Spurenlesen als epistemologischer Grundbegriff

Das Beispiel der Molekularbiologie

 In: Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, hrsg. von Werner Kogge/ Sybille Krämer/ Gernot Grube, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M., S. 182-221.

Abstract

Der Beitrag untersucht Spurenlesen als einen epistemologischen Grundbegriff und zeigt am Beispiel der Molekularbiologie, warum Wissensgewinnung generell, und wissenschaftliches Forschen im Besonderen, stets im Paradigma des Spurenlesens verlaufen. Im Gegensatz zu herkömmlichen Auffassungen ’realistischer’ oder ’konstruktivistischer’ Erkenntnistheorien, die sich im Paradigma des dem Erkennenden gegenüberstehenden Bildes oder Textes bewegen, zeigt sich Spurenlesen als eine epistemische Praxis, die nicht im Rahmen einer begrenzten Fläche definierte Entitäten wahrnimmt oder entziffert, sondern in einem unübersichtlichen Feld überhaupt erst Entitäten gestalthaft hervortreten läßt. Die Molekularbiologie ist ein besonders interessanter Fall zur Demonstration dieser Überlegungen, da sie bis vor Kurzem ihren Gegenstand als lesbaren Text konzipierte, diese Vorstellung nun aber revidieren musste. Die aktuelle Situation in der Molekularbiologie dokumentiert, warum auch da, wo sich die Wissenschaft mit einer textförmigen, notationalen Struktur konfrontiert sieht, ihre tatsächlichen Problemstellungen ein spurenlesendes Forschen erfordern.

„Spurenlesen, so wie ich es im Folgenden konzipieren werden, bezeichnet eine Praxis, die aus einem Feld, das unübersichtlich, verwirrend und unkonturiert ist, identifizierbare Entitäten, Relationen und Abhängigkeiten herausarbeitet, ohne sich aber dabei vom untersuchten Material abzulösen und sich ihm gegenüberzustellen.“

Leseprobe

  1. Spurenlesen, Wissenschaftsphilosophie und der Ort der Theorie in der Praxis

Die zentralen Fragen der Wissenschaftsphilosophie drehen sich um die Verbürgtheit wissenschaftlichen Wissens: Sind wissenschaftliche Aussagen wahr, sind sie objektiv, spiegeln sie die Realität wieder? Wenn ja: wodurch tun sie dies? Wenn nein: warum nicht? Dieses Fragemotiv steht auch hinter der Auseinandersetzung um Induktion und Deduktion, die es gibt, so lange es Reflexion auf Wissen und Wissenschaft gibt: Ist unser Wissen in dem fundiert, was unsere Sinne, unsere Beobachtungen, unsere konkreten, praktischen Experimente uns zeigen oder ist die ausgereifte Theorie das einzig stabile Bild der Wirklichkeit, während jede Wahrnehmung, jeder situative Effekt täuschend uund irreführend sein kann? Können und müssen wir von den einzelnen Beobachtungen und Effekten schrittweise aufsteigen zu einer allgemeinen, an diese immer zurückgebundene Theorie oder benötigen wir zunächst eine hinreichend allgemeine Theorie, um überhaupt Beobachtungen und Experimente machen zu können?

