Semantik und Struktur

Eine ’alteuropäische’ Unterscheidung in der Systemtheorie

 In: Andreas Reckwitz / Holger Sievert (Hrsg.). Interpretation, Konstruktion, Kultur: Ein Paradigmenwechsel in den Sozialwissenschaften, Opladen 1999, S. 67-99.

Einleitung

Gesellschaftsstruktur und Semantik ist nicht nur der Titel von inzwischen vier Aufsatzbänden, in denen Luhmann vor allem historische Untersuchungen versammelt hat[1], sondern auch eine begriffliche Unterscheidung, die innerhalb der Systemtheorie ausgeführt und begründet wird. Die eher verstreuten Ausführungen, in denen dies geschieht, verstärken allerdings, wie ich im Folgenden zeigen möchte, die Irritation darüber, welchen Stellenwert eine solche Unterscheidung in einer monistischen Theorie überhaupt haben kann. Es wird nicht recht deutlich, was diese Unterscheidung genau unterscheidet. Soll es, obwohl Sinn sich nur in den Prozessen von Systemen zeigt, noch andere sinnhafte Ordnungen, Semantiken, geben? Und soll andererseits, obwohl die Strukturen des Systems als Sinn bestimmt sind, eine Gesellschaftsstruktur bestehen, die sinnfrei angelegt ist? Oder besteht das Verhältnis der Begriffe Struktur und Semantik gar nicht in dieser erkenntnistheoretischen Gegenüberstellung, sondern stellt jeweils unterschiedliche systemische Verfahren der Sinnstrukturierung dar? Doch welche Verfahren könnten dies sein? Wie stehen sie zueinander?

Die folgenden Untersuchungen werden zeigen, daß die Systemtheorie nicht grundlos, aber ohne theoretische Not mit der Gegenüberstellung von Struktur und Semantik aus ihrem eigenen Rahmen fällt. Es wird sich zeigen, daß, obwohl die Annahme gesellschaftlicher Strukturen, die ’mehr’ sind, als das, was in ihnen gedacht, gesprochen und geschrieben wird, unumgänglich scheint, die Systemtheorie über begriffliche Mittel und theoretische Topoi verfügt, die Vermittlung der beiden Pole als systemischen Prozeß zu formulieren. Gelingt eine solche Formulierung, so ist diese auch von hohem Stellenwert für die philosophische Theoriebildung, für die eine Vermittlung von Geist und Welt jenseits einer substanzphilosophischen Konzeption und jenseits der Selbsttransparenz eines absoluten Geistes eine offene Aufgabe ist.

Um die begrifflichen Mittel für diese Aufgabe herauszuarbeiten, werde ich zum einen innerhalb der Systemtheorie Versatzstücke aus ihrem Zusammenhang lösen und in einer, wie ich meine, begründbaren Weise neu aufeinander beziehen. Andererseits werde ich Grundgedanken der philosophischen Hermeneutik zu Hilfe nehmen, um den konzeptuellen Rahmen für diese Neuanordnung zu entwerfen. Ziel des Aufsatzes ist, in einer Art Fortsetzung der Philosophie mit soziologischen Mitteln[2] die Frage nach der Vermittlung von Geist und Welt als die des Zusammenhangs semantischer und struktureller Prozesse in der sozialen Autopoiesis zu begreifen

[1] Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studien zur Wissensoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1-4, Frankfurt/M. 1993-1995; Im Folgenden im Text mit dem Sigel GS1 – GS4 zitiert.

[2] Wobei zu bemerken ist, daß die Systemtheorie nicht nur in der Soziologie, sondern in den verschiedensten philosophischen und wissenschaftlichen Traditionen Ansatzpunkte für ihre Konzeptionen findet; daß es also die Philosophie im Rückgriff auf die Systemtheorie durchaus mit ihrer eigenen Tradition zu tun hat.

„Strukturen, die klassischerweise beobachtungsunabhängige Realität der Sozialwissenschaften, ließen sich schlüssig als sozial konstruiert beschreiben. Dabei erhielt allerdings der Begriff der sozialen Konstruktion einen differenzierten Gehalt. Während er zumeist so eingeführt wird, daß die Produktion sozialer Strukturen direkt durch das Denken, Sprechen und Verfassen von Texten erfolgt, konnte hier gezeigt werden, daß es möglich ist, ’Realität’ als sinnhaft konstruiert zu denken, ohne sie als unmittelbaren Effekt sinnhafter Akte zu begreifen. Sich als Realität zeigende Strukturen entstehen vielmehr auf der Rückseite der Sinnprozesse. Selbst ökonomische Strukturen und gesellschaftliche Formationen können so verstanden werden, daß sie entstanden sind und bestehen, indem sie in unzähligen, semantischen Akten als Selbstverständlichkeiten in Gebrauch genommen und dadurch reproduziert werden. Latent sind sie insofern, als eine einzelne Herausstellung und Bezeichnung sie in keiner Weise tangiert, da sie in zahllosen parallel laufenden Akten weiter ’bestätigt’ werden.“

Leseprobe

{Hinweis: Bei dem Text handelt es sich um eine überarbeitete und korrigierte Fassung des gleichnamigen Aufsatzes von Werner Kogge in: Andreas Reckwitz / Holger Sievert (Hrsg.), Interpretation, Konstruktion, Kultur: Ein Paradigmenwechsel in den Sozialwissenschaften, Opladen 1999, 67-99.}

 

  1. Die Systemtheorie als monistischer Ansatz

 

Die Unterscheidung von Semantik und Struktur steht in einer philosophischen Tradition, die erkennenden Geist und erkannte Welt einander gegenüberstellt und die erkenntnistheoretische Frage nach der Möglichkeit wahrer Erkenntnis, also einer sachgemäßen Überbrückung der Kluft zwischen den beiden Seinsbereichen stellt. Der Dualismus von ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘ kann immer noch als leitendes Paradigma der Wissenschaften angesehen werden. Mit dem Aufkommen von Wissenschaften, deren ‚Gegenstand‘ selbst als subjektiv, sinnhaft und erkennend betrachtet werden muß, erschien dieses Schema zunehmend problematisch. Als Wissenschaften wie Psychologie, Ethnologie und Soziologie sich vor die Aufgabe gestellt sahen, Erkenntnis über ‚Gegenstände‘ zu gewinnen, deren objektiver Charakter darin besteht, selbst erkennend zu sein ,sah man sich veranlaßt, Anleihen bei einer zweiten philosophische Traditionzu nehmen, in der stets beides, der Gegenstand und das Erkennen als Weltphänomen begriffen und daher nicht nach der Möglichkeit einer Überbrückung der Kluft, sondern nach der Wirklichkeit der Verbundenheit der beiden Pole gefragt wurde. Vielfach wurden so Versatzstücke einer monistischen Tradition in die Reflexionen dieser Wissenschaften aufgenommen, ohne daß aber eine umfassende Theorie in diesem paradigmatischen Rahmen ausgeführt wurde. Eine der wenigen Ausnahmen ist die Theorie sozialer Systeme von Niklas Luhmann. Sie vereinigt ’subjektives‘ Erkennen und ‚objektives‘ Sein im Begriff des Systems, der als sinnhafte Selbstherstellung (Autopoiesis) der sozialen Welt entfaltet wird. Den verschiedenen dualistischen Varianten, die Geist und Sinn entweder dem individuellen Subjekt, oder aber einer universalen Subjektivität zurechnet, begegnet die Systemtheorie mit einer tiefgreifenden Neukonzeptionierung der klassischen Ontologie. Zwar kennt auch die Systemtheorie eine Differenz von sozialen und psychischen Systemen, doch nicht als Differenz von Subjektivem und Objektivem. Denn erstens ist die ‚Einheit‘, die herkömmlich als individueller Mensch bzw. Subjekt begriffen wird, für die Systemtheorie durch ein Zusammenspiel dreier Systemarten, nämlich organischer, psychischer und sozialer zu beschreiben und zweitens operieren für diese Theorie psychische und soziale Systeme mit demselben ‚Stoff‘, nämlich mit Sinn. Es gibt in der Systemtheorie also keine ontologische Differenz, die etwa eine sinnhafte Seinssphäre der Subjekte von einem sinnfreien Objektbereich trennen könnte. Die Systemtheorie ist in ihrer Grundkonzeption das anspruchsvolle Unternehmen einer monistischen Universaltheorie.

Doch im Rahmen systemtheoretischer Ausführungen kehrt der Dualismus von Subjekt und Objekt an einer bestimmten Stelle in die Theorie zurück: in der Gegenüberstellung von gesellschaftlichen Strukturen und Semantiken. Stellt man dies fest, so erhebt sich die Frage, ob nicht auch die Systemtheorie ein Objektives (Strukturen) kennt, dem als Subjektives Ideen, Begriffe und Texte (Semantiken) unvermittelt gegenüberstehen. Wie konsequent ist der systemtheoretische Monismus?

Gesellschaftsstruktur und Semantik ist nicht nur der Titel von inzwischen vier Aufsatzbänden, in denen Luhmann vor allem historische Untersuchungen versammelt hat[1], sondern auch eine begriffliche Unterscheidung, die innerhalb der Systemtheorie ausgeführt und begründet wird. Die eher verstreuten Ausführungen, in denen dies geschieht, verstärken allerdings, wie ich im Folgenden zeigen möchte, die Irritation darüber, welchen Stellenwert eine solche Unterscheidung in einer monistischen Theorie überhaupt haben kann. Es wird nicht recht deutlich, was diese Unterscheidung genau unterscheidet. Soll es, obwohl Sinn sich nur in den Prozessen von Systemen zeigt, noch andere sinnhafte Ordnungen, Semantiken, geben? Und soll andererseits, obwohl die Strukturen des Systems als Sinn bestimmt sind, eine Gesellschaftsstruktur bestehen, die sinnfrei angelegt ist? Oder besteht das Verhältnis der Begriffe Struktur und Semantik gar nicht in dieser erkenntnistheoretischen Gegenüberstellung, sondern stellt jeweils unterschiedliche systemische Verfahren der Sinnstrukturierung dar? Doch welche Verfahren könnten dies sein? Wie stehen sie zueinander?

Die folgenden Untersuchungen werden zeigen, daß die Systemtheorie nicht grundlos, aber ohne theoretische Not mit der Gegenüberstellung von Struktur und Semantik aus ihrem eigenen Rahmen fällt. Es wird sich zeigen, daß, obwohl die Annahme gesellschaftlicher Strukturen, die ‚mehr‘ sind, als das, was in ihnen gedacht, gesprochen und geschrieben wird, unumgänglich scheint, die Systemtheorie über begriffliche Mittel und theoretische Topoi verfügt, die Vermittlung der beiden Pole als systemischen Prozeß zu formulieren. Gelingt eine solche Formulierung, so ist diese auch von hohem Stellenwert für die philosophische Theoriebildung, für die eine Vermittlung von Geist und Welt jenseits einer substanzphilosophischen Konzeption und jenseits der Selbsttransparenz eines absoluten Geistes eine offene Aufgabe ist.

Um die begrifflichen Mittel für diese Aufgabe herauszuarbeiten, werde ich zum einen innerhalb der Systemtheorie Versatzstücke aus ihrem Zusammenhang lösen und in einer, wie ich meine, begründbaren Weise neu aufeinander beziehen. Andererseits werde ich Grundgedanken der philosophischen Hermeneutik zu Hilfe nehmen, um den konzeptuellen Rahmen für diese Neuanordnung zu entwerfen. Ziel des Aufsatzes ist, in einer Art Fortsetzung der Philosophie mit soziologischen Mitteln[2] die Frage nach der Vermittlung von Geist und Welt als die des Zusammenhangs semantischer und struktureller Prozesse in der sozialen Autopoiesis zu begreifen. Zu diesem Zweck werde ich zunächst die Systemtheorie in ihrem soziologischen und philosophischen Kontext bezüglich der hier gestellten Frage verorten.

 

  1. Eine ‚alteuropäische‘ Unterscheidung

“… to gar auto noein estin te kai einai.”[3]

Das Problem, um das es hier geht, ist so alt, wie das abendländische Nachdenken über Welt und Wissen selbst. Wenn Parmenides im 5. Jahrhundert vor Christus schreibt, daß “es nämlich dasselbe ist zu denken und zu sein”, dann dokumentiert dies, daß das Verhältnis von Denken und Sein schon damals zur Debatte stand. Dabei darf aber nicht übersehen werden, daß die Thematisierung dieses Verhältnisses in der antiken Philosophie auf einem entscheidend anderen Grund stand, als dies in der Neuzeit der Fall ist. In der Antike war das Denken stets in der Welt, die selbst schon eine schöne und gute Ordnung darstellte. Die Einheit von Denken und Sein war der Kosmos, der in sich selbst durch Ideen und Wesensbestimmungen entfaltet ist. Es erschien zwar notwendig, einen unbewegten Beweger anzunehmen, aber der bestand in einem Prinzip der Prinzipien, das noch in die periphersten Naturprozesse verwoben[4], also in keiner Weise außerweltlich war.

