Die vergessene Materialität der Praxis
Zur Frage von Strukturierung und Abweichung im Handeln
In: Lebenswelt und Lebensform: Zum Verhältnis zwischen Phänomenologie und Pragmatismus, hrsg. von J. Renn, G. Sebald, J. Weyand, Weilerswist: Velbrück 2011, S. 19-43.
Abstract
Wie sind Abweichungen von konventionalen Handlungsmustern überhaupt denkbar, wenn sowohl das Handeln als auch das handelnde Subjekt in kollektiven Sinnmustern und Regelungen eingebunden sind? Theorien, die diese theoretischen Voraussetzungen akzeptieren – wofür es gute Gründe gibt – finden sich in der lebensweltlich unplausiblen Schlussfolgerung wieder, dass eine aktive Gestaltung und ein Abweichen von konventionalen Mustern im Handeln eigentlich nicht denkbar sind. Für praxeologische Theorieanlagen bietet sich aber eine interessante Perspektive, wenn das Handeln in seiner Materialität in den Blick genommen wird. Die materiale Bestimmung des Handelns steht zur konventionalen Bestimmung, wie sich zeigt, in einem elementaren Spannungsverhältnis, so dass deutlich wird, dass konventionales Handeln nur unter voraussetzungsreichen, Bedingungen des Eingerichtetseins und der Geläufigkeit überhaupt möglich ist. Diese Wohleingerichtetheit bildet die Basis des alltäglichen Handlens, aber zugleich ist sie dünnes Eis, das sich unter ungewöhnlichen Bedingungen als brüchig erweist. Je weniger die materialen Bedingungen auf Handlungsmuster voreingerichtet sind, desto offenkundiger sind die Leistungen der Strukturierung ebenso wie die Möglichkeiten der Devianz im Handeln. Das Vergessen der Materialität des Handelns in der gegenwärtigen Philosophie und Sozialtheorie bedeutet also, dass unsichtbar bleibt, wie die Geregeltheit des Handelns auf einer grundlegenden Spannung zwischen Materialität und Konventionalität aufbaut, die nur unter den besonderen Bedingungen des normalen Verlaufs unmerklich bleibt. Diese Grundstruktur des Handelns gegen die Verdeckung in zu großer Vertrautheit freizulegen und damit den Ort möglicher Devianz in der Handlungstheorie aufzuweisen, ist das Ziel der folgenden Ausführungen.
„Werner Kogge eröffnet den ersten Abschnitt mit der Frage nach den Grenzen von bewusstseinsphilosophisch angelegten Handlungstheorien. Er verortet sie in deren Unfähigkeit, eine konkrete Handlung adäquat aus der Intentionalität des Handelnden oder aus den sozialen Konventionen, über die dieser verfügt, zu erklären. Kogge macht aber nicht einfach gegen bewusstseinsphilosophisch argumentierende Handlungstheorien die Tradition des Pragmatismus stark, sondern verbindet beide in der Annahme, »Handeln nicht nur als konventional, sondern ebenso als material bestimmt aufzufassen«.“
Aus der Einleitung von Jan Weyand und Gerd Sebald
Leseprobe
1.3 Zur Rolle des Praxisbegriffs in Theorien der Gegenwart
Die nun weithin akzeptierte Annahme eines philosophisch zentralen Stellenwerts des Begriffs der Praxis prägt einige der meistdiskutierten Texte der zeitgenössischen (post-)analytischen Philosophie. Fragen der Bedeutung, der Wahrnehmung, der Erkenntnis und der Geltung werden bei Autoren wie John McDowell (McDowell 1994) und Robert Brandom (Brandom 2000) in Rekurs auf Wittgenstein (und punktuell auch auf Gadamer und Heidegger) in sozialen Kontexten fundiert gedacht und diese Kontexte wiederum als Relationsgefüge von Praxis (Koo 2005: 57-74). Allerdings spielt der Handlungsbegriff hier zunächst nur die Rolle, die Einbettung von Bedeutung und Wissen in eine Sozialität zu artikulieren, die selbst – zumindest zunächst – nicht schon explizit wissens- oder sinnförmig konstituiert ist. Diese Ordnung als praktisch konstituiert aufzufassen, führt aber bei McDowell und Brandom über die besondere Praxis der menschlichen Sprache zurück in den rationalen Raum der Gründe, dessen elementare Normativität nun zwar nicht mehr unmittelbar, vielmehr durch Extraktion aus den impliziten Regeln des Handelns zugänglich gemacht werden kann, dennoch aber als gesichertes und selbständiges Feld menschlicher Vernunft aufgewiesen werden kann.[1]
Im Gegensatz zu diesem eher vordergründigen Einsatz des Handlungsbegriffs steht der Versuch von Autoren wie Theodore Schatzki und David Bloor (in Rekurs auf Wittgenstein, teilweise auch auf Heidegger) vom Begriff der Praxis her eine Sozialtheorie aufzubauen (Schatzki 1996; Bloor 1997). Das Handeln wird als Verkörperung und Ausdruck von kulturellen Sinnmustern und sozialen Institutionen verstanden, in die der Handelnde involviert ist und die somit immer schon eine intelligible Struktur abgeben, in der jeder konkrete Akt seine sinnhafte Form gewinnt. Die Stoßrichtung dieser Ansätze ist antimentalistisch und antinaturalistisch und darauf gerichtet, Handlungsfähigkeit kulturell bzw. sozial, nicht subjektivistisch und kausal zu erklären.
Mit der Rückführung von Praxis auf kulturelle Sinnmuster und soziale Institutionen rücken diese Wittgensteinianischen Sozialtheorien systematisch in unmittelbare Nähe zur Diskurstheorie des späten Foucault (vgl. Reckwitz 2000: 298). Gemeinsam ist ihnen das Moment, das agierende Subjekt eingebettet zu denken in umfassende Sinnzusammenhänge, die zugleich sein Selbstverständnis, sein Weltverständnis und seine Handlungsweise strukturieren. Im Unterschied zu den Wittgensteinianischen Sozialtheorien, wo es um die Frage geht, wodurch Handlungsweisen konstituiert sind und die daher den widerstreitenden, ausschließenden und machtbezogenen Faktoren des so Konstituierten wenig Beachtung schenken, bildet jedoch in der Foucaultschen Sichtweise der sinnhafte Grundzusammenhang kein stabiles Fundament, vielmehr ein historisch dynamisches Geflecht auch antagonistischer Diskurse. Doch immer wieder drängte sich in den Debatten um die Foucaultsche Diskursanalyse die Frage nach dem Außen von Diskursen auf, eine ungelöste Problematik, die es verlockend erscheinen ließ, doch ein Subjekt anzunehmen, das aus eigener Vernunft und Initiative Handlungsweisen entwickeln kann, die gegenüber allen kulturellen und sozialen Vorgaben autonom sind.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, was Judith Butler zu leisten versucht, wenn sie, die These von der Unhintergehbarkeit der Diskurse verteidigend, dennoch einen Begriff von Praxis zu entwickeln sucht, der ein subversives Moment, ein Potential von Veränderung begreifbar macht.[2] In Foucaultscher Tradition fasst sie zwar ebenfalls das Subjekt als diskursiven Effekt (Butler 1991: 215) und den Diskurs der Subjektkonstitution als Praxis (Butler 1991: 212), diese aber so, dass sie als „regulierter Wiederholungsprozeß“ (Butler 1991: 213) wirksam wird und Abweichungen in der Repetition als Bedingung der Möglichkeit von Subversion erscheinen läßt: „die ‚Handlungsmöglichkeit‘ [ist] in der Möglichkeit anzusiedeln, diese Wiederholung zu variieren.“ (Butler 1991: 213) Doch die Frage „Wie ist in Begriffen der Wiederholung Widerstand zu denken?“ (Butler 2001: 17) ist damit noch nicht beantwortet und sie bleibt bis in Butlers jüngste Schriften unaufgelöst.