Die Geschichte der Wissenschaftsphilosophie in den letzten beiden Jahrhunderten hat sich nach Meinung vieler Kommentatoren so entwickelt, dass sie der deduktiven Auffassung den Vorzug gab. Von Justus von Liebig über Pierre Duhem und Karl Popper bis hin zu Imre Lakatos wurde die Theorie als primordial angesehen, während insbesondere das praktische Experimentieren – mehr noch als die auch rein rezeptiv auffassbare Beobachtung – zum bloßen Überprüfungsinstrument degradiert wurde.[1] Erst seit den 70er Jahren und in der Nachfolge von Thomas S. Kuhns The Structure of Scientific Revolutions wurde dieses dominierende Bild nachhaltig in Frage gestellt. Wissenschaftliches Wissen wurde nun nicht mehr in der Form seines zur Theorie geronnenen Resultats, sondern im Prozess seines Werdens zum Thema. Dabei fand keineswegs eine bloße Umkehrung von einer deduktiven zu einer induktiven Perspektive statt. Indem zum Thema wurde, wie in der Forschung und in den Laborpraktiken die Verfestigung und Durchsetzung von Auffassungen wirklich zustande kommen, gerieten vielmehr eine Reihe von Faktoren in den Blick, die bei früheren Autoren – mit einer Ausnahme[2] fn Fleck – weitgehend unberücksichtigt waren: das gesellschaftliche Überzeugungssystem, in dem wissenschaftliche Arbeit eingebettet ist; politische und wissenschaftspolitische Verhältnisse; die soziale Struktur und die Interaktionen im Forschungskollektiv; die eingesetzten Instrumente und Materialien; die konkreten Praktiken und das Know-How der Experimentierenden, ihr stummes Wissen und ihr ‚Zusammenwachsen‘ mit ihrem Experimentalsystem. All diese Faktoren, die zum Vorschein kamen, als nicht mehr ein bestimmtes Bild der Wissenschaften, sondern die konkrete wissenschaftliche Arbeit in den Blick genommen wurde, verschoben die Gewichte in der Unterscheidung von Theorie und praktischer ‚Beobachtung‘. Was zuvor nur ein durch mehr oder weniger künstliche Eingriffe und Versuchsanordnungen ergänztes Überprüfen von Aussagen war, wurde nun zu einem vielschichtigen, aspektreichen, prozessualen Netzwerk von Praktiken, Objekten, Modellen, Könnerschaften, Instrumenten, sozialen und politischen Umständen.

In Anbetracht des weiten Raumes, den die wissenschaftliche Praxis in solchen Untersuchungen einnahm, stellte sich nun aber die Frage, wie der Ort der Theorie im Verhältnis zu dieser Praxis zu bestimmen wäre. In der Entwicklung der praxeologisch ausgerichteten Wissenschaftstheorie lassen sich zwei Ansätze, auf dieses Problem zu antworten, ausmachen[3]: Eine Argumentationslinie – so wie sie beispielsweise Ian Hacking entwickelt hat – verläuft so, dass zunächst die Abhängigkeit jeglicher Forschungspraxis von Theorie bestritten wird,[4] sodann gezeigt wird, dass sowohl experimentelle als auch theoretische Tätigkeiten jeweils keine monolithischen Blöcke bilden, sondern vielgestaltig sind,[5] um schließlich an die Stelle der Dichotomie von Theorie und Beobachtung die Dreiteilung von Spekulieren, Kalkulieren und Experimentieren zu setzen.[6] Was zuvor Theorie und Praxis hieß wird in dieser Argumentation aufgefaßt als aufgehoben in drei Tätigkeitsfeldern, die das Ideelle und Mathematische auf vielfältige Weisen mit dem Experimentellen und Physikalischen verzahnen. Leider beläßt es Hacking in Representing and Intervening bei skizzenhaften Bemerkungen in Bezug auf die ‚theoretischeren‘ Tätigkeiten des Spekulierens und Kalkulierens, sie werden bei weitem nicht einer so gründlichen Untersuchung unterzogen wie das Experimentieren – was symptomatisch ist.

Doch gehen wir, bevor wir dies näher betrachten, zunächst weiter zur zweiten Argumentationslinie, in der das begriffliche Verhältnis von Theorie und Praxis neu verhandelt und überschrieben wird.

Hans-Jörg Rheinberger schlägt (anknüpfend an Timothy Lenoir, der die Konstruktion von Begriffen als verwoben in experimentelle Praxis betrachtet) vor,[7] Wittgensteins Begriff des Sprachspiels aufzunehmen und die experimentelle Situation als „Schreibspiel“, als „Spurenlegespiel der Wissenschaft“[8]  aufzufassen. Der zentrale Gedanke in Wittgensteins Sprachspielbegriff ist, dass Sprache und Tätigkeiten unauflöslich miteinander verwoben sind. Demgemäß läuft diese zweite Argumentationslinie nicht auf eine Fraktionierung unterschiedlicher Tätigkeiten, sondern auf deren Integration in einer systemischen Anordnung, in Experimentalsystemen hinaus. Begriffliches und Ideelles wird zu einem Faktor, zu einem Aspekt von Experimentalsystemen – und auch hier zeigt sich ein deutliches Ungleichgewicht. Rheinberger schreibt: „Wenn danach gefragt wiurd, was den Forschungsprozeß treibt, ist es ratsam, mit einer Charakterisierung der Experimentalsysteme, ihrer Struktur und ihrer Dynamik zu beginnen, und nicht von einem ursprünglichen, unhintergehbaren, wie auch immer formulierten Primat der Theorie. […] Was zur Debatte steht, ist … eine durch instrumentelle Randbedingungen ausgerichtete Bewegung, in der das Räsonnieren gewißermaßen ins Spiel der materiellen Entitäten gerissen wird.“[9]