Die jüdisch-christliche Konzeption eines Schöpfergottes, der den Menschen als Ebenbild Gottes und die Natur ihm untertan entwarf, bestimmte den Ort der Vernunft enger. Gottes Plan konnte als Plan einer selbst vernunftfreien Sachordnung erscheinen, von der qualitativ nur die Seele als der Teil des Menschen, der mit dem Geist Gottes in Verbindung stand, ausgenommen war. Die wachsenden Erfolge in der frühen Neuzeit, die Natur technisch zu beherrschen, beförderten diese bald gänzlich in einen Objektstatus. Je mehr die Bestimmungen der Natur an sich selbst in Zweifel gezogen wurden, desto klarer wurde, daß letztlich nur eines gewiß sein konnte, nämlich das sich im Denken wahrnehmende Denken selbst. Das Denken stellte sich gänzlich aus der Welt heraus, während es diese auf bloß körperhafte Dinge reduzierte. In den berühmten Worten Descartes:

“Alsbald aber fiel mir auf, daß, während ich auf diese Weise zu denken versuchte, alles sei falsch, doch notwendig ich, der es dachte, etwas sei. Und indem ich erkannte, daß diese Wahrheit: ‚ich denke, also bin ich‘ so fest und sicher ist, daß die ausgefallensten Unterstellungen der Skeptiker sie nicht zu erschüttern vermöchten, so entschied ich, daß ich sie ohne Bedenken als ersten Grundsatz der Philosophie, die ich suchte, ansetzen könne. (…) Daraus erkannte ich, daß ich eine Substanz bin, deren ganzes Wesen oder deren Natur nur darin besteht, zu denken und die zum Sein keines Ortes bedarf, noch von irgendeinem materiellen Dinge abhängt, so daß dieses Ich, d.h. die Seele, durch die ich das bin, was ich bin, völlig verschieden ist vom Körper …”[5]

Der erkenntnistheoretische Dualismus, den das cartesische Paradigma begründete, prägte auch von Beginn an das Nachdenken über die soziale Welt. Als Karl Marx im 19. Jahrhundert das Bewußtsein darüber beförderte, daß in der Gesellschaft Prozesse wirksam sind, die die Wahl und Entscheidung des Einzelnen übersteigen, brachte die Anwendung dieses Paradigmas mit sich, daß nicht nur nun auch die Gesellschaft als etwas Seiendes erforscht werden konnte, sondern daß dieses Seiende rekursiv naturalisiert wurde.

“In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.”[6]

Daß das Sein das Bewußtsein bestimmt und daß es in der Gesellschaft eine “reale Basis” gibt, die alle kulturellen und geistigen Prozesse bedingt, hielt auch vierzig Jahre später einer der ‚Gründerväter‘ der modernen Soziologie, Emile Durkheim, für eine gute Idee.

“Die Idee, daß das gesellschaftliche Leben nicht mit Hilfe der Begriffe derjenigen erklärt werden sollte, die an ihm teilnehmen, sondern aus tiefer liegenden Ursachen, die dem Bewußtsein entgehen, halte ich für außerordentlich fruchtbar, und ich glaube auch, daß diese Ursachen hauptsächlich in der Art und Weise zu suchen sind, in welcher die assoziierten Individuen sich gesellschaftlich gruppieren.”[7]

In den Bemerkungen von Marx und Durkheim zeigt sich, wie die soziale Welt in einen Bereich kontingenter kultureller Formen und subjektiven Sinns einerseits und einen zugrundeliegenden Objektbereich andererseits unterteilt wurde. Das Verhältnis der beiden Ebenen zueinander wird von beiden so beschrieben, daß die Basis der Produktionsverhältnisse oder der gesellschaftlichen Gruppierungsweisen die Ebene der kulturellen Formen und des Bewußtseins mehr oder weniger kausal bestimmt. Als Gegenspieler zu dieser Position wird häufig Max Weber vorgestellt, der sich in seinen Untersuchungen zur Protestantischen Ethik  für die Art interessierte, “in der überhaupt die ‚Ideen‘ in der Geschichte wirksam werden” und “ob und wieweit religiöse Einflüße bei der qualitativen Prägung und quantitativen Expansion jenes ‚Geistes‘ über die Welt hin mitbeteiligt gewesen sind und welche konkreten Seiten der auf kapitalistischer Basis ruhenden Kultur auf sie zurückgehen.”[8]

Obwohl man wohl Weber genauso Unrecht tut wie Marx, wenn man ersterem eine naive These von ‚Ideenkausalität‘[9], zweiterem einen schlichten Materialismus unterstellt, so sind diese beide Positionen doch geeignet, das hier gestellte Problem zu umreissen. Beide Positionen gehen davon aus, daß es einerseits eine Ebene der Sozialstruktur, andererseits eine der Begriffe und Ideen gebe und daß das Verhältnis der beiden auf die eine oder die andere Art zu bestimmen sei.

Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte ist der Titel eines Aufsatzes von Reinhart Koselleck, der dieses Verhältnis vor dem Hintergrund einer wachsenden begriffsgeschichtlichen Forschung in den70er Jahren untersucht. [10]Dieser Diskurs über historische Semantik ist auch der Anknüpfungspunkt der systemtheoretischen Überlegungen zu diesem Thema[11]Dem hermeneutisch orientierten Historiker Koselleck geht es darum, die Relevanz begriffsgeschichtlicher Forschung auch für die Sozialgeschichte aufzuweisen. Daß diese beiden Forschungsansätze unterschiedliche Gegenstandsbereiche anvisieren, ist dabei vorausgesetzt:

“Beschäftigt sich doch die eine Disziplin in erster Linie mit Texten und mit Worten, während sich die andere nur der Texte bedient, um daraus Sachverhalte abzuleiten und Bewegungen, die in den Texten selber nicht enthalten sind. So untersucht etwa die Sozialgeschichte Gesellschaftsformationen oder Verfassungsbauformen, die Bezeichnungen zwischen Gruppen, Schichten, Klassen, sie fragt über Geschehenszusammenhänge hinaus, indem sie auf mittel- oder langfristige Strukturen und deren Wandel zielt.” (BS,19)

Betrachtet man diese Beispiele, die Koselleck für den Gegenstandsbereich der Sozialgeschichte anführt, so zeigt sich die unauflösliche Nähe, die diese Phänome zu Texten (z.B. Verfassungen), Bezeichnungen und Selbstbeschreibungen haben. Die Differenz ist für Koselleck dennoch unproblematisch. Zu evident erscheint ihm, daß es “ein theoretisch nicht einlösbarer Kurzschluß” wäre, “Geschichte nur aus ihren eigenen Begriffen, etwa als Identität von sprachlich artikuliertem Zeitgeist und Ereigniszusammenhang, zu begreifen.” (BS,30) Zwischen sozialen Sachverhalten einerseits und Begriffen andererseits gibt es für ihn einen “Hiatus” (BS,30), der sich in einem “Spannungsverhältnis” (BS,20) der beiden Ebenen zueinander ausdrückt.

Doch worin besteht das Kriterium, durch das sich Gegenstände der Sozialgeschichte von Gegenständen der Begriffsgeschichte trennen lassen? Erscheint der Gegensatz  bei Koselleck vielleicht nur deshalb stark konturiert, weil die Untersuchungen ausschließlich Begriffe von geschichtlich großer Tragweite zum Ausgangspunkt nimmt (z.B. Bürger, Kapitalismus, Nation usw.), von denen aus ein Ereigniszusammenhang rekonstruiert wird, dessen Komplexität über diese sprachliche Fassung weit hinaus geht? Doch ließe sich dieser eher forschungspraktisch als ontologisch postulierte Gegensatz auch halten, wenn tatsächlich die gesamte Semantik berücksichtigt werden könnte, die in einem geschichtlichen Prozeß wirksam ist? Fiele ein Sinngeschehen, das nicht nur Begriffe der politischen Auseinandersetzung, sondern weite Bereiche sinnhafter Formen enthält, in denen sich die Menschen einer Epoche ihre Welt zurechtlegen, nicht mit dem Ereigniszusammenhang selbst zusammen?[12]

Wenn aber die Fokusierung auf wenige, politisch besonders wirksame Begriffe nur eine methodische Operation ist und unter den Begriff der Semantik jeder ‚Gegenstand‘ dieser Art zu fallen hat, dann wird fraglich, welche ‚Gegenstände‘ der Geschichtswissenschaft einer ‚Sozialgeschichte‘ zuzurechnen sind.Worin kann überhaupt die Identität eines sozialen Sachverhaltes bestehen, wenn dieser nicht durch Texte, Begriffe und Gedanken geformt und erinnert wird? Ein vorsichtig in Klammern gesetztes Fragezeichen im folgenden Zitat zeigt, daß dieses Problem auch für Koselleck alles andere als klar ist. So schreibt er, daß die Geschichtswissenschaft nicht nur an identischen Wortkörpern festhalten darf, sondern sie muß auch “die Vielzahl der Benennungen für (identische?) Sachverhalte registrieren” (BS,30, Herv.WK).

Worin aber besteht die Identität eines historischen Sachverhaltes, wenn ‚er‘ doch mit unterschiedlichen Wortgestalten benannt wird? Was berechtigt dazu, von Bürgern, Nationen oder Kapitalismus zu sprechen, wenn in der Sprache der Zeit kein Begriff für diese Entitäten vorliegt? Koselleck selbst zeigt, daß es notwendig ist, Parallel- und Gegenbegriffe zu verfolgen und ganze semantische Felder auszumessen (vgl. BS,32), um die ‚Orte‘ zu bestimmen, an denen sich neue oder sich verändernde Begriffe einschreiben. Es sind also nicht ‚identische‘ Sachverhalte, die unterschiedliche Benennungen erfahren, sondern Verschiebungen und Anachronismen in einem semantischen Gefüge, die sich nachweisen lassen. Um aufzuzeigen, wie sich, so Kosellecks Beispiel, die verschiedenen Bedeutungen des Wortes ‚Bund‘ in der Geschichte verorten lassen, ist stets nur der Rekurs auf andere Begriffe und umfassendere Semantiken möglich, nicht der Rückgriff auf einen identischen Sachverhalt. Schließlich kann davon, daß diese Begriffe “die Geschichte auch ’sachlich‘ gliedern” (BS,32), das machen die Anführungszeichen klar, auch Koselleck nicht mehr im eigentlichen Sinn sprechen. Was aber ist dann überhaupt der ’sachliche‘ Gegenpol zu semantischen Prozessen? Inwiefern kann eine Sozialgeschichte als Geschichte von Ereignissen und Strukturen begriffen werden, die unabhängig von der sinnhaften Welt der Menschen geschieht? Sind nicht geschichtliche Sachverhalte und soziale Strukturen immer unablösbar mit dem Wissen und Wollen der sozialen Akteure verbunden?

Die ‚alteuropäische‘ Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt ist, das zeigen Kosellecks Schwierigkeiten, die Sachgeschichte als Korrelat zur Begriffsgeschichte anzusetzen, schon in den theoretischen Überlegungen zur Erforschung der historischen Semantik nicht mehr eindeutig formulierbar. Es wird also nicht verwundern, daß auch die begriffsgeschichtlichen Forschungen im systemtheoretischen Rahmen, die hier anschliessen,  es zunächst mit ähnlichen Schwierigkeiten zu tun haben.

 

  1. Sinn, Struktur und Semantik in der Systemtheorie

Kosellecks Ausführungen legen zwei Gedanken nahe: Erstens erschöpft sich das Geschehen eines politisch-sozialen Systems nicht in dem, was gesprochen und geschrieben wird; zweitens kann das, was ‚mehr‘ geschieht, aber nicht als unabhängiger und eigenständiger Zusammenhang angesehen werden. Für die Systemtheorie stellt sich damit die Aufgabe, Unterschied und Zusammenhang der beiden Ordnungen begrifflich darzustellen. Um die Schwierigkeiten, die die Systemtheorie mit dieser Aufgabe hat, sichtbar zu machen, werde ich zunächst einige Grundgedanken der Theorie vergegenwärtigen und sodann zeigen, wie in diesem Zusammenhang die ‚alteuropäische‘ Problematik wieder auftaucht.

