Seeing Aspects in the Tree of Life
Darwin – Galton – Wittgenstein .
In: Simona Koch (Hrsg.): Organisms, Verlag für Moderne Kunst, Nürnberg 2012, S. 20-29.
Introduction
A story: For a long time man was stably rooted on the ladder of life. Beneath him stood inanimate nature, plants and animals. Above him were the supernatural beings, the angels and God. Man took part in both realms. This concept of the scala naturae held through the Renaissance before giving way to a different image, that of the tree of life. Unnotice- ably at first. Man, the “crown of creation” was back at the top of the tree line. But the image of the tree as asserted by Darwin’s oeuvre, had some implications. Trees grow. A new theme entered into the order of creatures: change, history. The great chain of being became genealogical: The tree image shows man as having arisen, as having arisen from simpler life forms in the development of life. Lines of affin- ity destined to always prove the heights of the origination, now led downwards to the more primitive, to the most primi- tive. Man was ousted from his throne and became part of the animal kingdom – or so the story goes.
Werner Kogge, 19. September 2012
Aspektsehen im Stammbaum des Lebens
Darwin – Galton – Wittgenstein
Eine Erzählung: Lange Zeit fand sich der Mensch stabil verortet in einer Stufenleiter des Lebens. Unter ihm standen die unbelebte Natur, die Pflanzen und Tiere. Über ihm die übersinnlichen Wesen, die Engel und Gott. Der Mensch hatte Teil an beiden Reichen. Dieses bis in Renaissance gültige Bild der scala naturae wurde abgelöst von einem anderen Bild, vom Stammbaum des Lebens. Zunächst unmerklich. Der Mensch – „Krone der Schöpfung“ — fand sich wieder in der Krone des Baumdiagramms. Doch das Bild des Baumes, das sich mit Darwins Werk durchsetzte, hatte eigene Implikationen. Bäume wachsen. In die Ordnung der Lebewesen zog ein neues Motiv ein: Veränderung, Geschichte. Die Kette der Lebewesen, the great chain of being wurde genealogisch: das Baumbild zeigte den Menschen als entstanden, als entstanden in der Entfaltung des Lebens aus einfacheren Lebensformen. Verwandtschaftslinien, die stets Höhe der Herkunft belegen sollten, führten nun hinab zum Primitiveren, zum Allerprimitivsten. Der Mensch wurde von seinem Thron gestoßen und zu einem Teil des Tierreiches – so wird es erzählt.
Ist diese Erzählung richtig? Sie ist nicht ohne Evidenz und Gehalt. Doch sie ist beschränkt: Auf eine bestimmte Epoche, auf einen Ausschnitt der Geistesgeschichte des Abendlandes, auf einen spezifischen Aspekt der Geschichte. „Das eigentliche Verdienst eines Kopernikus oder Darwin war nicht die Entdeckung einer wahren Theorie, sondern eines fruchtbaren neuen Aspekts“[1], notierte Wittgenstein. Tatsächlich erwies sich das Bild des Stammbaums als Kippbild. In die eine Richtung gewendet zeigt es den Menschen entthront und ins Tierreich integriert. Jüngste Forschungen berichten von einer 98%igen genetischen Übereinstimmung von Mensch und Schimpanse und auch, dass der Schimpanse sich vom letzten gemeinsamen Vorfahren genetisch weiter entwickelt habe als der Mensch: „The fact is, chimpanzes are the more highly evolved species.“[2]
Doch ist diese Rede von ‚höher entwickelt‘ nicht eine Suggestion des Baumbildes, ein Relikt der scala naturae? Schon Darwin hatte sich ermahnt: „Verwende niemals die Worte höher oder niedriger.“[3] Das Bild des Stammbaums zeige chronologische Verhältnisse an, nicht eine Logik der Qualität – wird immer wieder betont. Doch schillernd bleibt es. Einerseits erscheinen wir als Erben der Naturgeschichte: unsere Zellen ererbten wir aus der Vereinigung von Einzellern und Bakterien, Anlagen zu Schwimmhäuten von den Wassertieren, Horn- und Knochengewebe von den Reptilien, die Brustwarzen von den Säugetieren, die nebeneinanderliegenden Augen und den Daumen von den Primaten. Unser Körper erscheint als ein Dokument der Geschichte des Lebens, die Natur als Buchhalter, die genetische Struktur der DNA als Schrift, in der dieses Buch geschrieben ist.[4] Andererseits: Wenn wir in diesem Buch die Geschichte des Lebens in ihren Verzweigungen lesen können, könnten wir dann nicht – hier kippt das Bild vom Stammbaum von Neuem – es auch weiter schreiben? Francis Galton, Cousin von Charles Darwin, Urheber des Begriffs Eugenik und einflussreicher Verfechter einer ‚Verbesserung der menschlichen Rasse‘, sieht den Stammbaum unter diesem Aspekt des Zukünftigen. Vom ausgesetzten Punkt seines Wipfelzweiges, gleichsam, sieht er den Mensch als Kreator und Gestalter. Wie es dem Fischzüchter gelänge, nicht nur neues Leben zu kreieren, indem er Fischsamen und Ei willkürlich vereinige, sondern aus gegebenen Zutaten auch einen specific charactererschaffe, so könne auch im Bereich des Menschen nicht nur Neues, sondern auch etwas von neuer Art geschaffen werden. Während jeder Einzelne am Stammbaum des Lebens angepflockt [peg] bleibe, gelte dies für die menschliche Rasse nicht: „the freedom of humankind, considered as a whole, is far greater than this; for it can gradually modify its own nature, or, to keep to the previous metaphor, it can cause the pegs themselves to be continually shifted. It can advance them from point to point, towards new and better pastures, over wide areas, whose bounds are as yet unknown.“[5] Der Stammbaum unter dem Aspekt seiner möglichen Veränderung durch die Menschheit. Doch wer ist die menschliche Rasse? Und wie agiert sie?
