Lev Manovich

Society of the Screen

In: David Lauer und Alice Lagaay (Hg.) Medientheorien. Eine philosophische Einführung, Campus Verlag, Frankfurt/M., New York 2004, S. 297-315.

Abstract

In den letzten Jahrzehnten sind sämtliche Bild- und Tonmedien computerisiert und in digitale Prozessformen transformiert worden. Lev Manovich, ein Beobachter und Kenner der Entwicklung, stellt die Frage, wie neuartig diese neuen Medien tatsächlich sind. Sein Ziel ist aufzuzeigen, dass die Antwort weniger eindeutig ausfällt als man – in Anbetracht des scheinbar revolutionären Schrittes der Digitalisierung – erwarten könnte. Er zieht Linien historischer Kontinuität von den modularen Kompositionen der Computermedien über die Montageformen des Films bis zurück zu den Bildern, die im 18. Jahrhundert Jacquards Webstuhl produzierte. Sein Fokus richtet sich auf die Schnittstelle, die User und Maschine verbindet. Von einem breiten Spektrum von Phänomenen ausgehend (Datenbanken, Suchmaschinen, Computerspiele, Steuerung von Waffen und Animationen in Kinofilmen sind zentrale Beispiele), beschreibt er die unterschiedlichen Ausformungen, die die Schnittstelle in verschiedenen Handlungszusammenhängen annimmt. Dabei erscheint als Grundstruktur immer wieder ein Motiv, das sich unter den Titel ‚operative Bilder’ bringen lässt. Operative Bilder schöpfen auf der einen Seite das illusionistische und repräsentationistische Potential von Photographie und Film aus (bzw. übersteigen es als synthetische Bilder in einer Art Hyperrealismus) und sind auf der anderen Seite mit Steuerungselementen und Informationstableaus durchsetzt und verbunden. So leisten sie eine scheinbar paradoxe Vereinigung von Illusion und Aktion, die als Grundmotiv die soziale, ästhetische und politische Kultur der neuen Medien prägt.

„We may debate whether our society is a society of spectacle or of simulation, but, undoubtedly, it is a society of the screen.“

(L. Manovich)

„In der Verbindung mit dem illusionistischen Potential synthetisch erzeugter Handlungsräume stellt sich allerdings – denkt man die Überlegungen Manovichs weiter – für die politische Kultur der neuen Medien eine nicht leicht zu beantwortende Frage: Wird eine Sozialisation in den Strukturen der neuen Medien nicht mit der Suggestion verbunden sein, die Welt sei im Grunde algorithmisch konstituiert und Orientierung in der Welt sei mit dem Aufdecken verdeckter Logiken verknüpft? Und wird damit nicht die Neigung verbunden sein, stets eine zugrundeliegende Ordnung im Kontingenten zu vermuten und Undurchschaubarkeit in Kategorien von Verschwörung zu deuten?

Und wo sind die Gegenbewegungen gegen solche Tendenzen auszumachen?“

(W. Kogge)

Leseprobe

 

  1. Operative Bilder – das Paradigma der neuen Medien

 

Manovichs Erkundungen im Feld der neuen Medien verhalten sich explizit kritisch gegenüber allgemeinen Spekulationen über die Richtung, in die sich diese Techniken und ihre Auswirkungen entwickeln (10). Das eröffnet das Feld für die Untersuchung einer Vielzahl von konkreten  Tendenzen, historischen Stufen und Verlaufsformen, die – im Zeitraffer der technischen Geschichtlichkeit der neuen Medien – bereits gravierende Veränderungen der aktuellen Phänomene gegenüber denen der frühen 90er Jahre des 20. Jahrhunderts zu konstatieren vermag.  Innerhalb weniger Jahre haben die Techniken der Simulation und des ferngesteuerten Bildhandelns in Militär, Medizin und Forschung, die Verfahren der Animation in der Kinematographie, die 3-D-Produktion von ‚begehbaren’ Räumen in Architektur,  Design und Computerspielen eine Palette von Erscheinungen hervorgebracht, die eine möglichst unvoreingenommene theoretische Aufmerksamkeit erfordert. Es greift zu kurz, die theoretische Relevanz der neuen Medien entweder nur strukturell immanent oder nur soziologisch external zu untersuchen, wenn gerade in der Verbindung von Gebrauchs- und Strukturformen ihre ausschlaggebende Bedeutung liegt. Manovichs Konzentration auf die Erscheinungen an der Schnittstelle reagiert auf diese Herausforderung, indem sie die Interdependenz zwischen der Konstruktion von Soft- und Hardwareartefakten, die mit immer größerem Aufwand auf Anpassung an kulturell verbreitete Formen der Praxis zielen, und Usern, die immer vielfältigere Möglichkeiten des Eingreifens und Transformierens in die artifizielle Struktur suchen, herausstreicht.