Systeme lassen sich allgemein als Ordnungsleistungen begreifen. Die Ordnung von Systemen ist nicht objektiv, da sie nicht einfach vorliegt, sondern ständig in nicht determinierter Weise gebildet wird. Sie ist aber auch nicht subjektiv, da in ihr mehr und anderes geschieht, als ein Bewußtsein steuern könnte. Systeme relationieren Elemente und schaffen sich selbst als eine Ordnung, die gegenüber der Mannigfaltigkeit der Umwelt stärker verknüpft, weniger komplex ist. Die so gedachten Ordnungen existieren nur in der Zeit, d.h. solange sie sich fortsetzen. Das bedeutet, daß für Systeme keine zeitunabhängige rationale oder natürliche Ordnung gegeben ist, sondern einzig und allein das, was zu einem Zeitpunkt durch die ‚Vorgeschichte‘ des Systems an Möglichkeiten aufschein.[13] Um weiterzumachen muß angeschlossen werden, muß die Vielzahl von Möglichkeiten auf eine beschränkt werden, mit der fortgefahren wird. Genau dieser ‚Rhythmus‘ von sich öffnenden Möglichkeiten und bestimmtem Anschluß bezeichnet in sozialen und psychischen Systemen die Form von Sinn. ‚Sinn‘ bedeutet in der Systemtheorie also nicht eine geistige Einheit im Gegensatz zu einer natürlichen, sondern einen bestimmten Ordnungsmodus, der sich dadurch auszeichnet, daß seine “Verweisungsstruktur”[14] eine Vielzahl von Möglichkeiten bereithält, aus der jeweils eine ausgewählt werden muß, was wiederum eine Vielzahl eröffnet usw.

Die Wahl im Anschluß ist nicht determiniert, aber auch nicht völlig zufällig. Das System kann sich nur als ‚es selbst‘ fortsetzen, wenn “die Gleichwahrscheinlichkeit jedes Zusammenhangs einzelner Elemente (Entropie)” (SoS,386) aufgehoben wird. Gegen eine völlige Unbestimmtheit schränkt das System die Möglichkeiten des Anschlusses ein und orientiert das Weitermachen durch Struktur. Der Strukturbegriff bezeichnet so keine übersituative Ordnung, sondern genau die Selektionsbeschränkung, die für ein System im Moment des Anschlusses wirksam ist. ‚Struktur‘ heißt also in der Rhythmik des Sinns die Phase, in der sich bestimmt, welche Möglichkeit gewählt werden wird. Als Moment des Sinngeschehens ist Struktur stets Sinnstruktur. ‚Struktur‘ bezeichnet das Verhältnis, durch das die eine Möglichkeit ’näherliegt‘ als die anderen. Strukturen bilden somit keine externen Rahmenbedingungen für Sprechen, Denken und soziales Handeln, sondern ein Moment solchen Sinngeschehens selbst.

Wenn wir nun diesen zentralen Bereich der Systemtheorie verlassen und die Ausführungen über Gesellschaftsstruktur und Semantik betrachten, dann scheint das, was bisher mit dem Begriff Struktur bezeichnet wurde, hier als Semantik begriffen zu werden. Das ist zunächst nicht sonderlich erstaunlich, da ja Sinnstrukturen durchaus als Semantiken, also als ‚Bedeutungsfiguren‘ bezeichnet und näher begriffen werden könnten. Irritiert wird dieses Verständnis, wenn man feststellt, daß Luhmann den Begriff der Semantik als Korrelat, also in Differenz zu dem der Gesellschaftsstruktur diskutiert. Worin aber kann diese Differenz bestehen, wo doch auf beiden Seiten der Unterscheidung Sinnstrukturen stehen?

Um diese Frage zu klären, gilt es, die Verwendung der Begriffe genauer zu betrachten. Im Vorwort zu Gesellschaftsstruktur und Semantik stellt Luhmann zwei Dinge für seine Untersuchungen klar: Erstens, daß er das “kulturgeschichtliche Material”, das er Semantik nennt, “als Korrelat sozialstruktureller Veränderungen” zu betrachten gedenkt und daß dieser Ansatz es zweitens ausschließt, von einer Ideenkausalität auszugehen, da “im historischen Prozeß nicht der Gehalt von Ideen, sondern allenfalls die Kontingenz von Ideen kausal wirken kann” (GS1,7f). So grenzt sich Luhmann explizit von Max Weber als Protagonisten der These einer Wirkungsrichtung von Semantik auf Struktur ab. Eine umgekehrte Abgrenzung gegenüber beispielsweise einer materialistischen Position, nach der gewiße Strukturen Semantiken bedingen, unternimmt Luhmann nicht. Gleichwohl spricht er von einer Korrelation, einer Zusammenknüpfung, die Wechselseitigkeit andeutet. Was wird korreliert? Neben den schon genannten Begriffen Semantik und “Ideengut” (GS1,17) spricht Luhmann auf dieser Seite der Verknüpfung auch von der “Bewußtseinslage einer Gesellschaft” (GS1,24) und von der “Sinnwelt …, in der der Mensch lebt” (GS1,35). Auf der anderen Seite finden sich Begriffe wie “Sozialstruktur” (GS1,32), “Ausdifferenzierung des Gesellschaftssystems” (GS1,25) oder einfach nur die “Gesellschaft” (GS1,17). Damit sind zwei Ebenen bezeichnet, wovon die eine eine für die Systemtheorie merkwürdige Neigung zu subjektivistischen Attributen zeigt, die zweite als objektive Realität erscheint. Wie kommt diese Schieflage zustande?

Die zu Beginn des einführenden Aufsatzes[15] angestellten theoretischen Ausführungen (GS1,17-21) zum Verhältniss der Begriffe Sinn und Semantik werfen noch kein Problem auf. Luhmann stellt in diesem Abschnitt im Großen und Ganzen die Standardüberlegungen zum Sinnbegriff vor, nur daß er hier die Stabilisierungsfunktion nicht mit ‚Struktur‘, sondern mit ‚Semantik‘ benennt.

“Ohne jeden Bezug auf Typen wäre Sinn, wo er auftaucht, zunächst unterbestimmt, unverständlich, inkommunikabel (…). Aber immer wenn (…) unspezifizierter Sinn passiert, setzen Bemühungen ein, Anomie zu beseitigen und ordentlichen Sinn, regulär verwendbaren Sinn, typifizierten Sinn zu ermitteln. Man bemüht Interpretationen, Zuordnungsversuche oder auch Verdrängungen, um das Problem ins Verkehrsübliche zu normalisieren. Evolutionstheoretisch gesehen, ist das Selektion, und Selektion richtet sich, zunächst jedenfalls, weitgehend nach dem vorhandenen Typenschatz und nach dem, was durch Bezug auf bekannte und vertraute Muster stabilisierbar ist.

Die Gesamtheit der für diese Funktion benutzbaren Formen einer Gesellschaft (im Unterschied zur Gesamtheit der Sinn aktualisierenden Ereignisse des Erlebens und Handelns) wollen wir die Semantik einer Gesellschaft nennen, ihren semantischen Apparat, ihren Vorrat an bereitgehaltenen Sinnverarbeitungsregeln. Unter Semantik verstehen wir demnach höherstufig generalisierten, relativ situationsunabhängig verfügbaren Sinn.” (GS1,18f)

 

Was an dieser Einführung und Definition von ‚Semantik‘ auffällt, ist zunächst, daß Semantik im Prozessieren des Systems genau die Funktion erfüllt, die in den allgemeineren Überlegungen Strukturen einnehmen. Die Selektion wird eingeschränkt, indem das System auf Muster rekurriert, die es als Regel für das Weitermachen verwendet. Eine leichte Nuancenverschiebung ist allenfalls dahingehend festzustellen, daß mit ‚Semantik‘ eine “Gesamtheit” und ein “Vorrat” von “höherstufig generalisierten” Selektionsmustern angedeutet ist, während der Begriff Struktur mehr auf die im Anschluß aktual wirksame “’innere Führung’” (SoS,384) abhob. So verstanden, ließen sich Semantiken als Strukturen begreifen, die durch ihren höheren Generalisierungsgrad fester und über größere Zeitdistanzen hinweg verfügbar wären.

Dieses Verständnis kollidiert aber mit der weiteren Begriffsverwendung durch Luhmann. So zeigt beispielsweise ein Blick in den Aufsatz Frühneuzeitliche Anthropologie: Theorietechnische Lösungen für ein Evolutionsproblem der Gesellschaft[16], daß Ideen durchaus nicht als besonders stabil und langfristig wirksame Struktur fungieren, sondern im Gegenteil als “relativ kurzfristige semantische Umstrukturierung … in dem historisch sehr viel weitläufigeren und längerfristigen Prozeß des Umbaus der Differenzierungsform eine Überleitungsfunktion”(GS1,173; Herv.WK)[17]erfüllen.

Semantische Strukturen zeichnen sich demnach gegenüber Strukturen der Differenzierungsform nicht durch ihre höhere Allgemeinheit und Veränderungsresistenz, sondern gerade durch ihre Variabilität aus. In “der verkürzten und zugespitzten Form generalisierter Begriffe” (GS1,173) zeichnet beispielsweise die Semantik der frühneuzeitlichen Anthropologie schon vor, “was in den großen Funktionssystemen der Gesellschaft sehr bald darauf konzeptionell und institutionell geleistet werden muß.” (GS1,194) Damit ist deutlich ausgedrückt, daß Semantiken eine Funktion für ein strukturelles Geschehen erfüllen, das langfristiger, umfassender und tiefgreifender ist, als eine Ideenevolution je sein kann, nämlich für den Umbau der gesellschaftlichen Differenzierungsform. Doch wie sind diese Strukturen der Differenzierungsform zu verstehen? Sind sie nicht in das autopoietische Prozessieren des Gesellschaftssystems eingebunden? Haben wir es mit drei Arten von Strukturen zu tun: a) aktuelle Selektionsbeschränkungen, b) Semantiken und c) Gesellschaftsstrukturen? Und wenn dem so ist, dann stellt sich die Frage, worin die Differenz zwischen diesen ‚Formen‘ besteht. Unterscheiden sie sich nur in der ‚Größenordnung‘ oder auch in der Qualität?

So sehr sich Luhmann gegen den Gedanken einer ‚Ideenkausalität‘ abgrenzt, so scheint ihm der umgekehrte einer Bedingtheit von Ideen durch gesellschaftliche Strukturen wenig Sorgen zu machen.[18] Eine Reihe von Formulierungen legt sogar nahe, daß Luhmann nicht darauf hinaus will, daß Semantiken in einem symmetrischen Wechselverhältnis mit Strukturen wirken, sondern die stärkere Annahme macht, daß sie stets reaktiven Charakter haben. So spricht er davon, daß “strukturelle Veränderungen … Ausgangslagen für Semantikbedürfnisse tangieren” (GS1,29, Herv. WK). und daß “die Differenzierungsform … semantische Korrelate produziert.” (GS1,34, Herv.WK)

Mit solchen Formulierungen legt Luhmann nahe, daß mit Begriffen wie “Differenzierungsform” Strukturen angesprochen sind, die jenseits des systemischen Sinngeschehens stehen und von dort aus wirksam werden. Damit scheint er auf Ordnungsinstanzen zu rekurrieren, die die Systeme nicht, wie das sonst für Strukturen gilt, “durch ihre eigenen Operationen erzeugt haben und ständig erneuern oder durch andere ersetzen.” (GS4,60) Wäre dieser Rekurs der letzte Schluß systemtheoretischer Wahrheit, dann wären Grundentscheidungen der Systemtheorie aufgehoben. Gesellschaftliche Strukturevolution wäre ein systemtranszendenter Begriff, ein Ordnungsmechanismus, der jedem systemischen Geschehen zugrundeliegt, ohne von diesem selbst wiederum beeinflußt zu sein. So begriffen würde sich die Systemtheorie im Grunde nicht von einem naturalistischen Ansatz unterscheiden.

Nun ist aber die Systemtheorie sicherlich keine naturalistische Konzeption in dem Sinne, daß sie eine systemtranszendente Natur als wirkende Grundlage für systemische Prozesse annähme. Vielmehr zeichnet sie gerade aus, daß sie Systeme als operational geschlossen begreift, so daß sämtliche ‚Umweltgegebenheiten‘ im System nur nach dessen eigenen strukturellen Vorgaben zur Geltung kommen. Für soziale Systeme heißt das, daß sie, gleichgültig womit sie es zu tun haben, alles in der Form von Sinn verarbeiten (vgl. SoS,95). Was den Zusammenhang von Evolution, Komplexität, Sozialstruktur und Semantik anbelangt, so würde eine naturalistische Konzeption etwa folgendermaßen aussehen: eine natürliche Evolution bedingt höhere Komplexität (der natürlichen Ausstattung des Menschen), was kompliziertere soziale Strukturen erforderlich und möglich macht, worauf schließlich auch das, was gedacht und gesprochen wird, sich einstellt. Wir hätten also folgendes evolutionäres Bedingungsgefüge:

 

Komplexitätssteigerung > Veränderung der sozialen Differenzierungsform > Ideenevolution

Luhmann bleibt nun der soziologischen Theorie so weit treu, daß er dieses Schema nicht übernimmt. So läßt sich zunächst feststellen, daß für Luhmann die Differenzierungsform der Komplexität zugrundeliegt und nicht umgekehrt: “Steigerung der Komplexität ist … eine Nebenfolge von strukturellen Umlagerungen, vor allem von Änderungen der Differenzierungsform.” (GS1,22; vgl.39) Des weiteren ist zu lesen, daß Komplexität “eine – und wohl die weitreichendste – intervenierende Variable“ sei, “die zwischen evolutionär ausgelösten Strukturänderungen und Transformationen der Semantik vermittelt.” (GS1,22) Da, wie wir schon gesehen haben, Semantik eher durch die Gesellschaftstruktur bedingt ist als umgekehrt, erhalten wir folgendes Schema:

Umbau der Differenzierungsform > Komplexitätsveränderung > Entwicklung der Semantik.

