Sich–Einlesen in die Wirklichkeit – das Spurenleseparadigma

In: Hans-Christian von Herrmann und Jeannie Moser: Lesen. Ein Handapparat, Klostermann, Frankfurt/M., S. 143-155.

Einleitung

Kriminalistische Fahndung, Orientierung in der Wildnis, Fährtensuche auf der Jagd, journalistische Recherche, archäologische Erkundung, philologische Nachforschung – sie alle verbindet die Suche nach ‚Spuren‘. Spuren werden ‚gefunden‘, verfolgt‘, es wird ihnen ’nachgegangen‘ – und sie werden ‚gelesen‘. Mit der Wortverbindung ‚Spurenlesen‘ bietet die deutsche Sprache einen spannungsreichen Einsatzpunkt für Fragen von Erkenntnis und Wissen. Im Lesen der Spur ist ausgedrückt, dass Erkenntnis und Wissen hier auf eine Weise entstehen, die starke Momente der Sukzessivität und einer besonderen Rezeptivität verbindet. Zugleich erhält das Wort ‚Lesen‘ hier eine fremdartige Wendung dadurch, dass, was gelesen wird, nicht in Form benannter Zeichen und regelhafter Zeichenordnung auftritt, sondern als Spur, also als etwas, für das gerade fraglich ist, ob es überhaupt etwas ist. Spuren, die gelesen werden, sind Schwellenphänomene: eine Spur zu lesen, bedeutet, fast Unmerkliches zu bemerken, kaum Wahrnehmbares ins Feld der Wahrnehmung zu heben – und somit ein ‚etwas‘ überhaupt erst hervorzubringen: „da ist etwas …“. Dieses Aufmerksamwerden auf etwas ist mit einer erhöhten Intensität der Wahrnehmung, mit einer Anspannung der Sinne assoziiert. Werden Spuren gelesen, dann rücken die von legere her stets mittransportierten Bedeutungsaspekte des Sammelns und Heraus-Lesens in den Vordergrund – zugespitzt darauf, dass hier nicht einfach Bekanntes aufgehoben und sortiert wird, sondern das prekäre Moment des Auffindens, des Aufspürens in den Mittelpunkt tritt. Gegenüber herkömmlichen Theorien, die den Gegenstand von Erkenntnis und Wissen entweder als Bestand der Wirklichkeit oder als Konstrukt des Subjekts konzipieren, bringt der Begriff Spurenlesen eine neue Denkfigur ins Spiel: Erkenntnis und Wissensbildung erscheinen hier nun im Horizont einer Gegenstandskonstitution, die die Momente des Findens und der Selektion als eine Einheit voraussetzt: im Bemerken, im Aufspüren, im Herausfinden zeigt sich das (zunächst) Unbekannte weder von selbst, noch wird es durch Verknüpfung von Bekanntem erschlossen; weder die Empirie des Empirismus noch die formale Deduktion des Rationalismus decken ab, was geschieht, wenn in einem unübersichtlichen Feld ein Gegenstand sukzessive Gestalt annimmt. Dieser konstituierende Prozess scheint dem Fokus herkömmlicher Erkenntnistheorien entzogen zu sein. Was bedenklich ist, denn liegt nicht im spurenlesenden Erkunden, Ermitteln und Recherchieren ein Grundzug allen Begehrens zu Wissen – und damit der raison d‘ être von Forschung überhaupt?

Leseprobe

 

  1. Spurenlesenparadigma und die kulturtechnische Konstellation Galileischer Wissenschaft

 

Der Begriff des ‚Spurenlesens‘ taugt mehr noch als der des ‚Indizes‘ zum Begriff eines Paradigmas. In den verschiedenen Situationen und Tätigkeiten der Erkundung, Ermittlung und Recherche, in denen das Wort verwendet wird, finden sich immer wieder die gleichen Muster, die an der Jagd den suchenden, an der Untersuchung den investigativen, an der Verbrechensverfolgung den epistemischen und an der Wissenschaft den explorativen Aspekt herausstellt. Doch nicht nur hinter dem Begriff Spurenlesen stehen solche Vorstellungen konkreter Szenen und Tätigkeiten, auch das Galileische Bild der Wissenschaften beruht auf spezifischen medialen und praktischen Voraussetzungen – wenngleich sie innerhalb großer Teile moderner Erkenntnistheorie bis zur Unsichtbarkeit selbstverständlich geworden sind.