Die Problematik läßt sich folgendermaßen umreißen: Wenn wir davon ausgehen müssen, dass Handeln ein geregeltes Tun ist, aber keine andere Quelle der Regelung als die diskursiv vorgegebenen zugelassen sind, dann lässt diese Denkfigur zunächst keine andere Möglichkeit zu, als das Handeln als bloße Reproduktion geregelter Diskurse zu begreifen. Es ist aber fraglich, ob sich das Problem lösen lässt, wenn man nun davon ausgeht, dass Diskurse disparate Regelungen und Muster produzieren und daher das Subjekt überhaupt nicht als Ort eindeutiger Handlungsregeln konstituieren können. Denn eine solche Uneindeutigkeit ist entweder uneindeutig für ein Subjekt, das dann (entgegen der Vorannahmen) doch einen Ort gegenüber diesen Regelungen einnimmt, oder aber sie durchzeichnen das Subjekt, so dass es zugleich divergierenden Ansprüchen unterworfen und damit der Handlungsmöglichkeit beraubt wäre. Auch die Denkfigur der Wiederholung löst diesen geschlossenen Zirkel nur dann auf, wenn sie zusätzlich zur Temporalisierung und Notwendigkeit der wiederholten Instantiierung ein qualitativ neues Moment einführt: die Veränderung der Raum-/Zeitkoordinate und der Perspektivenwechsel in der Aneignung (Butler 2001: 21) sind keine Änderungen, wenn sich nicht in ihnen die Form des Handelns in irgendeiner Weise ändert. Das kann zum einen durch die Wiederholung selbst geschehen, wenn sie sich als Wiederholung, also in ihrer Zitathaftigkeit kenntlich macht, zum anderen dadurch, dass sich in der Wiederholung ein von der Handlungsregel unerfasstes Moment des körperlichen Begehrens Geltung verschafft (Butler 2001: 37, 59). In beiden von Butler avisierten Fällen tritt ein neuartiges Moment zur bloßen Repetition einer formalen Struktur hinzu, das sie aber theoretisch nicht konsequent fasst: die konkreten, situativen Markierungen, die einen Akt erst als Zitat konstituieren und die materialen Strukturen der körperlichen Ökonomie, die jeden auf sie gerichteten Akt konventionaler Abrichtung selbst wiederum ‚verkörpern‘. Doch bleiben Butlers Formulierungen hier letztlich unentschieden, weil Konkretheit und Materialität des Handelns in ihrem Begriff der Praxis keinen systematischen Ort haben. Butler kann zwar die theoretische Stellung des Handelns zwischen Determiniertheit und Zufälligkeit benennen, aber verständlich machen, warum das Handeln von seinen Vorgaben abweichen kann, ohne sich an einen sinnfreien Nichtort zu manövrieren, kann sie nicht.
Insgesamt lässt sich sagen, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema Praxis in den letzten Jahrzehnten erstens eine umfangreiche methodologische Diskussion hervorgebracht hat, die für unsere Fragestellung insofern relevant ist als sich in ihr ein genuiner Begriff des Handelns gegenüber kausalen Prozessen konturierte; zweitens eine sprachanalytische Debatte, die eine Vielzahl wichtiger Elemente des Handlungsbegriffs herausarbeitete, aber subjektphilosophischen Grundannahmen weitgehend verhaftet blieb; drittens Versuche, in der Praxis eine normative Rationalität zu retten; viertens Ansätze, Praxis als Grundbegriff der sozialen und kulturellen Bedingtheit des Mentalen zu etablieren und fünftens die offene Frage, wie ein derart mit Konventionalität zusammenfallender Begriff der Praxis es zu verstehen erlaubt, dass im Handeln die Vorgabe der Regel verfehlt, überschritten und verändert werden kann.