Daß an der Stelle der Grundlage des Bedingungsgefüges die soziale Struktur der Differenzierungsform und nicht eine naturhafte Evolution oder eine rein quantitativ erfaßbare Form von Komplexität steht, zeigt, daß Luhmann auch hier die Systemtheorie antinaturalistisch konzeptioniert. Systeme lassen sich weder auf Natur, noch auf reine Form zurückführen. Dennoch trägt auch das von Luhmann entworfene Bedingungsgefüge Züge einer solchen ‚alteuropäischen‘ Begründungsfigur in sich. Allein die Tatsache, daß die Differenzierungsform als eine Struktur gedacht wird, die Komplexität und Semantik bedingt, aber selbst nicht bedingt zu sein scheint, zeigt, daß sie, ohne in ihrem Gehalt ein naturaler oder rationaler Letztgrund zu sein, doch an dieser systematischen Stelle positioniert wird. Die Differenzierungsform ist das Explanans, das es erlaubt, beispielsweise die frühneuzeitliche Anthropologie als Explanandum zu untersuchen (vgl. GS1,194). Gegen einen Versuch, die Übergänge zwischen Differenzierungsformen selbst auf ihre Bedingungen hin zu befragen, hat Luhmann Vorkehrungen getroffen. Fragt man nämlich danach, welche strukturellen Bedingungen (vielleicht Semantiken?) dazu geführt haben, daß sich strukturelle Bedingungen (z.B. die Differenzierungsform) verändert haben, so stellt sich heraus, daß Luhmann dieser Frage zuvorkommt, indem er versichert, daß eine Änderung der Differenzierungsform “evolutionär … zufällig” (GS1,43) vonstatten gehe. Betrachtet man diesen Zufall genauer, so ergibt sich, daß er allgemein “selten” (GS1,43) und bei dem zweiten (von zwei!) Übergängen “ein einziges Mal realisiert worden” (GS1,27) ist. Erstaunlich ist dann, wenn Luhmann in diesem Zusammenhang davon spricht, daß es nach diesen Übergängen “typisch” dazu kommt, daß sich eine neue “Grundsemantik” (GS1,39) konsolidiert. Wenn ein Phänomen in der Geschichte nur in zwei Varianten aufgetreten ist, wovon über die eine wenig bekannt, die andere aber nur einmal aufgetreten ist, dann erscheint der Schluß auf typischeFolgen zumindest gewagt. So zeigt sich hier ein bemerkenswerter Reduktionismus von regelmäßig bedingten Effekten auf einen Grund, der selbst unbedingt agiert – wesentlich anders war der erste Beweger der Metaphysik auch nicht konzipiert.

Was veranlaßt Luhmann dazu, solche systemtheoretisch widersprüchlichen Anstrengungen zu unternehmen, die Differenzierungsform aus dem Spiel der Strukturierung und Restrukturierung herauszuhalten? Vermutlich eine Implikation der diesen Abschnitt einleitenden Frage: wenn nämlich die Differenzierungsform ebenso wie der “Typenschatz” (GS1,19) der Semantik sich aufgrund struktureller Bedingungen strukturell verändert, dann könnte es am Ende so aussehen, als wären Gesellschaftstruktur und Semantik ein und dasselbe. Es war aber gerade erste Evidenz und Ausgangspunkt soziologischer Erkenntnis, wie die angeführten Zitate von Marx und Durkheim zeigen, daß die Gesellschaft ‚mehr‘ und ‚anderes‘ ist, als das, was die in ihr lebenden Menschen gerade denken, sprechen und wissen. Wie könnte man also ein Theorem wie das der Ausdifferenzierung, das beste soziologische Provenienz nachweisen kann[19], in seinem faktischen und von jedem Denken oder Sprechen unabhängigen Gehalt anzweifeln?

Die für die Soziologie konstitutive Erkenntnis, daß es ‚objektive‘ Sachverhalte dieser Art in der sozialen Welt gibt, könnte also auch für die Systemtheorie Anlaß gewesen sein, ihre monistische Theoriekonzeption aufzuweichen. Doch wird sich im Folgenden zeigen, daß innerhalb der Theorie begriffliche Mittel aufgeschlossen werden können, die eine Formulierung der Vermittlung von Semantik und Struktur erlauben. Ein Seitenblick auf hermeneutische Konzeptionen wird in der Frage, welcher Art diese Mittel sein könnten, weiterhelfen.

 

  1. Semantik und Struktur in der philosophischen Hermeneutik

Eine mögliche Antwort, worin für eine systemtheoretische Konzeption der Unterschied zwischen Strukturen und Semantiken besteht, hat sich schon als ungenügend erwiesen. Denn es ist keine Frage von Variabilität bzw. Invariabilität, die die einen Formen zu Semantiken, andere zu Gesellschaftsstrukturen macht. Beide Formen sind gegenüber dem systemischen Prozeß durch relative Starrheit ausgezeichnet, was es ermöglicht, daß sie, jeweils aktualisiert, zum Anschluß neuer, anderer und doch ’systemeigener‘ Elemente führen. Neben der klassischen Unterscheidung von invariablen (konstanten, ewigen, wesenhaften) und veränderlichen Gegebenheiten bietet die Tradition eine Reihe von Unterscheidungen, mit denen eine Differenz von Semantik und Struktur bezeichnet werden könnte. Herkömmlich werden, wie gesagt, Unterschiede dieser Art als die zwischen Subjektivem und Objektivem beschrieben. Ideen, Begriffe und Bedeutungen sind als res cogitans dem Subjekt zugeordnet, während die Ordnung der Dinge (res extensa) als objektive Realität vorliegt. Eine ähnliche Funktion erfüllen verwandte Gegensätze wie geistig/materiell, beseelt/unbeseelt, belebt/unbelebt oder bewußt/unbewußt, die stets  dazu führen, das Subjekt per Rationalität, Gottnähe, Lebendigkeit oder Bewußtheit aus einer folglich nur sachlichen Welt herauszuheben und dieser gegenüberzustellen.[20] Für die Systemtheorie ist keine dieser Unterscheidungen anwendbar, um das Problem von Struktur und Semantik zu lösen. Denn ihre Anlage liegt quer zu diesen Unterscheidungen. Sie ist ’subjektivistisch‘ nur insofern, als für sie jede Realität und jedes Objekt stets Realität und Objekt eines Systems ist; ‚objektivistisch‘ nur insofern, als für sie das Beobachten entlang der Differenz von Selbstreferenz und Fremdreferenz systemkonstitutiv und damit realitätsproduktiv ist. So ist für die Systemtheorie die Entwicklung von Ideen, Themen und Begriffen selbst ein ‚objektives‘ Geschehen, nicht bloß Abbild oder subjektiver Schein eines objektiven Seins. Und dennoch meint ‚Objektivität‘ hier kein konstantes und beobachtungsunabhängiges Wesen, sondern eine Qualität der Autopoiesis, der ‚Selbstherstellung‘ von Systemen. Eine Differenz zwischen Systemstrukturen und zugehörigen Semantiken kann nicht als die zwischen einem erkenntnisfähigen Subjekt und einem erkennbaren Objekt begründet werden.[21]

Die Schwierigkeiten, die Differenz zwischen Semantiken und Strukturen theoretisch zu begreifen, legen es nahe, den umgekehrten Versuch zu unternehmen und eine Entsprechung oder gar Identität der beiden Ordnungsformen anzunehmen. Da die materialistische Reduktion von Ideen und Begriffen auf ökonomische Grundbedingungen nicht mehr sehr vielversprechend scheint, bleibt nur der Versuch, gesellschaftliche Strukturen als textuelle bzw. textanaloge Ordnungen zu begreifen. Einen solchen Versuch hat Paul Ricoeur in seinem Aufsatz Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehenunternommen.[22] Er führt dort aus, daß die Humanwissenschaften[23] als hermeneutische aufzufassen seien, da sie es mit einem ähnlichen Gegenstand und mit einer der Texthermeneutik verwandten Methodologie zu tun haben. Das Vorgehen Ricoeurs besteht darin, die Weise, in der sich Handeln in sozialen Strukturen manifestiert, mit der zu vergleichen, in der sich Sprechhandlungen zu Texten objektivieren. Er kommt zu dem Ergebnis, daß in beiden Fällen eine Abstraktion von der konkreten Situation mit der Produktion einer selbstständigen Bedeutung einhergeht. Wie in der Vertextlichung des Diskurses machen sich auch im Handeln Bedeutungen selbständig, indem sie Wirkungen jenseits der unmittelbaren Intentionen des Autors bzw. Akteurs zeitigen (TM,95f). 

Um zu erklären, daß Handlungen ebenso wie Texte nicht nur sinnhaft sind, sondern als sinnhafte Auslegungen von etwasbegriffen werden müssen, greift Ricoeur auf Untersuchungen von Handlungstheoretikern wie E. Anscombe und A.I. Meldon zurück (TM,106). Diese hatten gezeigt, daß Handlungen erst im Rahmen von Motiven – wie z.B. ‚aus Eifersucht‘ – verständlich gemacht und legitimiert werden können. Für Ricoeur ist nun entscheidend, daß das Motiv nicht nur im nachhinein als Grund, sondern zuvor schon als Ursache der Handlung fungiert. Im Handeln wird nicht nur etwas ausgeführt, was im nachhinein interpretiert wird, sondern zugleich wird “die Motivationsbasis der Handlung …, d.h. jener Satz von Wertfiguren, die sie ‚erklären‘ können” ebenfalls “konstruiert“ (TM,107; Herv. im Orig.). Die Handlung rührt von etwas, als das sie verstanden werden kann und will. Eine Tat ‚aus Eifersucht‘ ist nicht nur im nachhinein als solche interpretierbar, sondern das Motiv Eifersucht richtet schon den konkreten Handlungsablauf der Tat ein.[24] Insofern kann man davon sprechen, daß die Handlung selbst schon in ihrem Vollzug einen interpretativen Charakter hat, daß sie die Struktur ‚etwas tun als etwas‘ besitzt.

Diese ansonsten nur von propositionalen Akten angenommene Struktur (‚etwas als etwas‘ – aussagen) liegt nun für Ricoeur nicht nur der einzelnen Handlung, sondern ebenso der Sozialstruktur als “Sedimentierung” (TM,97) von Handlungen zugrunde. So kann Ricoeur formulieren:

“In derselben Weise wie Sprachspiele Formen des Lebens sind – nach dem berühmten Aphorismus von Wittgenstein -, sind soziale Strukturen ebenfalls Versuche, mit den existenziellen Ängsten, Schwierigkeiten und tiefverwurzelten Konflikten fertig zu werden. In diesem Sinne haben die Strukturen ebenfalls eine Verweisungsfunktion. Sie verweisen auf die Aporien der sozialen Existenz, auf die gleichen Aporien, um die das mythische Denken kreist.” (TM,115)

Die Vergleichbarkeit von sozialen Strukturen mit Texten liegt für Ricoeur darin, daß beide Objektivationen eines weltauslegenden Tuns sind, in dem etwas als etwas erscheint. Wie Texte auf ihren Gegenstand verweisen, verweisen soziale Strukturen auf eine tiefere Schicht des sozialen Lebens, auf existenzielle Grundbedingungen und Konflikte. Nach dieser These sind soziale Strukturen und Texte systematisch identisch gebaut, lediglich in der Weise der Manifestierung, einmal in schriftlicher, das andere Mal in sozialstruktureller Form, bestünde eine Differenz. Daß dieser Unterschied für eine systemtheoretische Unterscheidung nicht hinreicht, habe ich oben kurz angedeutet (s.o. Fußn.). Für eine systematische Unterscheidung, die dem Befund, daß sich Semantiken und Strukturen nicht aufeinander reduzieren lassen, gerecht wird, bedarf es einer Erklärung darüber, wie das systemische Sinngeschehen zum einen in Texten, zum anderen in sozialen Strukturen mündet. Es bedarf einer begrifflichen Klärung dessen, worin sich schon die Formen der Verweisung, nicht erst ihre Produkte unterscheiden. Was  unterscheidet die gesellschaftliche Produktion sozialer Strukturen von der sozialer Semantiken?