Beiden Argumentationslinien gemeinsam ist also eine Ablehnung des Primats der Theorie und eine Hinwendung zu einem Ausgangspunkt in der experimentellen, eingreifenden, materiellen Forschungspraxis. Unterschieden sind die beiden darin, dass erstere einen Ansatz macht, Theoretisches in bestimmten, eigentümlichen Praktiken zu verorten, während letztere das Theoretische mit in die Forschungspraxis hineinzieht.

Wenn wir diese Konzeptualisierungen nun ins Verhältnis setzen zu den paradigmatischen Praktiken des Spurenlesens und der Kulturtechniken, so ist zunächst einmal zu bemerken, dass ihre Charakterisierung des wissenschaftlichen Forschens mit den Strukturen dessen, was Spurenlesen kennzeichnet, weitgehend übereinkommt. Schon Hacking hatte in Representing and Intervening – sich übrigens auf Dewey als einen wichtigen Vorläufer beziehend – seine Auffassung von Wissenschaft gegen die „Zuschauertheorie der Erkenntnis“ abgegrenzt und präzisiert: „Dabei glaube ich nicht, dass die Idee der Erkenntnis als Darstellung der Welt allein schon die Wurzel des Übels ist. Der Schaden rührt daher, daß man sich auf Kosten des Eingreifens, Handelns und Experimentierens wie besessen mit nichts anderem beschäftigt als Darstellen, Denken und Theorie.“[10] Mit der Abwendung vom Spiegel der Natur und der Hinwendung zu den Praktiken des Forschens entsteht das Bild einer experimentellen Tätigkeit, die, durch keine äußere Instanz geregelt, Wissenschaftsobjekten nachspürt, die nur solange epistemische Objekte sind, wie sie Gegenstand tentativen Ausprobierens und Versuchens sind. Rheinberger beschreibt die Bestimmung des Wissenschaftsobjekts im experimentellen Prozess so: „Man verfehlt seine Spezifik, wenn man diesen Vorgang als den der ‚theoretischen‘ Abbildung einer wie immer gearteten ‚Wirklichkeit‘ betrachtet. Was praktisch im Forschungsprozess abläuft, ist die Realisierung, also Produktion von Wissenschaftsobjekten mit Hilfe von Dingen, die bereits als hinreichend stabile Materialformen von Wissen betrachtet und gehandhabt werden können. […] Dieser Prozeß ist keineswegs von vornherein zielgerichtet. Er muß durch jene Vorgänge ertastet werden, die Jacob beschrieben hat als ‚die gescheitertet Anläufe, die verfehlten Experimente, die Stottereien, die blödsinnige Probierereien‘. Letztlich bleibt der einzige Führer durch diese Landschaft, wie Goethe gesagt haben würde,  ‚die Verfahrensart selbst.‘ Sie allein produziert die Hinweise, in welche Richtung man sich zu wenden und wo man umzukehren hat.“[11] Diese Darstellung des wissenschaftlichen Forschens ist in vielen Punkten dem nahe, was wir über Spurenlesen gesagt haben: Das Gerichtetsein auf etwas, das nicht in Präsenz, das nicht stabil gegeben ist (das weder – in Heideggers Terminologie ausgedrückt – vor- noch zuhanden ist), das tentative Vorgehen, die Angewiesenheit jeglicher Rückversicherung auf das Forschungsfeld selbst, dessen Unabgeschlossenheit und die stets mutmaßliche Orientierung in ihm. Ebenso pointiert arbeitet Rheinberger die spezifische Struktur der Involviertheit der Forschenden in ihr Experimentalsystem heraus: „Je enger ein Wissenschaftler mit seiner Experimentalanordnung vertraut ist, desto  wirksamer erschließen sich ihre inhärenten Möglichkeiten. Paradox formuliert: Je stärker ein Experimentalsystem an Geschick und Erfahrung des Forschers gebunden ist, desto selbständiger macht es sich in seiner Hand.“[12] Dieses von Lacan entlehnte Theorem des inneren Ausschlußes bringt die Struktur der spurenlesenden Episteme begrifflich auf den Punkt: Das forschende, spurenlesende Subjekt schält sich mit wachsender Könnerschaft und wachsender Beherrschung seiner Materie nicht etwa aus ihr heraus, bringt sich nicht in eine Position des Gegenübers, des äußeren Beobachters, vielmehr verwebt es seine Virtuosität immer fester und immer effektiver mit ihr. Anders gesagt: Die Wissensgenerierung im Forschen entsteht nicht in einer Verringerung oder Überwindung von Involviertheit, sondern in dessen Vertiefung und Verstärkung.