Ansätze, diese Selbstverständlichkeit aufzubrechen, finden sich überall da, wo das Primat des Sehens als solches zum Thema und in den Kontext anderer epistemischer Praktiken und Weltzugänge gestellt wird. Ein erster Überblick über solche Ansätze und ihr Verhältnis zur herkömmlichen Erkenntnistheorie hat Richard Rorty in seinem Werk Philosophy and the Mirror of Nature gegeben – das erstmals 1979, also im gleichen Jahr wie Ginzburgs Abhandlung erschien.[1] In diesem Zusammenhang sind eine Fülle von Aspekten thematisiert worden, die auch für das Verhältnis eines Galileischen Erkenntnisparadigmas zu einem Spurenleseparadigmas von Belang sind. Ein Aspekt betrifft sinnes- und medienphänomenologische Überlegungen.[2] Da ist zunächst zu nennen, dass die visuelle Wahrnehmung Distanz zum Gegenstand impliziert, also einen Raum mit zwei Orten eröffnet, einem Hier und einem Dort. Das Gesehene steht gegenüber. Es umschließt und umspült nicht den Wahrnehmenden wie der Geruch oder der Schall; es berührt die Sinnesorgane nicht unmittelbar wie das Geschmeckte und das an der Haut Empfundene. Die Distanz schafft einerseits Abstand zum Wahrgenommenen, andererseits legt sie ein Vermittelndes, ein Medium nahe. Dieses Medium wiederum kann trügerisch sein; durch es kann etwas vermittelt werden, was in Wirklichkeit nicht oder nicht so gegeben ist.

Ein weiterer struktureller Aspekt des Gegenüberstehens des visuellen Gegenstandes ist die Möglichkeit seiner dauerhaften Präsenz. Geräusche, Gerüche, Geschmäcker sind transitorisch, ihre Empfindungen vergehen. Auch das Gesehene kann ein flüchtiger Anblick sein, doch das Sichtbare bietet die Möglichkeit wie kein anderes sinnlich Wahrnehmbares, auf Dauer gestellt zu werden, dem wiederholten, dem sich versichernden, dem revidierenden Blick erhalten zu bleiben.

Die Momente der Distanz und der statischen Präsenz sind, da die visuelle Wahrnehmung zum Modell für Erkenntnis überhaupt wurde, als Grundstrukturen von Erkenntnis so evident geworden, dass es kaum mehr möglich scheint, sich eine andere Form von Erkenntnis, einen anderen epistemischen Weltbezug vorzustellen.

Es lässt sich allerdings noch enger fassen lässt, welche Erfahrungen visueller Wahrnehmung Pate standen für die Entwicklung der abendländischen Erkenntnistheorie. Es ist nicht der schweifende Blick über weite Landschaften, nicht der fokussierte Blick auf Nadel und Faden, wenn der Zwirn durch die Öse geführt wird. Es ist vielmehr der Blick auf eine Fläche, auf der sich in geordneter Weise möglichst diskrete Elemente von einem Hintergrund abheben. Der Sternenhimmel ist sicherlich das älteste Tableau dieser Art; die Höhlenwand in Platons Gleichnis eine Urszene dieser medialen Figur. Von da an zieht sich das Bild einer Fläche, auf der sich Elemente anordnen und einschreiben, über Galileis in mathematischer Sprache geschriebenes Buch der Natur, Descartes arbiträre Bilder und Lockes Schreibtafel der seelischen Daten bis in die Abbildtheorie von Wittgensteins Tractatus. Ebenfalls zurück bis zu griechischen Anfängen reicht das Motiv, über die Flächen hinaus zum wahren Wesen der Dinge vorzudringen.[3] Auch für dieses Motiv standen Praktiken Modell, die mit Anordnungen diskreter Elemente auf Flächen operierten: die Schrift und die Geometrie. Dabei besteht die Besonderheit der für die abendländischen Wissenschaften konstitutiven Alphabetschrift darin, die Sprache bis auf die Ebene ihrer formalen, grammatischen Einheiten zu analysieren und darzustellen: „Anders als eine logographische Schrift wie die Chinesische, fordert das Alphabet zur Suche nach abstrakten, nicht-sinnlich erfahrbaren, logisch oder metaphysisch verstanden Urelementen heraus.“[4] Durch die Gliederung des Schriftbildes in für sich bedeutungsfreie Zeichen, wird die Möglichkeit einer freien Kombinatorik verknüpft mit der Idee, dass Bedeutung etwas Außersinnliches, hinter den Zeichen liegendes, Ideelles sei. So entstehen zugleich die formal-logischen Regelsysteme und „die Konzeption von Wissen als episteme, als System von situationsinvariant gültigen Aussagesätzen“ verknüpft mit der „irrige[n] Vorstellung […], dass die Wahrheit dieser Aussagesätze sich nicht immer erst jeweils in praktischen Anwendungssituationen beweisen müsste, dass es nicht auf die jeweilige Urteilskraft der Leser und Anwender ankäme.“[5]