Um diese Frage systematisch tiefer anzugehen, lohnt es sich, auf ein Buch zu rekurrieren, das als Quelle der Ricoeur’schen Überlegungen in verschiedenen Passagen durchscheint. So kann es als ein zentrales Argument von Martin Heideggers Sein und Zeit[25] angesehen werden, daß nicht erst in expliziten Darstellungen, sondern schon in den alltäglichen Besorgungen und im Umgehen mit den Dingen und Mitmenschen Welt bedeutsam und in diesem Sinne ‚eröffnet‘ wird. Schon auf dieser Ebene, auf der nichts ausdrücklich benannt und eigens dargestellt wird, verstehen die Menschen sich in ihren Lebensvollzügen. So ist für Heidegger die Als-Struktur des Verstehens schon im unthematischen Umgehen mit den ‚Gegenständen‘ der Welt gegeben. Alles Tun geschieht schon in einer “Bewandtnisganzheit” (SZ,84), in der es bedeutsam und damit als etwas erscheint. Handlungen bewegen sich damit immer in einer sinnhaften Sphäre, die, jeweils vorgegeben, vorzeichnet, als was ein Handeln geschehen kann. So kann sich Ricoeur auf Heideggers Analyse des In-der-Welt-seins stützen, wenn er die Als-Struktur von Handlungen und ihrer Objektivationen, den sozialen Strukturen, aufweisen möchte.

Doch der Rekurs auf Heidegger zeigt, folgt man dessen Argumentation genauer, das Gegenteil der Annahmen Ricoeurs. Denn Heidegger unterscheidet das ‚elementare‘ Handeln in einer Bewandtnisganzheit von einer Verweisung im Sinne einer propositionalen Referenz. Zwar gründet auch die propositionale Auslegung in der ‚ursprünglichen‘ Offenheit des Daseins (vgl.SZ,76ff;148ff), doch sind umgekehrt deren Bezüge nicht als Aussage von etwas zu begreifen. Die Aussage-Struktur ist für Heidegger vielmehr eine Reduktion der elementaren Verweisungen. Die Weise, in der die Aussage die Welt auslegt, reduziert das Umgehen mit dem alltäglich Zuhandenen auf ein “Nur-hinsehen” (SZ,69). Der Einschnitt dieser Reduktion ist so gravierend, daß in der Form der Aussage selbst die Als-Struktur einen eingeschränkten und speziellen Sinn erhält.

“Das Was, als welches die Aussage das Vorhandene bestimmt, wird aus dem Vorhandenen als solchen geschöpft. Die Als-Struktur der Auslegung hat eine Modifikation erfahren. Das ‚Als‘ greift in seiner Funktion der Zueignung des Verstandenen nicht mehr aus einer Bewandtnisganzheit. Es ist bezüglich seiner Möglichkeiten der Artikulation von Verweisungsbezügen von der Bedeutsamkeit, als welche die Umweltlichkeit konstituiert, abgeschnitten. Das ‚Als‘ wird in die gleichmäßige Ebene des nur Vorhandenen zurückgedrängt. Es sinkt herab zur Struktur des bestimmenden Nur-sehen-lassens von Vorhandenem. Diese Nivellierung des ursprünglichen ‚Als‘ der umsichtigen Auslegung zum Als der Vorhandenheitsbestimmung ist der Vorzug der Aussage. Nur so gewinnt sie die Möglichkeit des puren, hinsehenden Aufweisens.” (SZ,158)

Heidegger unterscheidet so das “existential-hermeneutische ‚Als’” des  ‚alltäglichen‘ Umgehens vom “apophantischen“ (SZ,158; Herv. im Orig.) der Aussage. So zeigt sich aus der Perspektive der Heideggerschen Philosophie, daß die Manifestation von Handlung in Struktur zwar in der Figur einer sinnhaften Auslegung als gedacht werden kann, womit aber nicht gesagt ist, daß in dieser Auslegung etwas als etwas zum Vorschein kommt. Denn die ‚ursprüngliche‘ Ausgelegtheit des Daseins besteht gerade nicht darin, daß ein ‚etwas‘ isoliert, vorgestellt und ‚als etwas‘ kategorisiert wird. Das ‚ursprüngliche ‚als etwas‘-Behandeln bleibt innerhalb der Verweisungsbezüge einer zugrundeliegenden Bewandtnisganzheit. So hören wir, um ein Beispiel Heideggers aufzugreifen (vgl. SZ,163f), für gewöhnlich nicht Töne und Laute, die wir in einem zweiten Akt als Geräusch eines sich nähernden Motorrades vernehmen, sondern wir hören unmittelbar das Motorrad. Die Herauslösung einer reinen Empfindung ist ein sekundäres Verhalten, das eine besondere Einstellung zur Welt erfordert. Zunächst ist im Bewandtniszusammenhang ein Phänomen als etwas, unmittelbar bedeutsam gegeben.

Dagegen besteht die besondere Leistung des ‚etwas von etwas aussagen‘ darin, daß eine Entität aus ihren Verweisungszusammenhängen herausgelöst wird. Das Geräusch wird isoliert (“Dieses, hörst du es nicht?”) und so zur semantischen ‚Bearbeitung‘ freigesetzt. Es kann nun propositional bestimmt (“Es ist laut, knattert, nähert sich, wirkt gefährlich.”) oder befragt werden (Hört sich das nicht nach x,y an?). Die Differenz liegt also in der Weise, in der eine Bezugnahme referiert. Texte, Aussagen und Begriffe referieren auf Objekte die sie mehr oder weniger deutlich explizieren und thematisieren, indem sie sie eigens herausstellen und so bestimmbar machen. Die ‚ursprüngliche Auslegung‘ produziert ebenso sinnhafte Zusammenhänge, aber sie stellt keine Objekte heraus, produziert kein ‚Anderes‘, auf das sie verweist. Ihre Produktion ist nicht in dieser Weise referentiell, sondern selbstreferentiell. Es ist nicht ein ‚etwas‘, ein ‚Anderes‘, ein ‚Vorhandenes‘, das in ihnen zum Vorschein kommt, sondern immer nur die Welt, die sie selbst bilden. In der ursprünglichen Bewandtnisganzheit öffnet und zeigt sich eine Welt, indem sie sich als diese Welt herstellt. Mit Ricoeur können wir diesen ‚ursprünglichen‘ Sinnzusammenhang als aus sinnhaftem Handeln sedimentierte soziale Struktur auffassen. Soziale Strukturen sind Sinnformen, die sinnhaft beschreibbar sind und die ‚Motive‘ und Möglichkeiten sinnhaften Verhaltens bereitstellen. Doch werden sie dabei weder selbst ausdrücklich herausgestellt, noch stellen sie etwas anderes (etwa existenzielle Grundgegebenheiten) explizit vor. Soziale Strukturen bilden eine sinnhafte Welt, indem sie sich selbst als Bestimmung von Möglichkeiten und Beschränkungen immer wieder reproduzieren.

Wenn wir diese Einsichten auf die Systemtheorie zurückwenden, dann müßte die systematische Differenz in der Vollzugsweise sinnhafter Verweisung, die Differenz zwischen unthematischem ‚als etwas‘ und thematisierendem ‚etwas als etwas‘, sich in den systemischen Prozeß, in die Rhythmik von Strukturaktualisierung und Anschlußereignis einfügen lassen. Was für Heidegger zum einen eine ‚ursprünglichere‘, zum anderen eine eher ‚abgeleitete‘ Haltung des ‚In-der-Welt-seins‘ ist, muß in der Systemtheorie als Zusammenhang zweier systemfortsetzender Prozesse begriffen werden. 

 

  1. Strukturierung und Semantisierung im Systemprozeß

In seiner jüngsten und in vielerlei Hinsicht abschließenden Veröffentlichung bietet Niklas Luhmann eine scheinbar klare Unterscheidung von Struktur und Semantik. Es scheint so, als ob sich weitere Ausführungen zu dem Problem damit erübrigen.

“So wie Beobachtungen Operationen besonderer Art sind, so sind Semantiken Strukturen besonderer Art. Man muß deshalb, im Anschluß an die Unterscheidung zwischen Operation und Beobachtung, die entsprechenden Strukturen unterscheiden: die Strukturen der Systemdifferenzierung und die semantischen Strukturen, die bewahrenswerten Sinn identifizieren, festhalten, erinnern oder dem Vergessen überlassen.”(GG,538)

Was wir im hermeneutischen Konzept soeben als Unterschied  zwischen einer Sinnform, in der etwas als etwasherausgestellt wird und einer, die sich als etwas herstellt, kennengelernt haben, erscheint in den Worten Luhmanns als der zwischen Beobachten und Operieren. Beobachten und Operieren sind zwei fundamentale Begriffe der Systemtheorie. Operation bezeichnet die “Reproduktion der ereignishaften Elemente”(SoS,79), also, um in der schon angeführten Metapher zu bleiben, einen Takt in der Rhythmik der systemischen Autopoisis. Beobachtung, genauer: Selbstbeobachtung, ist “ein operatives Moment der Autopoiesis, weil bei der Reproduktion der Elemente gesichert sein muß, daß sie als Elemente des Systems und nicht als irgendetwas anderes reproduziert werden.” (SoS,63)

Soweit scheint die Konzeption klar zu sein: In der Autopoiesis des Systems werden Elemente relationiert und diese Operation bedarf der Beobachtung, damit das System sich in Unterscheidung zu seiner Umwelt fortsetzt.[26] Doch der Schein trügt hier. Denn wenn wir nun danach fragen, worin systemtheoretisch der Unterschied zwischen Operieren und Beobachten besteht, welche verschiedenen Momente oder Funktionen diese Vollzüge in der Autopoisis bilden, dann zeigt sich, daß das Problem nur verschoben wurde.

‚Operation‘ und ‚Beobachtung‘ scheinen zwar zunächst ebenso plausibel Unterschiedliches zu bezeichnen wie ‚Struktur‘ und ‚Semantik‘. Eine Beobachtung ist, wie Luhmann immer wieder betont, eine besondere Operation. Doch worin besteht ihre Besonderheit?

Um die hier gestellte Frage in den richtigen Zusammenhang zu stellen, muß noch einmal daran erinnert werden, daß die Elemente sozialer Systeme, die durch Operationen verknüpft werden, für die Systemtheorie Kommunikationen sind. Die Frage muß also darauf zielen, in welcher Weise das Anschließen von Kommunikationen mit der Beobachtung des Anschlußes zusammenhängt. Auch bei diesem Begriffspaar geht es wieder darum, ob die Gegenüberstellung und Korrelierung durch eine ausreichend signifikante Unterscheidung begründet werden kann. Da das Verhältnis in der Weise inklusiv formuliert wurde, daß eine Beobachtung eine Operation “besonderer Art”, also jede Beobachtung eine Operation ist, stellt sich zunächst die umgekehrte Frage, nämlich, ob es überhaupt von Beobachtung losgelöste Operationen in sozialen Systemen gibt. Hier sind Luhmanns Antworten widersprüchlich. So betont er einerseits an verschiedenen Stellen (vgl. SoS,360f, 407), daß die Reproduktion des Systems unabhängig davon, ob beobachtet wird oder nicht, ablaufen kann. Denn während die operative Reproduktion nur dafür sorgt, daß Kommunikationen an Kommunikationen anschließen und entweder stattfindet oder nicht stattfindet (vgl.SoS,361), nimmt die Beobachtung “Distanz zum Geschehen” (SoS,408) ein und kann ein “höhergreifendes Ordnungsinteresse” (SoS,246) und eine “etwas komplexere Sachsicht”(SoS,408) verfolgen.

Die komparativischen Formulierungen, mit denen Luhmann die Differenz von Operation und Beobachtung darstellt, deuten in ihrer vorsichtigen Wortwahl schon darauf hin, daß auch der Unterschied dieser Unterscheidung so klar nicht ist. So bemüht Luhmann sich an anderen Stellen – ebenso vorsichtig – darzulegen, daß “Handeln und Beobachten sich wechselseitig nicht zwingend ausschließen”, daß vielmehr “nahezu zwangsläufig beides zugleich ermöglicht wird” und daß, so liest man wenige Zeilen später, in sozialen Systemen “mehr oder weniger zwangsläufig Selbstbeobachtung” (SoS,407f) entsteht. Von einem Unterschied kann daher nur als “einer wie immer minimalen, unfestgelegten Differenz von Handeln und Beobachten”(SoS,408) gesprochen werden. Diese minimale Differenz besteht nicht darin, daß Operation und Beobachtung unterschiedliche Systeme bilden, denn “beides kommt in allen autopoietischen Systemen vor” (SoS,492), sie besteht schon gar nicht darin, daß Beobachtung von einem Standpunkt außerhalb eines Systems erfolgen könnte, sondern sie kann lediglich die graduelle Differenz des ‚höhergreifend‘ und des ‚etwas komplexer‘ ausdrücken.