Es sind vor allem zwei  weit verbreitete  Annahmen über generelle Tendenzen der medialen Entwicklung, die sich als kontrastiver Hintergrund zu Manovichs Überlegungen ausmachen lassen: zum einen die Tendenz zur Aufhebung des Realitätsbezugs in totaler Simulation und virtuellen Welten; zum anderen die Tendenz zur Auflösung aller Gegenständlichkeit im sinnfreien Spiel der unendlichen Transformation beliebig modulierbarer Elemente und Ereignisse. In Abhebung von diesen beiden extremen Szenarien lässt sich Manovichs Sichtweise deutlicher herausarbeiten.

Totale Simulation ist – folgt man Baudrillard, einem prominenten Protagonisten dieser These – das Resultat eines zweifachen Prozesses: zum einen haben die Zeichen, die zunächst nur supplementär für ein Referiertes standen, im Zeitalter der Simulation figurative und operative Funktionen, d.h. sie stellen zugleich her, worauf sie sich beziehen; zum anderen sind mit der Verbreitung technischer Massenmedien die erzeugenden Zeichensysteme total geworden, geschlossene Maschinerien, in denen wir uns bewegen. Der erste Aspekt impliziert die Auflösung jeglicher Realität als Bezugspunkt für Bedeutung und Handeln, der zweite die Schließung des simulierenden Systems zur absoluten Illusion, zu der es keine Distanzierungsmöglichkeit mehr gibt – außer der des Wahnsinns.[1]

Während Baudrillard die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt zusammen mit der von Herstellen und Erscheinen einschmilzt und die totale Simulation als völlig neuartiges Stadium der Geschichte ausruft, kontextualisiert Manovich virtuelle Realität in der Geschichte illusionärer Verfahren. Er knüpft eine geschichtliche Verbindung, die gerade nicht von dem Verhältnis absieht, das beim Wahrnehmen und Handeln besteht und entfaltet dieses Verhältnis als eine Mediengeschichte der Moderne: Als mit dem perspektivischen Renaissance-Raum das Bild zu einem Fenster zur Wirklichkeit wurde, entstand die Spannung zwischen  dem Raum des Betrachters und dem Raum des Bildes. Die eingerahmte Illusion setzte sich von ihrer situativen Umgebung ab, darauf zielend, den Blick ins Bild, in den imaginierten Raum zu ziehen. Die Geschichte dieser illusionären Technik zeichnet Manovich als Geschichte der Vervollkommnung und des Unausweichlich-Werdens dieses Banns nach. Das Kino, mit seinem den Blick bindenden Spiel bewegter Bilder, seiner das Blickfeld überragenden Projektionsfläche und seinem im Dunklen verschwindenden Rahmen stellt eine neue Qualitätsstufe der Illusionsmaschine dar. Die direkt vor das Auge projezierten Bilder der ‚virtuellen Realität’, die jede Rahmung und damit den Raum außerhalb der Illusion auflösen und mit motorischen und haptischen Effekten korrelieren, sind nur die vorletzte Stufe der Entwicklung zur Totalisierung der Illusion. Schließlich – so Manovich – könnte die Virtuelle-Realitäts-Apparatur auf einen Chip zusammengeschmolzen, direkt in die Retina implantiert und über drahtlose Verbindungen angesteuert werden (114). Die Illusionsmaschinerie wäre vollkommen, der Bildraum total und – zumindest was die visuelle Wahrnehmung anbelangt – unhintergehbar.  