Es läßt sich also festhalten, dass die praxeologische Wissenschaftsphilosophie, für die Namen wie Hacking, Pickering, Latour, Rouse und Rheinberger stehen, ein Bild von Wissenschaft zeichnet, das sich dem, was wir paradigmatisch als Spurenlesen charakterisiert haben, sehr gut anschließen läßt.

Die Neubewertung der Forschungspraxis wirft allerdings am anderen Pol der ehemaligen Dichotomie von Empirie und Theorie eine Frage auf: Ist das, was als Theorie bezeichnet wurde und was vormals von Vielen als Leit- und Wahrheitsinstanz der Praxis angesehen wurde, in seinem Status und seiner Rolle angemessen charakterisiert, wenn es im Rahmen der beiden oben skizzierten Argumentationslinien entweder als integraler Bestandteil von Forschungspraxis oder als zwar eigenständige, aber in sich relativ unkonturierte Praxis angesehen wird? Es war sicherlich ein strategisch sinnvoller Zug, der Theorielastigkeit der Wissenschaftsphilosophie zunächst einmal eine Emphase der materialen Praxis entgegenzustellen, die dieser allererst Geltung verschaffte. Doch indem in dieser Denkbewegung das vormals Theoretische selbst zu Praxis wird, müßte da nicht diese Praxis, oder dieser Aspekt von Praxis – ebenso wie jede andere Forschungstätigkeit und jeder andere Aspekt von Forschung – in der dem theoretischen Tun eigenen Struktur untersucht und dargestellt werden? Mir scheint, dass die praxeologische Wende der Epistemologie noch nicht in ihrer ganzen Konsequenz realisiert ist, solange nicht die Tätigkeiten, die mit Buchstaben, Ziffern, Diagrammen, Zirkel, Bleistiften, Papieren, Bildschirmen, Tastaturen, Formeln, Formulierungen, Algorithmen, Programmen und Begriffen arbeiten, Tätigkeiten, die für das Forschen oft ebenso wichtig sind wie die mit Pipetten, Mikroskopen und Meßgeräten, ebenfalls in den Strukturen ihrer Praktiken begreiflich gemacht sind. Zwar gibt es einige Ansätze, Labortagebücher, Notizen und wissenschaftliche Korrespondenzen als Teil der wissenschaftlichen Praxis zu analysieren,[13] doch Reflexionen darüber, wie sich diese Forschungsmittel zu den gewöhnlich angeführten Instrumenten und Materialien verhalten, finden sich bislang kaum. Eine Ausnahme ist die Studie von Ursula Klein über Paper Tools in der organischen Chemie des 19. Jahrhunderts. Klein zeigt hier, dass die chemischen Formeln in ihren epistemischen Qualitäten in vielen Punkten anderen Versuchsanordnungen entsprechen: sie lassen sich manipulieren, spielen ikonische Potentiale aus, geben Evidenzen und können in ihren Variationen zu überraschenden Einsichten führen. Dennoch ist das Arbeiten mit Paper Tools  von anderen materiellen Praktiken zu unterscheiden: „Die Analogie zwischen materiellen Laborinstrumenten und Paper Tools stößt freilich genau da an ihre Grenzen, wo eine Unterscheidung zwischen experimentellen Interventionen und den dabei erzeugten Spuren, Inskriptionen auf Papier und Repräsentationen gemacht werden muß. Laborinstrumente sind zwar auch Produkte vorangegangener intellektueller Arbeit und können insofern auch als stabile Repräsentanten einer Theorie (im weitesten Sinne) betrachtet werden, aber sie sind zugleich physisch-materielle Agenzien, die in ihrer Wirkungsweise nicht durch die Theorie, die sie verköpern, ausgeschöpft sind.“[14] Dass sich aus einer Praxis „neue, unvorhergesehene Möglichkeiten ergeben“[15] können, gilt zwar – wie Klein an anderer Stelle ausführt – ebenso für die Paper Tools und auch das Kriterium, dass Paper Tools „ausschließlich der Repräsentation“[16]  dienen, kann nicht gehalten werden, wenn die Manipulation von chemischen Formeln genuine epistemische Effekte zeitigt, doch, darin ist Klein zuzustimmen, entscheidend ist, „daß bei allen Übereinstimmungen von Laborinstrumenten und Paper-Tools zugleich auch ihre Heterogenität gewahrt bleibt, daß Zusammenhänge nicht in falschen Identitäten kollabieren.“[17]