Der Grund für die Nähe dieser zunächst so verschieden scheinenden Operationen liegt darin, daß im sinnhaften Prozessieren sozialer Systeme jeder Anschluß eine Selektion aus einem Überschuß von Möglichkeiten darstellt, also in einer Auswahl eine Bezeichnung vornimmt. Gerade dies ist die Leistung eines Beobachtens, das formal durch die Einheit eines unterscheidenden und bezeichnenden Aktes bestimmt ist. In ihrer Funktion des Unterscheidens und systembildenden Seligierens wird daher “Selbstbeobachtung zur notwendigen Komponente autopoietischer Reproduktion.” (SoS,64; Herv.WK)

Wenn somit keine klare Distinktion, sondern nur eine graduelle Abstufung von Operationen zu Beobachtungen besteht, dann führt für das Problem von Struktur und Semantik der Rückgriff auf diese elementarere Ebene wenig weiter. Lediglich der Hinweis auf “die etwas komplexere Sachsicht” deutet an, daß die Besonderheit von Beobachtungen, Selbstbeschreibungen und Semantiken auch systemtheoretisch als eine besondere Weise des ‚Herausstellens‘ von Sinnformen ausgelegt werden kann.

Hier muß aber weitaus genauer gearbeitet werden. Um unsere Vorstellung davon, was in Systemen geschieht, wenn sie Strukturen und Semantiken bilden, mit etwas mehr Tiefenschärfe zu erfassen, werde ich im Folgenden einige Begriffe der Systemtheorie aus ihrem unmittelbaren Zusammenhang lösen und für unsere Frage heranziehen. Es handelt sich bei diesem Vorgehen aber nicht um einen willkürlichen Umbau der Theorie. Vielmehr scheint Luhmann die in Frage stehenden Versatzstücke in Die Gesellschaft der Gesellschaft stärker als zuvor hervorgehoben zu haben, da sich Bedarf an Begriffen zeigte, das soziale Sinngeschehen näher zu beleuchten. Die Begriffe und Unterscheidungen, die ich nun heranziehen werde, stehen also durchaus schon im Zusammenhang mit der Problematik von Struktur und Semantik, ohne aber bisher eigens darauf fokusiert zu sein.

In einem ersten Schritt wird die Unterscheidung von Medium und Form auf die von Struktur und Semantik bezogen. Sodann wird es sich als hilfreich erweisen, den Begriff des Mediums mit dem des Schemas näher zu bestimmen. Schließlich werden es diese Arbeiten an der Theorie erlauben, Strukturen und Semantiken als temporale Vollzüge entlang der Unterscheidung manifest/latent tiefer zu begreifen.

Die erste der Unterscheidungen, die helfen kann, die hier aufgeworfene Frage zu beantworten, ist die von Medium und Form. Luhmann führt diese Unterscheidung ein, um den Begriff der Kommunikation näher zu erläutern. Systemtheoretisch kann Kommunikation nicht, wie im klassischen Kommunikationsmodell als Übertragung von einem Bewußtsein zum anderen, sondern muß als interne Änderung des Kommunikationssystems begriffen werden. Für die Frage, was eine Kommunikation am Systemzustand ändert, ist nun die Unterscheidung von Medium und Form hilfreich. Da eine Kommunikation in einem völlig unstrukturierten ‚Raum‘ gar nicht greifen könnte, muß eine Kopplung von Elementen schon zuvor bestehen. In diesem Medium sinnhafter, aber lose gekoppelter Elemente “fügt … eine Form dieselben Elemente … zu strikter Kopplung zusammen.” (GG,198) Genauer betrachtet muß die Unterscheidung von Medium und Form bzw. lose und strikt gekoppelten Elementen temporal, als Bewegungen gedacht werden. “Man müßte”, schreibt Luhmann, “von Koppeln und Entkoppeln sprechen. Das Medium wird gebunden – und wieder freigegeben.” (GG,199) Die Bewegung zum Medium führt zu schwächer gebundenen, aber zeitlich stabileren Kopplungen. Sollen dagegen Formen erhalten bleiben, so ist dies “nur über besondere Vorkehrungen wie Gedächtnis, Schrift, Buchdruck”(GG,200) möglich. Solche eigens bewahrten Formen nennt Luhmann auch hier wieder Semantiken. Da aber auch Semantiken autopoietisch reproduziert und, trotz Imprägnierung gegen Variation und Verschwinden, der Temporalität des Systems unterworfen bleiben, muß wohl von Semantisierung systemischer Elemente gesprochen werden. Umgekehrt führt die Gegenbewegung des Entkoppelns aber nicht auf einen völlig unstrukturierten Zustand, denn auch das Medium besteht schon in einer, wenngleich losen, Kopplung von Elementen. Dabei ist ‚Medium‘ in dieser Unterscheidung der problematische Begriff. Er nimmt als Gegenpol zu ‚Form‘ den systematischen Ort ein, an dem in den formalen, Spencer Brown folgenden Ausführungen, der unmarked space steht. So trägt er der Einsicht Rechnung, daß Kommunikationen sich niemals in einen völlig unstrukturierten Raum einschreiben, sondern immer schon aus in irgendeiner Weise vorliegenden Möglichkeiten schöpfen. Damit stellt sich aber die Frage, welcher Art die Ordnung ist, die durch die der Semantisierung entgegengesetzten Bewegung hergestellt wird.

Luhmann führt die Unterscheidung von Medium und Form durch eine Analogie zur Wahrnehmung ein: Licht als Medium wird in der Wahrnehmung zu bestimmten Konturen und Gestalten. Für soziale Systeme spricht er davon, daß konkrete Sätze sich in ein Medium von “lose gekoppelten Worte(n)” (GG,197) einschreiben. Als Medium werden die Worte zu Sätzen verbunden, ohne dabei verbraucht zu werden. Doch kann dieses Beispiel nicht überzeugen. Denn worin soll eine – auch lose – Kopplung von Worten bestehen, wenn nicht in Sätzen? Man könnte allenfalls an lexikalisch erfaßbare Wortfelder und Begriffssysteme denken, was dann aber schon darauf hindeutete, daß das Medium nicht aus freischwebenden, sondern aus in dieser Weise verknüpften Elementen besteht. Zudem erklärt die Annahme, daß das Medium nicht aus atomarem Material, sondern aus elementaren Verknüpfungen geringer Konsistenz und Kohärenz besteht, wesentlich besser, wie es das Produkt einer Entkopplung von Formen und Semantiken sein kann. Denn die Dekomposition von Sinnformen kann systemtheoretisch immer nur zu Sinnelementen führen, also zu Verweisungsmöglichkeiten, nicht zu substantiellen Atomen; Elemente sind stets Elemente des Systems, aus dem sie sich bilden (vgl. SoS,42).

Der Gedanke einer lose gekoppelten Sinnform läßt sich näher begreifen, wenn wir einen weiteren Begriff heranziehen, den Luhmann zur Kennzeichnung von Sinnformen einführt: den des Schemas. Schemata werden vorgestellt als “Sinnkombinationen, die der Gesellschaft und den psychischen Systemen dazu dienen, ein Gedächtnis zu bilden, das fast alle eigenen Operationen vergessen, aber einiges in schematisierter Form doch behalten und wiederverwenden kann.”[27]Diese Sinnkombinationen zeichnen sich dadurch aus, daß das System ihre “Bekanntheit und Verwendbarkeit voraussetzen kann, wenn es darum geht, Kommunikation in Gang zu bringen und weiterzuführen.” (GG,1106f) Sie bestehen in grundlegenden semantischen Mustern, in Verknüpfungsformen, die in der Kommunikation als selbstverständlich behandelt werden können. Solche selbstverständlichen Verknüpfungsfiguren sind beispielsweise die “Bestimmung von etwas als etwas (zum Beispiel Getränk als Wein), Attributionsschemata, die Ursachen und Wirkungen verknüpfen … Zeitschemata, insbesondere Vergangenheit/Zukunft oder Präferenzcodes wie gut /schlecht, wahr/unwahr, Eigentum/Nichteigentum” (GG,111). Die Beispiele zeigen, daß Schemata sehr generelle Sinnmuster meinen, die allgemein verwendbar, aber eben dadurch wenig determinierend wirken: sie legen nicht fest, in welcher Weise die Kommunikation anschließt (vgl. GG,111). Als landläufig verfügbare, stets mitlaufende, aber für gewöhnlich unbestimmt bleibende Sinnmuster sind Schemata gerade solche lose gekoppelten Elemente der Kommunikation, wie sie mit dem Begriff des Mediums bezeichnet werden sollten. Schemata sind das Medium, in dem die Kommunikation durch Unterscheidungen und Bezeichnungen Form gewinnt, die dann zum Anschluß weiterer Kommunikation führt (GG,201).

Begriffliche Verwirrung scheint nun dadurch zu entstehen, daß die eine Bewegung zu Formen und Semantiken, die andere zu Schemata als Medium führt. Schemata, das suggeriert der Begriff, scheinen aber doch auch Formen zu sein. Um Klarheit zu gewinnen: Sinnmuster können sich entweder zu Formen und Semantiken oder zu Schemata verfestigen. Schemata sind nicht in der Weise der Form herausgehobene, sondern tieferliegende und allgemeinere Sinnmuster.

Mit der Beschreibung des Mediums als Schemata gehe ich über die von Luhmann formulierten Zusammenhänge hinaus. Für eine solche Zusammenführung spricht, daß sie den Kernannahmen der Theorie (z.B. Element ist Element einer systemischen Relation) besser gerecht wird und daß sich schließlich auf diesem Weg eine gehaltvolle Vorstellung der Unterscheidung von Struktur und Semantik gewinnen läßt. Die Gegenüberstellung von Schema und Form ist nämlich im Gegensatz zu lose/strikt (im Sinne von losgelösten Worten/gebundenen Sätzen) eine genuin systemtheoretische Figur. Sie läßt sich in Anschluß an den Formenkalkül von Spencer Brown als Einheit von Unterscheidung und Bezeichnung in einem nicht absolut unmarkierten Raum verstehen. Formbildung erscheint so als relative Bewegung, nicht mehr als absolute Setzung, was der systemtheoretischen Grundannahme, daß jede Operation des Systems aus dem “historischen Zustand des Systems” (GG,94), der durch die vorangegangenen Operationen festgelegt ist, besser entspricht.

Wenn der Formbildung und Semantisierung des Systems umgekehrt die Bildung von Schemata entspricht, dann lassen sich von hier aus weitere Einsichten gewinnen. So ist instruktiv, daß Luhmann die Produktion von Schemata in den Zusammenhang der Typenlehre von Max Weber und Alfred Schütz stellt und als Herstellung von “stereotypisierten Erwartungsmustern” (GG,1107) bezeichnet. Solche Erwartungsmuster zeichnen sich dadurch aus, daß sie in der Formbildung verwendet, aber nicht bezeichnet werden. Form entsteht aus ihnen durch die unterscheidende Bezeichnung bzw. Markierung der Innenseite der Unterscheidung (vgl. GG, S. 60,198). Doch wodurch entstehen umgekehrt die Schemata? Genügt es, sie als Ablagerungen, Sedimentierungen oder eingespielte Kommunikationsmuster zu begreifen? Ein solcher Gedanke würde übersehen, daß Schemata wie Prädikationsmuster und Zuschreibungsvorgaben nicht nur Nebeneffekte des Systemprozesses sind, sondern in diesem eine Funktion erfüllen. Sie stellen als Vorstrukturierung möglicher Anschlüsse das Medium, das die sinnhafte Operation ermöglicht. Für diese Funktion werden sie vom System produziert und zwar im Zuge der Selbstbeobachtung des systemischen Prozesses.

“Wir erinnern: eine Beobachtung bezeichnet etwas, indem sie es unterscheidet. Sie produziert mit dem, was sie bezeichnet, zugleich einen unmarkierten Bereich, der nicht intentional oder thematisch erfaßt (bezeichnet), aber als Welt-im-übrigen vorausgesetzt ist.” (GG,882)

So wird in der Beobachtung ein Ausschnitt der Welt markiert, thematisiert und semantisiert und zugleich wird ein zweiter Bereich hergestellt, der, nach dem zuvor Gesagten, im Verhältnis zu diesem relativ unscheinbare Schemata enthält. Die Funktion dieser Schemata besteht darin, daß sie Vorgaben darstellen, die nicht eigens thematisiert werden müssen, die “geräuschlos funktionierend vorausgesetzt werden können” (GG,111). Wenn wir uns nun darauf besinnen, daß Strukturenals Selektionsbeschränkungen eingeführt wurden, die den Anschluß ‚führen‘ ohne mit der angeschlossenen Kommunikation identisch zu sein, so findet sich in den als Medium fungierenden Schemata ein geeigneter Kandidat, den Begriff der Struktur im Verhältnis zu dem der Semantik zu bestimmen. Denn Strukturierung – so muß man für temporale Systeme wohl sagen – bezeichnet genau die Herstellung von nicht markierten, relativ inkonsistenten, aber allgemein voraussetzbaren und für gewöhnlichen unsichtbaren Sinnvorgaben, die im Wechselspiel mit der Konturierung von Formen die Rhythmik des systemischen Geschehens bildet. Diese Vorgaben sind Muster, die weder eine physische Realität noch eine metaphysische, reine Form darstellen. Es sind vielmehr Produkte des systemischen Prozesses, die sich durch minimale Prägnanz und maximale Resistenz gegen Bezweiflung und Modifikation auszeichnen. Strukturierung kann also als Produktion von Sinnvorgaben im unmarkierten Bereich der autopoietischen Reproduktion angesehen werden.