Die Vervollkommnung des Illusionären ist so eng mit offensichtlich elementaren menschlichen Bedürfnissen verbunden, dass der Gedanke bestechend scheint, die übergreifende Tendenz der medialen Entwicklung sei die zur Totalisierung der Illusion. Was spricht gegen diese Annahme? Manovich kommt hier zu einer interessanten Pointe, indem er  – in der Verlängerung seiner Konzipierung des Subjekts als User – den Körper mit ins Spiel bringt. Die Repräsentationstechniken, die die Illusion einer Realität erzielen, sind seit ihren Anfängen damit verbunden, den Körper des Betrachters zu fixieren – „to imprison“ (104) – wie Manovich sagt. Der beschränkte Blickpunkt, der zur Betrachtung eines Renaissance-Gemäldes eingenommen werden muß, ist nur der Anfang; über die perspektivischen Maschinen, die etwa Dürer beschrieben hat und die den Künstler starr zu seinem Objekt positioniert, über die camera  obscura, die den Betrachter selbst in die Dunkelkammer einschließt bis hin zum Kino, das seine Zuschauer an ihre Sitze fesselt, zum Schweigen verurteilt und konstitutiv von der Masse der ‚Mithäftlinge‘ abschließt (107), reicht die Verwandlung des Betrachters in einen Gefangenen der Illusion. Mit den Apparaten zur Erzeugung von virtueller Realität, die fest mit dem User verbunden sind und gerade seine Bewegungen zum Ausgangspunkt illusionärer Transformationen nimmt, scheint die Gefangenschaft nun aufgehoben, die Illusion zur Funktion des Subjekts zu werden. Doch – wie Manovich zeigt – trügt der Schein hier doppelt. Mit dem zitierten Chip in der Retina hätten wir uns nicht die Kontrolle über die Illusion letztlich angeeignet, sondern sie hätte uns – ganz und gar – in sich eingeschlossen: „From that moment on, we will carry our prisons with us – not in order to blissfully confuse representations and perceptions (as in cinema), but rather always to ‚be in touch’, always connected, always ‚plugged in.’ The retina and the screen will merge.“ (114)

Was spricht dagegen, dass diese Verschmelzung von Bildschirm und Retina, diese totale Illusion statthaben wird? Manovich deutet wiederum empirische Argumente an, wenn er auf die sich verdichtende Allgegenwart von Bildschirmen hinweist. Viele dieser screens werden immer kleiner und handlicher – wie die von Mobiltelephonen, elektronischen Organizern und Gameboys. Sie bilden Ausschnitte im Gesichtsfeld, auf bestimmte Funktionalitäten abgestimmt (114). Zugleich vervielfältigen sich die Fenster in den Monitoren. Die split screens lagern Operationsflächen nebeneinander und hintereinander, so dass die Bildschirme zu Operationsräumen werden, in denen nicht nur in, sondern mit Flächen agiert werden kann. Zu einer weiteren Grundform der neuen Medien entwickelt sich die Möglichkeit, in die Bild- bzw. Arbeitsfläche Steuerungselemente zu integrieren (90f). Eine wichtige Beobachtung in diesem Zusammenhang ist, dass den routinierten Usern das Wechseln zwischen  den beiden Rollen – der Rolle dessen, der sich in einem illusionären Raum verliert und dessen, der die Aktionen in diesem Raum steuert – nicht ablenkt oder auffällt. Wie der Verfremdungseffekt im Avantgarde Theater des 20. Jahrhunderts legt sich die mediale Maschinerie in ihrer Funktionalität offen, doch anders als jene Kunstform hat dies keinerlei distanzierende Wirkung (208ff): das Spiel zwischen Aktion und Illusion ist in den neuen Medien zu einer Einheit geronnen, zu einer medialen Grundform, die mit einer ganz selbstverständlichen Praxis verbunden ist.[2] Fern davon, zur totalen Illusionsmaschine zu werden, entwickeln sich die neuen Medien also zu Artefakten, die die scheinbar widersprüchlichen Momente der Hingabe an Illusion und der Steuerung von Aktion auf überraschend unproblematische Weise zu einer prozessualen Einheit integrieren. Am weitreichendsten sind die Auswirkungen dieser technischen Synthese, wo sie – hauptsächlich im militärischen, medizinischen oder wissenschaftlichen Bereich – zu ferngesteuerten Aktionen auf Grundlage bildgebender Verfahren eingesetzt werden. ‚Telepräsenz’ und ‚Teleaktion’ sind – so Manovichs Diagnose –wesentlich radikalere Innovationen als ‚virtuelle Realität’ oder bloße Computersimulation (166). Denn der Eingriff in eine Realität aus der Distanz bei simultaner Steuerung in Echtzeit  durch das fernübertragene Bild dieser Realität stellt das bislang gültige Verhältnis von Anwesenheit / Aktionsfähigkeit / Verletzbarkeit zu Abwesenheit / Passivität / Unverletzbarkeit (wobei ich das dritte Glied der Reihe hinzugefügt habe) außer Kraft (167). Die militärische Entwicklung seit dem ersten Golfkrieg ist ein beredtes  und beunruhigendes Beispiel für diese Entwicklung. ‚The society of the screen‘ ist keine Gesellschaft von Junkies, die die Bilderflut wie Drogen konsumieren, sondern von einem neuen Typ von Akteuren, die in artifiziell zu- oder aufbereiteten Welten reale Handlungen vollziehen und Wirkungen hervorbringen.