So stellt sich die Frage, wie denn der Unterschied zwischen solchen Praktiken, bei denen etwa mit Zeichen auf Papier hantiert wird, und solchen, bei denen Instrumente und Materialien im herkömmlichen Sinne verwendet werden, näher zu bestimmten ist. Die Gegenüberstellung von Spurenlesen und Kulturtechniken scheint mir eine nützliche Denkhilfe, an diesem Punkt ein Stück weiter zu kommen. In ihr scheint mir eine grundlegende epistemologische Einsicht gerade deshalb zu liegen, weil sie die von Klein angesprochene Problematik mit der philosophischen Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Empirie, von Deduktion und Induktion verbindet. Theorie als einen Typ von Praxis zu begreifen kann nämlich, so meine Überlegung, über ein Selbstmißverständnis hinweghelfen, das in Bezug auf den Begriff der Theorie festzustellen ist. Theorie wird herkömmlicherweise als systematisch angeordnetes Wissen ohne spezifische Materialität und ohne spezifische Manipulationsmöglichkeiten angesehen. Dabei wird gänzlich übersehen, dass alles, was wir als wissenschaftliche Theorie gelten lassen würden, in Form von Text, von Bild, von Diagrammen, Formeln, Zeichnungen, Programmen etc., also in der kulturtechnischen Form sichtbar ausgestellter und manipulierbarer Zeichenarrangements vorliegt. Theorie im wissenschaftlichen Sinne ist nicht die Wesensschau des inneren Auges, sie verschmilzt nicht den individuellen Geist mit einer absoluten Evidenz, sie ist vielmehr stets externer Symbolismus, der auf intersubjektive Vermittlung zielt. Theorie, genauer: theoretische Tätigkeiten in kulturtechnischer Perspektive zu betrachten, bedeutet deshalb, sie als eine spezifische Praxis mit einer spezifischen Materialität anzusehen. Die wichtigsten Eigentümlichkeiten dieser Praxis sind die, die wir in der Unterscheidung vom Spurenlesen herausgestellt haben: gehandelt wird hier mit präsenten, definierten, manipulierbaren, übersichtlich angeordneten und dem Subjekt gegenüberstehenden, also von ihm abgelösten Entitäten.