In einer Zusammenführung der soweit gewonnenen Zusammenhänge lassen sich nun zwei Bewegungen im Systemprozeß unterscheiden:

  1. Semantisierung: (Beobachtung) > Form > Semantik
  2. Strukturierung: (Operation) > Medium / unmarkiertes Schema > Struktur

Um das Zusammenspiel der beiden Bewegungen näher begreifen zu können, lohnt es sich ein weiteres Begriffspaar heranzuziehen: die Unterscheidung manifest/latent. Diese Unterscheidung wurde historisch vor allem im medizinischen und psychologischen Kontext eingeführt, um auszudrücken, daß bestimmte Vorgänge, zumindest für bestimmte Beobachter, verborgen ablaufen.[28] Für die Gesellschaftstheorie führt sie ins Zentrum der Fragestellung, von der wir ausgegangen waren. So wurden etwa bei Marx und Durkheim Strukturen als Ordnungen verstanden, die für die beteiligten Akteure unbeobachtbar, latent blieben. Allein den Wissenschaften blieb es vorbehalten, den Schleier zu lüften und das Verborgene sichtbar zu machen. Aus systemtheoretischer Sicht gibt es zwar Beobachter zweiter und vielleicht auch dritter Ordnung, doch ist damit keine priveligierte Perspektive, sondern lediglich das Beobachten von Beobachtern gemeint, das stets mit einem ‚blinden Fleck‘ behaftet bleibt. Latenz ist kein Zustand, der sich durch besondere Vorkehrungen aufheben läßt, sondern ein Effekt des Beobachtens. Wenn wir zudem davon ausgehen, daß Beobachten unablösbar zum systemischen Prozeß gehört, dann wird Latentes ebenso wie Manifestes notwendig in diesem Prozeß entstehen.

Nun ergibt ein Blick auf Luhmanns Erörterungen zur Latenz aber, daß diese Frage häufig ’nur‘ als ein Problem der Beobachtung behandelt wird. So vertritt Luhmann in diesem Zusammenhang immer wieder die These, daß prinzipiell jede Unterscheidung, von der aus beobachtet wird und die deshalb für die Beobachtung ein blinder Fleck ist, selbst wiederum beobachtet werden kann (vgl. GG,1113). In diesem Sinne gibt es, so Luhmann, nichts, “was sich prinzipiell der Bezeichnung entzöge.” (GG,1132)

Die Reduktion der Latenzproblematik auf ‚bloße‘ Beobachtung, läßt aber außer acht, daß Beobachtung systemtheoretisch immer eine Operation darstellt. Operationen sind aber strukturgeführt, also nicht beliebig, woraus folgt, daß auch Latenzen nicht beliebig in den Blick zu bekommen sind. Wenn der Beobachter ein System ist, wie Luhmann schreibt[29], dann ist auch Latenz systemisch.[30] So gibt es zwar für Systeme kein prinzipiell Latentes, im systemischen Prozeß aber prinzipiell Latenz, die Strukturwert hat und einer beliebigen Revision in gewisser Weise entzogen ist. Auch Luhmann räumt an anderer Stelle ein, daß neben “’harmloser Latenz’” (SoS,460), wie schlicht Nichtgewußtem oder aus äußerlichen Gründen Nichtwißbarem auch eine “strukturfunktionale Latenz” anzutreffen ist:

 

“Wenn Strukturen Latenzschutz benötigen, heißt dies dann nicht, daß Bewußtsein bzw. Kommunikation unmöglich wäre; sondern es heißt nur, daß Bewußtsein bzw. Kommunikation Strukturen zerstören bzw. erhebliche Umstrukturierungen auslösen würde, und daß diese Aussicht Latenz erhält, also Bewußtsein bzw. Kommunikation blockiert.” (SoS,459)

Strukturfunktionale Latenz wird immer dort aufzufinden sein, wo Sinnmuster gegen Modifikation geschützt werden sollen. Die Sinnmuster, die in aller Kommunikation als die beständigsten vorausgesetzt werden, konnten als Schemata beschrieben werden. Sie werden ständig in Gebrauch genommen, ohne selbst thematisch zu werden. Wenn wir uns daran erinnern, daß Strukturierung als Herstellung von unmarkierten Schemata beschrieben werden konnte, dann können nun Strukturen geradezu als die Sinnmuster begriffen werden, die im systemischen Prozeß latent gehalten werden. Strukturen sind Sinnmuster, die als Medium der Selbstverständlichkeit den ‚Raum‘ bilden, in dem Bezeichnung stattfinden kann.

Inwiefern aber sind solche Selbstverständlichkeiten latent? Sind sie nicht gerade das Bekannteste und Vertrauteste? Werfen wir ein Blick zurück auf die Beispiele, die Luhmann für Schemata anführt: Zuordnungsschemata, die ein Getränk als Wein bestimmen, Zeitschemata, die vorher/nachher ordnen usw. Solche Sinnmuster sind gerade in der Weise vertraut, daß sie nicht thematisiert werden. Ihre Thematisierung ist manchmal möglich, macht sie aber fremd. Besondere Anlässe und Kontexte sind nötig, um eine solche verfremdende Semantisierung zumutbar erscheinen zu lassen. Wenn etwa das Schema rational/emotional, das sowohl in wissenschaftlichen als auch in vielen lebensweltlichen Kontexten unbefragt verwendet wird (reflektiert/spontan; verstandesmäßig/gefühlsmäßig; realistisch/sentimental; aus dem Kopf/aus dem Bauch usw.), in einem Sonderkontext, beispielsweise in einer philosophischen Untersuchung relativiert oder in Frage gestellt wird, dann löst sich dieses Schema auch dann nicht einfach auf, wenn noch so gute Gründe dafür angeführt werden. Vielmehr dokumentiert sich die Latenz dieses Sinnmusters darin, daß seine Thematisierung auf massive Widerstände stößt und daß, selbst wenn das Schema durch besondere Bemühungen eine zeitlang diskussionsfähig sein mag, es sehr schnell in seiner alten Unbefragbarkeit wiederhergestellt wird. Die Latenz von Strukturen besteht also nicht darin, daß sie als nichtintelligible Ordnung oder als undurchschaubarer Wille Gottes prinzipiell einer möglichen Beobachtung entzogen wären, vielmehr sind die hier als Schemata begriffenen Strukturen dadurch latent, daß sie ständig für Unterscheidung, für Formung und Semantisierung benutzt werden. So ist es nur theoretisch stets möglich, wie Luhmann meint, durch eine zweite Beobachtung den blinden Fleck einer ersten in den Blick zu nehmen. In der Praxis eines Systemprozesses, das heißt in dessen Autopoiesis, bedarf es dagegen langwieriger Arbeit, die in der Verwendung stets reproduzierten Schemata herauszuheben und in ihrer bestimmten Form disponibel zu machen. Eine strukturfunktionale Latenz besteht also nicht, wie Luhmanns Ausführungen zu diesem Punkt nahelegen (vgl. SoS,458-465), lediglich in stratifizierten Gesellschaften, um Hierarchien zu schützen, sondern prinzipiell in jeder, auch in modernen, um überhaupt semantische Formen bilden zu können.

Die angestellten Überlegungen können nun deutlich machen, wie soziale Systeme in ihren strukturierenden und semantisierenden Bewegungen sich einerseits latente Schemata schaffen, die andererseits ihre Produktion anschlußfähiger Sinnformen ermöglichen. Die beiden Bewegungen der Konstruktion erscheinen nun nicht mehr einfach als “Korrelation”(GS1,17), wie Luhmann in Gesellschaftsstruktur und Semantik formulierte (und dabei die Konstruktivität gesellschaftlicher Strukturen aus den Augen verlor), sie erscheinen aber auch nicht in einer irgend gearteten kausalen Abhängigkeit. Das Verhältnis der beiden Sinnmuster ist vielmehr das einer wechselseitigen Re-Produktion durch wechselseitige Inanspruchnahme im autopoietischen Prozeß. In dessen Rhythmik wird mit jedem Akt des Unterscheidens und Bezeichnens die strukturelle Ordnung der Schemata, die den ‚Raum‘ bilden, in den dieser Akt sich einschreibt, re-produziert und umgekehrt ermöglichen die für diesen Akt verwendeten Schemata in begrenzender Weise die herausstellende Bezeichnung von etwas als etwas.

So spannt der autopoietische Prozeß immer wieder die Distanz zwischen bezeichneten Formen und latenten Strukturen auf, ohne daß auf der einen oder anderen Seite substantielle Entitäten vorlägen. Die beiden Pole können nur als Produkte zueinander relativer Bewegungen aufgefaßt werden. Im Anschluß an die im Zusammenhang mit Ricoeurs Konzeption vorgestellten Überlegungen Heideggers kann diese Bezüglichkeit als die zwischen der sinnhaften Form des ‚als etwas‘ und der des ‚etwas als etwas‘ betrachtet werden. In der Semantisierung erscheint ein zuvor als solcher gegebener Sachverhalt, eine ‚als etwas‘ gegebene Selbstverständlichkeit, die in keiner Weise isoliert und herausgehoben wird, mehr und mehr als eigens bezeichenbares Objekt. Eine Differenz zwischen Bezugsobjekt (z.B. Geräusch) und Objektbestimmung (Knattern eines Motorrades) faltet sich auf. Während zuvor das Objekt unmittelbar, unbezeichnet und insofern nicht bezweifelbar in seiner Bestimmung vorausgesetzt war, erscheint es nun mehr und mehr als bloßer Zielpunkt eines referentiellen, intentionalen oder kommunikativen Aktes, dem seine Bestimmung ausdrücklich zugesprochen wird. Eine solche Bestimmung eines als bestimmbar isolierten Objekts ist, selbst wenn sie argumentativ gestützt oder autoritativ durchgesetzt wird, eine Herausstellung, die jede propositionale Bestimmung prinzipiell revidierbar macht (Man kann nun sagen: Stimmt nicht, es ist ein Auto, dessen Auspuff kaputt ist.). Semantiken können als die Spielformen von Strukturen bezeichnet werden, da jedes ‚etwas‘,. das in ihnen ‚als etwas‘ bezeichnet wird, dem kontingenten Spiel der Neubestimmung preisgegeben ist. Eine solche Preisgabe ist niemals innerhalb der diskursiven Verhandlung revidierbar, sondern nur dadurch, daß es, in der umgekehrten Bewegung der Strukturierung, zu einem selbstverständlichen Schema gerinnt.[31]

Diese Verfestigung der Strukturierung kommt zustande, indem der ‚Gegenstand‘ seinen thematischen Wert verliert und Bezugsobjekt und Objektbestimmung wieder zusammenfallen. Dabei verschwindet die bei Semantiken offenliegende Bewegung des Referierens und Bestimmens; der ‚Gegenstand‘ liegt als in bestimmter Weise seiender Sachverhalt, als ‚Realität‘ vor.

Die beiden relativ zueinander hergestellten Sinnmuster werden durch eine Asymmetrie von Beobachtungsmöglichkeiten auseinandergeführt und auseinandergehalten. Während die Sinnordnungen der semantischen Formen geradezu dadurch definiert werden können, “daß mit ihnen im Unterschied zu anderen Systemordnungen besonders prägnante Strukturenerzeugt werden”[32], bilden die Schemata des Mediums Strukturen, die für gewöhnlich überhaupt nicht Gegenstand einer Betrachtung werden. Sie sind Sinnmuster, die in einer Vielzahl von mehr oder weniger parallel laufenden kommunikativen Prozessen[33] immer wieder verwendet werden und deren Vermittelbarkeit untereinander sicherstellen. Einzelne Heraushebungen solcher Schemata haben zwar kommunikative Effekte im Nahbereich, stellen aber keine Strukturänderung dar. Erst wenn ‚Realität‘ durch wiederholte, nachdrückliche und sich ausbreitende Thematisierung disponibel wird, kann von struktureller Veränderung gesprochen werden. Dabei ist es, wie immer bei emergenten Prozessen dieser Art, müßig, eine Debatte über Huhn und Ei zu führen. Ein Bereich der ‚Realität‘ wird fraglich, wenn er thematisiert wird, thematisiert wird er aber gerade deshalb, weil er fraglich geworden ist; die Bewegungen gehen Hand in Hand. Der entscheidende Motor für Veränderungen dieser Art liegt darin, daß in der Asymmetrie von Semantisierung und Strukturierung immer ein wesentlich weiteres Feld von Selbstverständlichkeiten re-produziert wird, als an prägnanter Form herausgestellt werden kann. So entwickelt der strukturelle Bereich mit jeder neuen Kontextualisierung eine Eigendynamik, die zu letztlich unbeherrschbaren Modifikationen struktureller Schemata führt.