 

Eine zweite, weit verbreitete Annahme über die allgemeine Entwicklungstendenz der Medientechniken hat nicht die Totalität des Bildes, sondern die fundamentale Verflüssigung aller stabilen Entitäten, die Auflösung von Subjekt und Objekt in einem unendlichen Spiel von Verweisungen im Blick. Manovich hätte die elementare Operativität der différance Derridas, die flottierenden Signifikanten Lacans (um nur zwei der einschlägigen postmodernistischen Denker hier anzuführen) oder die anregende West-coust-Interpretation  von Heideggers Philosophie der Technik durch Hubert L. Dreyfus heranziehen können.[3] Bereits in den 50er Jahren hatte Heidegger argumentiert, dass moderne Technik durch die systemischen Modi der Flexibilisierung, Transformation, Speicherung, Steuerung und Sicherung von Elementen und ihren Verarbeitungsprozessen gekennzeichnet sei.[4] Entscheidend dabei ist, dass diese Entwicklung der technischen Modernisierung nicht auf ein Subjekt zielt, das immer umfassender Kontrolle über Instrumente und Produkte gewinnt, sondern dass im Gegenteil Subjekte und Objekte zu flexiblen und allseits verfügbaren Momenten eines übergreifenden Geschehens werden, das sich nicht mehr zu Beherrschenden und Beherrschten dichotomisiert. So deutet sich bereits bei Heidegger an, dass sich in Informationsverarbeitung und Computeroperation das Paradigma der modernen Technik – die Prozessualität identitätsfreier und beliebig transformierbarer Elemente – vollendet.

Manovichs Beitrag zu solchen Überlegungen bleibt wiederum eng an technische Strukturen und Praktiken und die Beziehung zwischen den beiden Seiten der Schnittstelle gekoppelt. Auf der einen Seite realisieren die neuen Medien tatsächlich in absoluter Form, was mit den elektronischen Technologien (z.B. Radio und Fernsehen) im Prinzip schon erreicht war: „As a result, an electronic signal does not have a singular identity – a particular state qualitatively different from all other possible states.“ (132) Auf der anderen Seite erreichen Flexibilität und Transformierbarkeit mit der technischen Weiterentwicklung zu Digitalmedien zwar keinen qualitativ neuen Stand, sie weiten sich aber aus zu einer umfassenden Modifizierbarkeit der computerisierten Informationen.