Um bessere Eigenschaften herbeiführen zu können, müsste man die Eigenschaften kennen. Sowohl die, die den humanen Zweig am Stammbaum des Lebens ausmachen als auch die Abweichungen, die möglich sind. Galton setzte ein neues technisches Medium ein, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der menschlichen Rasse zu detektieren. Durch composite portraiture, durch Überblendung von Photographien, versuchte er, allgemeine Züge menschlicher Typen, Eigenschaften und Krankheiten sichtbar zu machen. Sind die Eigenschaften der Zutaten bekannt, so könne der Züchter, wie ein Koch, ein Lebewesen schaffen „according to a predetermined pattern.“[6] Doch nach welchen Kriterien wären die Zutaten zu wählen? Was ist besser? Über alle Divergenzen in Moralvorstellungen hinweg, so Galton, sei man sich einig: „it was better to be healthy than sick, vigorous than weak, well-fitted than ill fitted for their part in life; in short, that it was better to be good rather than bad specimens of their kind“.[7] Besser ist besser – so viel ist klar. Doch Tautologien haben keine Aussagekraft. Und so lange nicht gesagt wird, worin besser angepasst, in welcher Weise stärker und in welchem Sinne ein Gezüchtetes gesünder als ein Wildtyp sein könnte, bleibt es bei einer Hohlformel.
Der Philosoph Ludwig Wittgenstein hatte sich tatsächlich für Galtons photographische Technik interessiert. Zu Zeiten seiner Frühphilosophie suchte er nach der allgemeinen Form des Satzes, nach dem, was alle Sätze gemeinsam haben. Doch genau dies schien ihm später ein fehlgeleitetes Unterfangen. „‚Die allgemeine Form des Satzes ist: es verhält sich so und so‘ – […] Man glaubt, wieder und wieder der Natur nachzufahren, und fährt nur der Form entlang, durch die wir sie betrachten“[8] Gerade das „Streben nach Allgemeinheit“ sei es, was in philosophische Verwirrungen führe. Die Vorstellung etwa, es gäbe „ein allgemeines Bild von einem Blatt […] im Gegensatz zu Bildern von bestimmten Blättern“ sei irreführend, da sie nach einem Bild sucht, das tatsächlich „das enthält, das allen Blättern gemeinsam ist“ – hier verweist Wittgenstein auf „Galtons zusammengesetzte Photographie“.[9] Doch wenn wir beobachten, wie unsere Begriffe arbeiten, dann zeigt sich etwas anderes: „Wir sind z.B. geneigt zu denken, dass es etwas geben muß, das allen Spielen gemeinsam ist […] während Spiele doch eine Familie bilden, deren Mitglieder Familienähnlichkeiten haben. Einige haben die gleiche Nase, einige die gleichen Augenbrauen und andere wieder denselben Gang; und diese Ähnlichkeiten greifen ineinander über.“[10] Begriffe greifen in Ketten von Ähnlichkeiten, wie in einem Faden „viele Fasern einander übergreifen“.[11]
Das Thema Familienähnlichkeit ist in Wittgensteins Philosophie eng mit dem Thema Aspektsehen verbunden. Je nachdem, wie wir, beispielsweise Spiele ansehen, tauchen Gemeinsamkeiten auf und verschwinden: „Schau z.B. Brettspiele an mit ihren mannigfachen Verwandtschaften. Nun gehe zu den Kartenspielen über: hier findest du viele Entsprechungen mit jeder ersten Klasse, aber viele gemeinsame Züge verschwinden, andere treten auf. […] gibt es überall ein Gewinnen und Verlieren […]? Denk an die Patiencen.“[12] Jeweils sehen wir einen anderen Aspekt – was weder bedeutet, dass wir etwas anders ‚deuten‘, noch, dass sich an den Sachen etwas verändert hat: „Ich betrachte ein Gesicht“, schreibt Wittgenstein, „auf einmal bemerke ich seine Ähnlichkeiten mit einem andern. Ich sehe, daß es sich nicht geändert hat; und sehe es doch anders.“[13]