Nun ist es nicht so, dass solche kulturtechnischen Arrangments und Praktiken nicht für Überraschungen gut wären und dass sie es nicht erlaubten, in ihnen zu experimentieren. Doch die Evidenzen, die sie offenbaren, und die Versuche, die sich in ihnen anstellen lassen, haben, solange es sich tatsächlich um Zeichen und nicht um Spuren handelt, einen anderen Charakter: Das kulturtechnische Tableau fungiert als ein ‚Spielfeld‘, auf dem prinzipiell keine anderen Kräfte und Determinanten herrschen als die, die in konventionell verfaßten Regeln festgelegt sind. Das kulturtechnische Tableau ist die Idee des Labors in einem absoluten Sinne: Hier gelingt, was in keinem wirklichen Labor gelingt, nämlich, dass Entitäten nur das sind, als was sie bestimmt sind, dass Vorgänge vollkommen sichtbar und kontrolliert vonstatten gehen, dass keine anderen, aus der Umwelt stammenden Kräfte und Elemente eindringen und Effekte erzeugen oder verändern. Damit will ich, wie gesagt, nicht andeuten, dass kulturtechnische Praktiken stets kalkuliert und maschinenhaft ablaufen; es kann nicht genug betont werden, dass in den schriftlichen, diagrammatischen und bildlichen Medien auch komponiert, entdeckt und experimentiert werden kann.[18] Nur geschieht dies stets unter den beschriebenen materialen Vorgaben, die die kulturtechnischen Praktiken von denen des Spurenlesens unterscheiden, in denen der prekäre Status der verhandelten Elemente einhergeht mit einem unabgeschlossenen und unübersichtlichen Untersuchungsfeld, in dem das forschende Subjekt ganz und gar involviert ist.

[1] Vgl. hierzu: Ian Hacking …; Michael Heidelberger, Die Erweiterung der Wirklichkeit im Experiment, in: Michael Heidelberger und Friedrich Steinle (Hrsg.), Experimental Essays – Versuche zum Experiment, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1998, S. 71-92.

[2] Als nahezu unerschöpflich für die Fragen der Wissenschaftsphilosophie erweist sich das Werk von Ludwik Fleck. Vgl. dazu: [die beiden bei Suhrkamp erschienen Bände …

[3] Ich folge hier der Darstellung von Rheinberger, der neben Hacking auch Peter Galison als ein Vertreter des ersten Ansatzes nennt. Vgl. Rheinberger 1992, S. 14.

[4] Hacking 265

[5] Hacking 276f; 348ff

[6] Hacking 352ff

[7] Rheinberger 1992, S. 14.

[8] Rheinberger 1992, 23

[9] Rheinberger 1992, 22

[10] Hacking 220

[11] Rheinberger 1992, 29f

[12] Rheinberger 1992, 21

[13] Vgl. Holmes, Frederic L., Jürgen Renn, Hans-Jörg Rheinberger (Hg.), Reworking the Bench. Research Notebooks in the History of Science, Dodrecht, Boston, London, 2003.

[14] Klein, Ursula, Experimente, Modelle, Paper-Tools. Kulturen der organischen Chemie im 19. Jahrhundert, Habilitationsschrift Universität Konstanz, 1999, 423

[15] Klein Ursula, „Visualität, Ikonizität, Manipulierbarkeit: Chemische Formeln als ‚Paper

Tools‘“, in: Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, hrsg. von Werner Kogge, Sybille Krämer und Gernot Grube, Fink Verlag, München 2005, 237-251, hier S. 249.

[16] Klein 2005, 249.

[17] Klein 1999, 424

[18] Vgl. dazu ausführlich: Werner Kogge, „Erschriebene Denkräume: Die Kulturtechnik Schrift in der Perspektive einer Philosophie der Praxis“. In: Gernot Grube, Werner Kogge, Sybille Krämer (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine Fink Verlag, München 2005, S. 137-169.

Konklusion

Im Paradigma des Spurenlesens wird offensichtlich, warum Wissen nicht in offenbaren und universal gültigen Ordnungen bestehen kann. Solche Ordnungen lassen sich nur herstellen, indem ihre Elemente von der kausal integrierten Welt abgelöst und einem vollkommen beherrschbaren Rahmen eingegliedert werden. In diesem Rahmen zeichnen sich Operationen dann durch invariante Widerholbarkeit, Eindeutigkeit und Evidenz aus, also durch Eigenschaften, die die Metaphysik dem Wissen seit jeher zuschreibt. Im Paradigma des Spurenlesens kann dagegen von Wissen nur gesprochen werden, wenn die Verallgemeinerungen, die mit der wachsenden Erfahrung erschlossen werden, verbunden bleiben mit spezifischen Situationen, aus denen sie gewonnen wurden; wenn und soweit also die Kenntnis der allgemeinen  Form geknüpft ist an eine Erfahrenheit, die erschließt, wie sie in Auseinandersetzung mit konkretem Material gewonnen und umgesetzt werden kann.