- Zur Rekonfigurierung des Praxisbegriffs
Irrtum, Scheitern, Modifikation und Variation fasse ich als Grundphänomene des Handelns. Eine Handlungstheorie muss verständlich machen, wie diese Phänomene zustande kommen können. Die Schwierigkeit der Aufgabe ergibt sich dann, wenn man sich den Rückzug auf ein Subjekt, das aus eigener originärer Zeugungskraft neuen Sinn produziert, vollständig untersagt. Nur dann beantwortet sich die Frage, wie denn abweichendes Handeln und Veränderungen der Handlungskonventionen möglich sind, nicht schon von selbst. Nur unter der Annahme, dass es die gleichen Regularitäten sind, die einerseits die tiefgreifende Bestimmtheit und Stabilität des Handelns konstituieren und die andererseits die Möglichkeiten der Verfehlung und Subversion implizieren, stellt sich die Aufgabe, begrifflich eine Geregeltheit zu erfassen, die jeder Willkürlichkeit entgegensteht, aber gleichwohl nicht determinierend sein kann.
Der Gedanke, der im folgenden entwickelt werden wird, beruht auf der Annahme, dass der Handlungsbegriff an entscheidender Stelle bislang unzureichend analysiert ist. Das Handeln wird weitgehend so konzipiert, als ob es sich bloß nach einer inneren Logik, gleichsam weltlos vollzöge. Lediglich der Körper des Handelnden spielt in einigen Texten eine gewisse Rolle, doch zumeist nur eine solche, die mit der Handlung selbst zusammenfällt.[3] Dem wird hier entgegengehalten, dass Handeln stets unter materialen Bedingungen und in Gegebenheiten erfolgt, die sich dem Handlungssinn tendenziell entziehen und widerständig verhalten. Aus der Spannung zwischen Materialität und Konventionalität des Handelns wird schließlich begreiflich werden, wie konstituierende und öffnende Momente der Bestimmung des Handelns zusammenhängen.
[1] Hintergrund dieser Denkbewegung ist die Kantianische Philosophie Wilfried Sellars, für die das Konzept eines ‚Raums der Gründe‘ zentral ist. Zwei Zitate zur Illustration: „In being initiated into a language, a human being is introduced into something that already embodies putatively rational linkages between concepts, putatively constitutive of the layout of the space of reasons, before she comes on the scene.“ McDowell 1994: 125.“An die theoretische Stelle, an der normalerweise intentionale Zustände (intentional states) ihren Platz haben, schiebt die hier entwickelte Pragmatik ein Konzept normativer Status (normative statuses); dort, wo normalerweise von intentionaler Interpretation die Rede ist, setzt sie deontisches Kontoführen ein – das heißt, die soziale Praxis des Zu- und Anerkennens von Festlegungen und Berechtigungen, die solche Status implizit instituieren. Die theoretische Arbeit, die normalerweise von semantischen Bewertungen anhand der Korrektheit der Repräsentation und Erfüllung der Wahrheitsbedingungen erledigt wird, wird hier durch Beurteilung der Richtigkeit der Inferenz getan.“ Brandom 2000: 21.
[2] Vgl. Bertram 2005: 17-36.
[3] Eine theoretisch bedeutende Rolle nimmt der Körper bzw. der Leib in einigen an Merleau-Ponty und Bourdieu orientierten Ansätzen der Handlungstheorie ein. Hier bleibt allerdings die Materialität des Handelns weitgehend auf die Leiblichkeit des Handelnden beschränkt und die Welt, in der er agiert, zumeist auf die soziale: Taylor, 1995: 165-180; Joas 1992.
Zitat
„Dass wir im Handeln Material einrichten, ist nur in wenigen Handlungen offensichtlich, beispielsweise im Stimmen eines Instruments, in der Suche nach dem richtigen Wort, im Justieren von Griff- und Sitzpositionen. Jedoch gibt es in allen Handlungen Umstände, die dies zum Vorschein bringen können. Wenn wir eine Handlung lernen, gerade ’nicht drin sind‘, wenn die materiellen Gegebenheiten von dem Vertrauten abweichen, die Dinge – wie Heidegger schreibt – ‚auffällig, aufdringlich und aufsäßig‘ werden, dann tritt das Einrichten von Material in Erscheinung.“