Des weiteren ist die numerische Codierung von Computerdaten mit zwei elementaren Struktureigenschaften der neuen Medien verbunden: Automatisierung und Programmierbarkeit. Auf der Ebene der Programmierung sind die Elemente der neuen Medien – gleich ob sie in Pixeln, Tönen oder Bewegungen sinnlich wahrnehmbar werden oder lediglich zur Manipulation und Steuerung anderer elektronischer Zustände führen – nichts als Computerdaten, die durch Algorithmen gesteuert werden (47f). Solche Daten können automatischen Transformationen unterzogen werden, wie etwa in der selbsttätigen Kontrastoptimierung bei Bildgestaltungsprogrammen. Die Medienmaschine Computer zeigt sich so – auf einer Ebene  – tatsächlich als eine Konkretion der Idee vom selbsttätigen Spiel bedeutungsfreier Signifikanten, menschliche Intentionen teils ersetzend, teils in die vorgeprägten Prozessmodi integrierend (32). So lässt sich argumentieren, dass Medien als neue Medien tatsächlich vom beschränkten Mittel zum universalen Medium, vom Werkzeug des Gedächtnisses und der Kommunikation zu einem umfassenden Operationsgeschehen avanciert sind, dass sie die Aufspaltung von Subjektivität und Objektivität unterlaufen und ihrer Logik inkorporieren. „New media“, so pointiert Manovich,  „may look like media, but this is only the surface.“ (48)

 

Doch in einer „society of the screen“ ist die Oberfläche weit mehr als Schein, unter dem das Sein sein technisch-materiales Potential entfaltet. Manovichs „digital materialism“ ist mindestens ebenso sehr ein „digital pragmatism“. So untersucht er nicht nur Strukturen und Prozessualitäten der digitalen Maschinerie, sondern auch, wie kulturelle Formen in der universalen Medienmaschine entstehen und verändert werden.  Er führt kulturelle Praktiken so wenig auf die Maschine zurück wie er die Maschine zum neutralen Werkzeug rein ideell konstruierter kultureller Artefakte erklärt. Nicht Reduktion, sondern Interaktion bildet die Leitfigur der Untersuchung. So konstatiert Manovich, dass neue Medien aus einer Computer- und einer kulturellen Ebene aufgebaut sind (46) und zwar so, dass nicht nur die Computerebene die Ebene der kulturellen Gestaltung infiziert, sondern auch umgekehrt:

„Of course, what I call ‚the computer layer’ is not itself fixed but rather changes over time. As hardware and software keep evolving and as the computer is used for new tasks in new ways, this layer undergoes continuous transformation. The new use of the computer as media machine is a case in point. This use is having an effect on the computer’s hardware and software, especially on the level of the human-computer interface, which increasingly resembles the interface of older media machines and cultural technologies – VCR, tape player, photo camera.“ (46)

Fern davon, die Kultur der Struktur digitaler Prozesse zu unterwerfen,  bilden die neuen Medien neuartige Synthesen, indem sie – wie Husserl das einmal ausdrückte – dem Wahrnehmbaren eine Ebene formaler Operationen unterschieben.[5]Anders als Husserl annahm, führt dies aber nicht zum Verlust von Anschaulichkeit und Sinnlichkeit, sondern zu einer – im Rahmen der klassischen Philosophie – kaum denkbaren Verbindungen von sinnlicher Rezeptivität und intellektueller Aktivität. Der Computer als Herzstück der neuen Medien nimmt die kulturellen Formen von Enzyklopädie und Erzählung, von Komposition und Sehpunkt, von Druckseite und Kino, von Brettspiel und Rätsel (46f; 216) in sich auf, wird zum immer perfekteren Medium ihrer Aufführung und drückt ihnen zugleich seinen Stempel auf, insbesondere indem er seine spezifischen Potentiale des Suchens, Komponierens, Sortierens, Filterns, Ersetzens usw. in die herkömmlichen symbolischen Formen einführt (46).