 

  1. Résumée

Die Überlegungen zu den Begriffen Struktur und Semantik haben beide Begiffe in einen umfassenden theoretischen Zusammenhang gestellt und aus diesem neu zu begreifen versucht. Insbesondere für den Strukturbegriff dürften dabei Widerspruch erregende Ergebnisse zum Vorschein gekommen sein. Strukturen, die klassischerweise beobachtungsunabhängige Realität der Sozialwissenschaften, ließen sich schlüssig als sozial konstruiert beschreiben. Dabei erhielt allerdings der Begriff der sozialen Konstruktion einen differenzierteren Gehalt. Während er zumeist so eingeführt wird, daß die Produktion sozialer Strukturen direkt durch das Denken, Sprechen und Verfassen von Texten erfolgt, konnte hier gezeigt werden, daß es möglich ist, ‚Realität‘ als sinnhaft konstruiert zu denken, ohne sie als unmittelbaren Effekt sinnhafter Akte zu begreifen. Sich als Realität zeigende Strukturen entstehen vielmehr auf der ‚Rückseite‘ der Sinnprozesse. Selbst ökonomische Strukturen und gesellschaftliche Formationen können so verstanden werden, daß sie entstanden sind und bestehen, indem sie in unzähligen, semantischen Akten als Selbstverständlichkeiten in Gebrauch genommen und dadurch reproduziert werden. Latent sind sie insofern, als eine einzelne Herausstellung und Bezeichnung sie in keiner Weise tangiert, da sie in zahllosen parallel laufenden Akten weiter ‚bestätigt‘ werden. Eine Erforschung von Strukturen hat es also mit der Tatsache zu tun, daß sie in der Semantisierung von bestimmten Momenten, gleichzeitig andere verwendet, die sich hinter dem Rücken der Forschenden konsolidieren. Eine letztliche Transparenz von Strukturen kann es also nicht geben. Doch es gibt Unterschiede, was die Qualität von Forschung betrifft. So durchlaufen anspruchslose Beschreibungen einer Gesellschaft in wenig aufsehenerregender Form die eingespielten Prozesse der strukturellen Schematisierung. Dabei verwenden sie genau das Material, das den gesellschaftlichen Prozessen tatsächlich zugrundeliegt, können es also nicht sehen. Umgekehrt folgt aus dieser Einsicht, daß kreative und ’schräg‘ zum Alltagsverständnis geführte Theorien vonnöten sind, wenn überhaupt Strukturen erkannt werden sollen.[34]Eine Steigerung semantischer Anstrengungen verändert zwar Beobachtungsmöglichkeiten, führt aber nicht, wie ein Fortschrittsgedanke voraussetzt und wie auch Luhmann manchmal anzunehmen scheint (SoS,265), zu einer insgesamt höheren Wahrnehmung. Das lawinenartige Anwachsen von Selbst- und Fremdbeschreibungen in der Moderne hat ebenso den Effekt, daß durch die ständige Benutzung zugrundeliegender Schemata diese auch immer stärker als ‚Realität‘ eingeschliffen und gegen Veränderung immunisiert werden. Es entsteht also nicht nur Verunsicherung durch aufklärende Thematisierung, sondern gleichzeitig strukturelle Realität.

Für den Begriff der Semantik sind Folgerungen dergestalt zu ziehen, daß semantische Formen nicht als aus freier Subjektivität gestalteter Sinn betrachtet werden können. Vielmehr ist jede Formung von Sinn im Vorgang ihrer Gestaltung an die Grenzen und Bedingungen der Schemata gebunden, die sie dabei in Gebrauch nimmt. Dieses träge Medium von sich in unendlich vielen Kommunikationsakten bestätigenden und aufeinander einspielenden Sinnmustern bildet im Ganzen eine ‚Realität‘, von der abhängt, was sinnvoll bezeichnet werden kann, welche Semantisierungen möglich sind. Während also einerseits die ‚Objektivität‘ der ‚Realität‘ dadurch entsteht, daß sie auf der ‚Rückseite‘ der sinnhaften Herausstellung von Bedeutung mitproduziert wird und nicht willkürlich manipulierbare Strukturen bildet, sind es die in diesem Medium möglichen Fokusierungen und Verknüpfungen, durch die sich semantische Sinnformationen herausstellen. Dabei bringt Semantisierung die verwendeten Schemata stets in eine neue Spannung, so daß einschneidende und umfassend geführte Semantiken stets neue Strukturen bilden, wenn sie ins Unthematische zurückfallen.

Die soziale ‚Realität‘ ist somit weder ein Produkt selbstläufiger, quasi-naturhafter Strukturbildung, noch ein durch Intentionen und Planung beliebig manipulierbarer semantischer ‚Raum‘. Vielmehr können ‚Realität‘ und ‚Geist‘ in der Theorie sozialer Systeme als Momente von autopoietischen Prozessen begriffen werden, in denen relativ Unbeeinflußbares (Objektivität) und relativ ‚frei‘ gebildete Sinnformationen (Subjektivität) aufeinander bezogene und sich wechselseitig voraussetzende Bewegungen bilden.

 

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[1] Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studien zur Wissensoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1-4, Frankfurt/M. 1993-1995; Im Folgenden im Text mit dem Sigel GS1 – GS4 zitiert.

[2] Wobei zu bemerken ist, daß die Systemtheorie nicht nur in der Soziologie, sondern in den verschiedensten philosophischen und wissenschaftlichen Traditionen Ansatzpunkte für ihre Konzeptionen findet; daß es also die Philosophie im Rückgriff auf die Systemtheorie durchaus mit ihrer eigenen Tradition zu tun hat.

[3] Parmenides, Das Lehrgedicht, Fragment 3; in: Bormann, Klaus, Parmenides. Untersuchungen zu den Fragmenten, Hamburg 1971

[4] Vgl. etwa Aristoteles, Metaphysik Buch 12, Abs. 6,7)

[5] René Descartes, Discours de la méthode (1637), Hamburg 1960, S.53/55

[6] Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859), Berlin 1958, S. 13

[7] Emile Durkheim, Rezension von Labriolas ‚Essais sur la conception matérialiste de l’histoire‘ in: Revue philosophique, XLIV, Dezember 1897, S. 645-651; Übersetzung in: Peter Winch, Die Idee der Sozialwissenschaften und ihr Verhältnis zur Philosophie, Frankfurt/M. 1974, S.35

[8] Max Weber, Die protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung (1904-1906/1920); hrsg. von Johannes Winckelmann, Gütersloh 1991 (8. Aufl.), S. 76/77; vgl. 269

[9] Was überraschenderweise Luhmann behauptet; vgl. GS1, S.8

[10] Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: Ders. (Hrsg.) Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart 1979; Im Folgenden im Text mit dem Sigel BS zitiert.

[11] vgl. GS1, S. 19

[12] Für einen umfassenderen Begriff der Sprache plädiert in diesem Zusammenhang Hans-Georg Gadamer. Vgl. Reinhart Koselleck / Hans-Georg Gadamer, Hermeneutik und Historik, Heidelberg 1987, S. 34

[13] vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997, S. 94; Im Folgenden mit dem Sigel GG im Text zitiert.

[14] Niklas Luhmann, Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1987, S. 94; Im Folgenden mit dem Sigel SoS im Text zitiert.

[15] Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition, in: GS1 S. 9-71

[16] in: GS1, S.162-234

[17] Mit ‚Differenzierungsform‘ bezeichnet Luhmann drei grosse Stadien gesellschaftsgeschichtlicher Entwicklung: segmentäre, stratifizierte und funktional ausdifferenzierte Gesellschaften.

[18] Im Hinblick auf den strukturellen Übergang zwischen Differenzierungsformen verwahrt sich Luhmann noch einmal gegen den Gedanken, daß Semantiken hier in irgendeiner Weise kausal wirksam sein könnten. “Wir gehen also im Unterschied zu Max Weber nicht von einem Konzept kulturgeprägter Motivation aus, wenn es um makrogesellschaftlichen Wandel geht.” (GS1,223) Dieser Nachdruck bestätigt den Eindruck, daß für Luhmann die Abgrenzung gegen den Gedanken einer Ideenkausalität gegenüber dem umgekehrten einer Strukturkausalität Vorrang hat.

[19] Im Anschluß an Herbert Spencer wurde das Theorem insbesondere von Emile Durkheim und Talcott Parsons weiterentwickelt.

[20] Lediglich die Unterscheidungen belebt/unbelebt und bewußt/unbewußt legten nahe, eine Differenz im ersten Fall schon innerhalb des objektiv Natürlichem, im zweiten Fall innerhalb des Subjekts zu ziehen; was den Anfang vom Ende des klaren ‚alteuropäischen‘ Schemas bedeutete.

[21] Es könnte die Vermutung naheliegen, daß die Unterscheidung von Strukturen und Semantiken in der Systemtheorie überhaupt keinen tieferen systematischen Wert hat, sondern lediglich unterschiedliche Bereiche empirischer Vorfindbarkeit bezeichnet. Betrachtet man nämlich die Untersuchungen, die Luhmann zur historischen Semantik vorlegt (vgl. GS1-4; Liebe als Passion: Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/M. 1994, so scheint eine einfache Antwort nahezuliegen. Das empirische Material, das in diesen Analysen untersucht wird, sind durchwegs verschriftlichte Texte. Semantiken wären demnach eventuell lediglich als verschriftlichte Sinnformen zu verstehen. Doch auch dieser Vorschlag kann keine befriedigende Lösung darstellen, schlösse er doch aus, bei den Überlieferungen schriftloser Gesellschaften von Semantik zu sprechen, was Begründungsnöte nach sich zöge, worin die qualitative Differenz zwischen mündlicher und schriftlicher Tradition besteht In der Tat bedeutet für Luhmann die Verbreitung von Schrift und Buchdruck eine Zäsur innerhalb der historischen Semantik, nicht deren Ursache (vgl. GG,883ff). Semantiken lassen sich nicht schlicht als verschriftlichte Sinnformen definieren, was wohl auch der Grund dafür ist, daß Luhmann sie allgemein und analog zum Strukturbegriff einführt.(vgl. GS1,S.18f)

[22] Paul Ricoeur, Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen, in: Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften, hrsg. von Hans-Georg Gadamer und Gottfried Boehm, Frankfurt/M. 1978; im Folgenden im Text mit dem Sigel TM zitiert.

[23] Im Sinne der französische Sciences Humaines: Soziologie, Ethnologie, Psychologie usw.

[24] vgl. die Formulierung von Oswald Schwemmer: “In anderen Situationen müssen wir unser Handeln – und zwar manchmal von Augenblick zu Augenblick – ständig neu ‚einstellen‘: Wir antworten dabei auf ständige Veränderungen in der Situation unseres Handelns oder auch (nur) in unserem Verständnis dieser Situation. Zugleich unternehmen wir mit unserem Handeln aber auch den ständigen Versuch, diese Handlungssituation zu definieren, d.h. in ihrer Identität möglichst eindeutig und auch für alle anderen Handlungspartner zu bestimmen, nämlich so, daß unsere Handlung als eine angemessene bzw. situationsgerechte Antwort (oder Reaktion) erscheint.” (Handlung und Struktur. Zur Wissenschaftstheorie der Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 1987

[25] Tübingen 1993 (17.Aufl.); im Folgenden mit dem Sigel SZ im Text zitiert.

[26] vgl.: “Jedes System nimmt nur sich aus seiner Umwelt aus.”, SoS, 249

[27] GG, S.111; Der Begriff wird von Luhmann eingeführt, um die strukturelle Kopplung von sozialen und psychischen Systemen näher zu beleuchten.

[28] vgl. Niklas Luhmann / Peter Fuchs, Reden und Schweigen, Frankfurt/M. 1989, S. 180ff

[29] Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 79

[30] Auch hier könnte ein Seitenblick zu Heidegger Gewinn bringen. Zwar ist der Bezugspunkt Heideggers nicht die Autopoiesis von Systemen, sondern die Frage nach dem ‚Sein‘; dieses aber in einer Bewegung von Verbergung und Entbergung gedacht. Die Parallele ist tiefer als es zunächst scheint: Heideggers mit Rückgriff auf etymologische Zusammenhänge gearbeiteten Begriffe beschreiben Wahrheit (a-letheia) als Privation von Latenz und als Herstellung von Möglichkeiten (Vom Wesen der Wahrheit, Frankfurt/M. 1961 (4.Aufl.)). Die Verbergung (lethe) geschieht in der alltäglichen Weltauslegung des ‚Man‘ (vgl. SZ,§ 27), also in den Selbstverständlichkeiten der öffentlichen Meinung, wo auch die Schemata Luhmanns situiert werden. (vgl.GG,1106f)

[31] Dieser Prozeß wird besonders deutlich am Beispiel ’sterbender‘ Metaphern: Der ‚Witz‘ der übertragenden Bezeichnung verschwindet und die bloße Form wird selbstverständlich weiterverwendet.

[32] Schwemmer, Handlung und Struktur, S. 273

[33] Luhmann spricht von einem “milliardenfach gleichzeitige(n) Vorkommen von Operationen” (GG,887)

[34] vgl. auch Schwemmer, Handlung und Struktur, S.91f