ORGANON terminology toolbox: Ein Begriffswerkzeug für die interdisziplinäre Forschung

 

Interdisziplinäre Forschung ist mit einem notorischen Problem konfrontiert: Begriffe werden disziplinär, teils auch quer zu Disziplinen, verschiedenartig verwendet, was zu Schwierigkeiten der Verständigung und Kooperation führt.

ORGANON terminology toolbox ist als eine Plattform projektiert, die es erstmals erlaubt, Übersicht über bestehende Begriffsverwendungen zu gewinnen, die jeweils eigene, projektbezogene Begriffsarbeit im Horizont weiterer Begriffsbestimmungen zu entwickeln und nach Ablauf der Projektlaufzeit dauerhaft zu dokumentieren. Die Plattform stellt dazu Formate für qualitätsgesicherte Publikationen sowie Umgebungen für die Erarbeitung, Diskussion und Darstellung von Begriffsfeldern zur Verfügung.

Artikel:
 

WISSEN

Version 1.1, 10.10.201

 

Autor: Werner Kogge

ORGANON terminology toolbox

eDoc-Server der Freien Universität Berlin

Leseprobe

WISSEN

Version 1.1 (10.10.2017; erhalten am: 06.1.2017)

Autor: Werner Kogge

 

Zum Wort

Wissen ist ein Begriff, der sowohl in Philosophie und Wissenschaftstheorie, als auch in verschiedenen Sozial- und Kulturwissenschaften eine maßgebliche Rolle spielt. Die philosophische Tradition weist eine Kontinuität von gr. epistēmē und lat. scientia zu engl. knowledge, science, frz. savoir, science und dt. Wissen, Wissenschaft auf. [WK]

Inhalt
    1. Diskurse und Kontexte

 

Literatur zum Begriff

Weiterführende Links

 

  • Diskurse und Kontexte
      1. In philosophischer Tradition ist ein zentrales Motiv des Wortgebrauchs das der Erkenntnissicherung. PLATON und ARISTOTELES arbeiten dazu die Unterscheidung zwischen epistēmē (Wissen) einerseits, und Überzeugung und Meinung (pístis; dóxa) andererseits heraus: Während Überzeugungen und Meinungen falsch sein können, zeichne sich Wissen durch Passung an die Ordnung des Seienden aus. Dieser Aspekt des Begriffs ‘Wissen’ ist in der Geschichte der Philosophie kontinuierlich tradiert worden und mündete in der kanonischen Formel, Wissen sei ‘gerechtfertigte, wahre Überzeugung’. Andere Aspekte der Wissensproblematik unterlagen dagegen tiefgreifenden Transformationen. So war z. B. der griechische Begriff der epistēmē mit der Annahme einer unveränderlichen Ordnung des Seienden verbunden. In modernen Wissenstheorien wurde dagegen der Unterschied zwischen ‘wissen’ einerseits und ‘meinen’, ‘glauben’ etc. andererseits subjekttheoretisch, logisch oder sprachpragmatisch gedeutet. [WK]

        Quellen:
        PLATON. Gorgias 454b. 
        ARISTOTELES. Nikomachische Ethik, Buch VI, Kap. 3 u. 4. 
 
      1. Mit dem Entstehen von Geschichts‑, Sozial- und Kulturwissenschaften im 19. Jahrhundert trat als weiteres Begriffsmotiv die Einsicht in die historische und soziale Rolle von Wissen hervor. Charakteristisch für diese Diskurse ist, dass sie das Handeln und Denken von Menschen in Hinsicht auf deren kollektive Konstitution und Relevanz betrachten: welche Praktiken, Normen, Überzeugungen, Denkformen und Symbolismen lassen sich in einer Kultur / Gesellschaft/ Epoche beobachten, welche charakterisieren sie und welche taugen als Mittel der Erklärung, wenn es darum geht, gesellschaftliche Transformationen oder auch das Verhalten bestimmter Gesellschaftsteile oder ‑mitglieder zu beschreiben. Das bedeutet zum einen, dass Wissen somit selbst zu einem wissenschaftlichen Gegenstand wird, der beobachtet und sozialräumlich verortet werden kann, zum anderen, dass Wissen in seiner Funktion für die Konstitution von Kollektiven und Gesellschaften in den Blick genommen wird. Eine zentrale Rolle in diesem Sinne spielt der Wissensbegriff in der Wissenssoziologie (SCHELER; MANNHEIM), in strukturalistischen und poststrukturalistischen Ansätzen (LÉVI-STRAUSS; FOUCAULT) und in der Epistemologie der Naturwissenschaften (FLECK; KUHN; CANGUILHEM). [WK]

        Quellen:
        MANNHEIM, Karl. Ideologie und Utopie. Frankfurt/M. 1985 [1929].
      2. Im sprachphilosophischen Diskurs um common sense, Alltagswissen und gewöhnliche Sprache (ordinary language) des frühen 20. Jahrhunderts wurde die Unterscheidung von praktischem und theoretischem Wissen zu einem prominenten Thema. Als Vorläufer dieser Einteilung wird häufig die aristotelische Distinktion von techné (Könnerschaft) und epistēmē (Wissen) angeführt. Der Aspekt der Könnerschaft und Fertigkeit (techné) wurde allerdings – in der Übersetzung mit ars – zu einem Regelwissen umgedeutet und kam erst mit den intellektualismus-kritischen Überlegungen der frühen Sprachphilosophie wieder zu Geltung. Ludwig WITTGENSTEIN verhalf dem Gedanken einer praktischen Regelkompetenz zu Geltung und Gilbert RYLE prägte die Unterscheidung von knowing how und knowing that. Mit Michael POLANYIES Einführung des Begriffs tacit knowledge fand das Konzept eines nicht-ausdrücklichen, körperlichen Wissens Eingang in die Kultur- und Wissenschaftstheorie. Im Verbund mit phänomenologischen Ansätzen, die den Mensch-Welt-Bezug stets schon als leibliche und auch material strukturierte Relation auffassen, haben in der jüngeren Wissenschafts- und Techniktheorie eine Vielzahl von Ansätzen den Begriff des Wissens als eine Kompetenz verstanden, die sich nicht nur im Intellekt, sondern ebenso im Handeln, im Herstellen und auch in den hergestellten Dingen manifestiert. [WK]

        Quellen:
        RYLE, Gilbert. Der Begriff des Geistes. Stuttgart 1969. 
        POLANYI, Michael. Implizites Wissen. Frankfurt/M. 1985 [1966].

 

 

 

  • Literatur zum Begriff
KOGGE, Werner. Verkörperung – Embodiment – Körperwissen: Eine historisch-systematische Kartierung. In: RENGER, Almut, und WULF, Christoph (Hrsg.). Körperwissen: Transfer und Innovation (Paragrana: Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 25, 1). Berlin 2016, S. 33–48.

ICHIKAWA, Jonathan Jenkins, und STEUP, Matthias. The Analysis of Knowledge. In: ZALTA, Edward N. The Stanford Encyclopedia of Philosophy. Stanford 2014.
RITTER, Joachim. Artikel ‘Wissen’. In: Ritter, Joachim (Hg.). Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 12. Basel 1972. 
  • Weiterführende Links
Ausführlicher und brauchbarer Wikipedia-Artikel zu “Implizites Wissen”
Zum Thema Epistemologie zwischen Geschichte und Wissenschaftsphilosophie:
https://www.mpiwg-berlin.mpg.de/de/news/features/features-feature1
Zur Behandlung des Wissensbegriffs in der analytischen Philosophie: 
Gerhard Ernst: Der Wissensbegriff in der Diskussion