Galton wollte die allgemeine Form dingfest machen, indem er sie durch photographische Manipulation verbildlichte. Wittgenstein lenkt die Aufmerksamkeit auf das Zusammenspiel von Gegenstand und Betrachtungsform. Dies auf biologische Evolution bezogen, stellen sich Fragen wie: Was könnte als gut, als stark, als fit gelten? Evolution sagt es uns nicht. „Ein Zebra, das längere Beine hat und daher schneller laufen kann als andere Zebras wird nur dann mehr Nachkommen haben, wenn Schnelligkeit das zu lösende Problem ist und wenn die längeren Beine nicht andere Nachteile mit sich bringen.“[14] Wir machen uns ein Bild vom ‚Guten‘, vom ‚Starken‘, vom ‚Fitten‘ und glauben, dass es bestimmte allgemeine Merkmale habe. Anpassung ist jedoch immer Anpassung an die jeweilige Umwelt, in der ein Lebewesen steht. Diese jeweilige Umwelt, auch ökologische Nische genannt, hat, so der Evolutionsbiologe Richard Lewontin, unzählbare viele Eigenschaften: „physikalische Eigenschaften wie Temperatur und Feuchtigkeit, biologische Faktoren wie Art und Menge der Nahrungsquellen und der Feinde, verhaltensbedingte Faktoren wie die soziale Organisationsform , das Bewegungsmuster und den tages- und jahreszeitlichen Aktivitätsrhythmus des Lebewesens.“[15] Welcher Aspekt in Zukunft zum Tragen kommen wird, ist nicht vorentscheidbar. „Die natürliche Auslese belohnt vergangene Ereignisse […] aber sie plant nicht für die Zukunft. Das ist es ja, was der Evolution durch natürliche Auslese ihre Flexibilität verleiht“[16], erklärt Ernst Mayr, ein Biologe, der die Evolutionstheorie im 20. Jahrhundert maßgeblich prägte. Aus der Nicht-Festgelegtheit der lebendigen Natur, folgt auch, so Mayr, dass einer eugenischen Selektion jegliche Grundlage fehlt: „Die Eugenik, die willkürliche Selektion nach Erbgesundheitskriterien befindet sich im Konflikt mit höchsten menschlichen Werten. Doch abgesehen von allen moralischen Bedenken: die Information, die das Fundament für eine solche Selektion bilden müsste, gibt es einfach nicht. […] Es gibt eine enorme Zahl und sehr viele Schattierungen des sogenannten ‚guten‘ oder ’nützlichen‘ oder angepassten Menschen. Wer wäre sicher, würde er sich heute auf eine bestimmte Menge idealer Eigenschaften festlegen, ob nicht […] morgen vielleicht eine ganz anders zusammengesetzte Eigenschaftsmenge zur erstrebten harmonischen Gesellschaft führt.“[17]
Diejenigen, die sich auf die Evolution berufen, um deren Produkte planmäßig zu ‚verbessern‘, haben Evolution wohl nur halb verstanden.
[1] Wittgenstein, Ludwig (2000): Item Nr. 112. Band VIII. ‚Bemerkungen zur philosophischen Grammatik‘. In: Wittgenstein’s Nachlass. The Bergen Electronic Edition, 22.11.1931, Bergen / New York.
[2] Josefson, Deborah: Who is the most refindes ape of them all? New Scientist, Band 195, Heft 2600, 21. April 2007, S. 17.
[3] Zitiert nach: Ernst Mayr: Eine neue Philosophie der Biologie, München 1991, S. 58.
[4] Vgl. Sterelny, Kim / Griffiths, Paul E. (1999): Sex and Death: An Introduction to Philosophy of Biology, Chicago, S. 66ff.
[5] Galton, Francis. 1892. Hereditary Genius: An Inquiry Into its Laws and Consequences. 2nd ed. London: Macmillan, S. 375f.
[6] Galton, Francis. 1892. Hereditary Genius: An Inquiry Into its Laws and Consequences. 2nd ed. London: Macmillan, S. 375.
[7] Galton, Francis: Eugenics: its definition, scope, and aims.In: The American Journal of Sociology,
Volume X, July 1904, No. 1.
[8] Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen (PU), Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt/M. 1982, § 114.
[9] Wittgenstein, Ludwig: Das Blaue Buch (BlB), Werkausgabe Bd. 5, Frankfurt/M 1984, S. 38.
[10] BlB S. 37.
[11] PU § 67.
[12] PU § 66.
[13] PU, S. 518.
[14] Lewontin Richard: ‚Anpassung‘. In. Evolution. Die Entwicklung von den ersten Lebenspuren bis zum Menschen. Mit einer Einführung von Ernst Mayr, Heidelberg: Spektrum der Wissenschaft 1994, S. 32-40, hier S. 40.
[15] Lewontin Richard: ‚Anpassung‘. In. Evolution. Die Entwicklung von den ersten Lebenspuren bis zum Menschen. Mit einer Einführung von Ernst Mayr, Heidelberg: Spektrum der Wissenschaft 1994, S. 32-40, hier S. 33.
[16] Ernst Mayr: Eine neue Philosophie der Biologie, München 1991, S. 58.
[17] Mayr, Ernst: ‚Evolution‘. In: Evolution. Die Entwicklung von den ersten Lebenspuren bis zum Menschen. Heidelberg: Spektrum der Wissenschaft 1994, S. 9-19, hier S. 19.