Ganz Ähnliches gilt für die Praxis der Geometrie, die ebenfalls eine formale Kombinatorik diskreter Einheiten auf einem Wahrnehmungstableau impliziert. Auch hier werden Elemente idealisiert, so dass sie kontext- und bedeutungsfrei verwendet werden können und zugleich wird suggeriert, dass hinter dem Wahrnehmbaren in diesen formalen Verhältnissen eine Bedeutung verborgen liegt, die als übersituative Wahrheit Gültigkeit beanspruchen kann.[6] Diese Praktiken, die sich auf ein gegenüberstehendes, visuell wahrnehmbares, aber auch operativ manipulierbares Tableau von Zeichen, und zwar von Zeichen im Sinne von Signifikanten, deren Signifikat über das situativ Gegebene hinausreicht, beziehen, können unter dem Begriff Kulturtechniken gefasst werden. Texte, Formeln, geometrische Formen, Notationen, Diagramme, Karten sind Beispiele für kulturtechnische Artefakte. Lesen, Schreiben, Rechnen, Beweisen, Darstellen, Einzeichnen sind typische kulturtechnische Praktiken. Was bedeutet es nun, wenn die Konzeption von Erkenntnis und Wissensgenerierung vornehmlich im Paradigma der Kulturtechniken entwickelt wurde? Die Spezifität dieses Vorgehens lässt sich im Kontrast erkennen und es ist bemerkenswert, dass sich die kulturtechnische Wahrnehmungssituation auf inhaltsreiche Weise in einen Gegensatz zur epistemischen Praxis des Spurenlesens stellen lässt. Für die Kulturtechniken lässt sich nämlich feststellen, dass sie die relevanten Aspekte verfügbar machen, indem sie sie (1) material vergegenwärtigen und zwar in definierter Form, (2) in einem begrenzten Feld übersichtlich anordnen, (3) dem Betrachter gegenüberstellen und zwar (4) in einer Distanz, die in der Reichweite sowohl visueller als auch handgreiflicher Variations- und Manipulationsmöglichkeiten liegt. Spurenlesen dagegen ist gekennzeichnet durch (1) Nicht-Definiertheit der wahrgenommenen Aspekte bei Nicht-Präsenz des intendierten Wissensobjekts, (2) Unübersichtlichkeit, (3) Inklusion des Wahrnehmenden ins Wahrnehmungsfeld und (4) die Spannung zwischen der Distanzlosigkeit von Praxis und Gespür und der Abwesenheit des intendierten Objekts, auf das das Wahrgenommene referiert.

Was würde es bedeuten, wenn nicht die spezifische ‚kunstweltliche‘ Konstellation der Kulturtechniken, sondern die elementare Situation des Spurenlesens in den Rang eines Ideals von Wissenschaftlichkeit rücken würde? Würde sich dann der Stellenwert von Forschung in den Wissenschaften verändern? Und würde sich die wissenschaftliche Praxis stärker mit anderen epistemischen Praktiken, Modi und Manifestationen von Erfahrung verknüpfen?

[1]      Richard Rorty, Der Spiegel der Natur: Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt/M., 1987. Darin heißt es: „Das Bild, das die traditionelle Philosophie gefangenhält, ist das Bild vom Bewußtsein als einem großen Spiegel, der verschiedene Darstellungen enthält – einige davon akkurat, andere nicht – und mittels reiner, nichtempirischer Methoden erforscht werden kann. Ohne die Idee des Bewußtseins als Spiegel hätte sich eine Bestimmung der Erkenntnis als Genauigkeit der Darstellung nicht nahegelegt. “ S. 22.

[2] Vgl. dazu Hans Jonas, Der Adel des Sehens. Eine Untersuchung zur Phänomenologie der Sinne, in: Ders., Das Prinzip Leben, Frankfurt/M. 1997 (im Orig. 1953/54), S. 233- 248.

[3]      Vgl. Ralf Konersmann, Die Augen der Philosophen. Zur historischen Semantik und Kritik des Sehens, Leipzig 1997.

[4]      Rainer Totzke, Buchstaben-Folgen: Schriftlichkeit, Wissenschaft und Heideggers Kritik an der Wissenschaftsideologie, Weilerswist 2004. S. 116.

[5]      Totzke 2004, S. 10.

[6]      Vgl. hierzu: Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Ges. Schriften, Bd. 8, hg. v. Elisabeth Ströker (Husserliana Bd. VI), Hamburg 1992 (1936), S. 18 ff.