther (1971): Ethik ohne Metaphysik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Pieper, Annemarie (2007): Einführung in die Ethik (6.überarb./aktualis. Auflage). Tübingen und Basel: A Francke.

Radbruch, Gustav (2006; orig. 1947): „Die Erneuerung des Rechts“. In: Robert Spaemann und Walter Schweidler, Hg.: Ethik. Lehr- und Lesebuch. Texte – Fragen– Antworten. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 290-297.

Rapp, Christof (2011): „Aristoteles“. In: Marcus Düwell, Christoph Hübenthal und Micha H. Werner, Hg.: Handbuch Ethik (2., aktualisierte. u. erweiterte Auflage). Stuttgart/ Weimar: Metzler, S. 69-81.

Tenbruck, Friedrich (2006): „Nachwort“. In: Max Weber: Wissenschaft als Beruf. Stuttgart: Reclam, S. 47-77.

Werner, Micha (2011): „Schwach normative und kontextualistische Ansätze“. In: Marcus Düwell, Christoph Hübenthal und Micha H. Werner, Hg.: Handbuch Ethik (2., aktualisierte. u. erweiterte Auflage). Stuttgart/ Weimar: Metzler, S. 191-193.

Zimmerli, Walter Ch. und Michael Aßländer (1996): „Wirtschaftsethik“. In: Julian Nida-Rümelin, Hg.: Angewandte Ethik. Stuttgart: Kröner, S. 290-344.