Die neuen Medien bedeuten also weder ein völlig neuartiges Stadium noch gar das Ende, vielmehr die Fortsetzung der Kulturgeschichte mit anderen Mitteln. Subjekt und Objekt verschwinden nicht, sondern zeigen sich aufs neue als Pole einer sie in ihrer je spezifischen Form konstituierenden Relation, die auch im Zeitalter digitaler Ontologie spannungsreich bleibt, Raum für unwillkürliche Effekte wie für kreativen Umgang lässt.

 

 

  1. Die politische Kultur der neuen Medien

 

Längst ist deutlich geworden, dass die Neuen Medien nicht zu einer Totalisierung des Medialen im Sinne einer totalitären ideologischen Infiltrationsmaschinerie führen. Die herrschaftskritischen und zivilgesellschaftlichen Potentiale von Internet und Email sind seit den 90er Jahren elementare und kaum mehr wegzudenkende  Bestandteile politischer Kulturen. Weniger klar dagegen ist, wie die strukturellen Bedingungen neuer Medien Sicht- und Verhaltensweisen, Darstellungskonventionen und Problemlösungsverfahren beeinflussen. Die Synthese von analytischer Maschine und Repräsentationsmedium, die mit neuen Praktiken des Sich-Bewegens und Handelns in synthetisch erzeugten Raumillusionen verbunden sind, unterläuft die herkömmlichen Dichotomien von Aktivität / Passivität, Subjekt / Objekt, Realität / Illusion und viele andere,  nicht in dem flachen Sinne, dass ‚Subjektivität’ und ‚Realität’ nur noch als museale Relikte der Geschichte des Denkens anzusehen wären, sondern insofern, als die neuen Medien uns mit realisierten Paradoxien konfrontieren, mit Illusionsräumen, die als Steuerungselemente fungieren, mit Werkzeugen, die Räume generieren, mit verbildlichten Algorithmen und errechneten Bildern, mit Daten, die agieren und Intentionen, die in der Montage von Modulen aufgehen. Es ist kaum abzusehen wie tiefgreifend die settings der neuen Medien das Wahrnehmen und Handeln verändern werden, doch eines dürfte gewiß sein: die Logik, die die totalitären Medienregime der Moderne beherrschte, die Herrschaft, Kontrolle, Produktion von Illusion und die Überblendung von Illusion und Realität mit Beherrschtheit, Rezeption, Passivität und Getäuschtsein korrelierte, ist in der politischen Kultur der neuen Medien aufgehoben. Manovich weist darauf hin, dass es eine Parallele gibt zwischen der Erscheinungsweise aktueller politischer Macht, die ihre Brüchigkeit, Skandalösität und Selbstkritik nicht verbergen kann und der Maschinerie der neuen Medien, die gar nicht mehr darauf zielt, ihre technischen Erzeugungs- und Prozessmodi unsichtbar zu machen (208f). Sein Beispiel sind QuickTime VR-Filme, die ständig ihre eigene Illusion dekonstruieren, indem im Navigieren oder Zoomen die Bilder eine zackige oder pixelförmige Materialität aufscheinen lassen (207).

Die Brüchigkeit der Illusion, bringt – so Manovich – ein Subjekt als user hervor, das – des illusionären Charakters seiner Medien gewahr und diese durch Steuerungselemente kontrollierend – eine mächtigere Position einnimmt denn je zuvor (209). Doch gilt es auch hier wieder, die Konturen der neuen Medien, die sich durch Manovichs Streifzüge abzeichnen, deutlicher und auch in ihrem kritischen Potential klarer herauszuarbeiten als in solchen Statements vordergründig evident wird. Denn die Frage, welche Rolle das Subjekt in den neuen Medien einnimmt, ist mit zwei Betrachtungen zu verbinden, die Manovich eher beiläufig anstellt: zum einen mit der Frage, wie die Ästhetik der synthetischen Bilder zu den Konventionen der Wahrnehmung verhält, zum anderen mit dem Problem, wie die algorithmische Konstitution von Computerspielen und – werkzeugen Handlungsmuster und Weltbilder präfiguriert.

 

Manovich stellt seine Überlegungen zur Ästhetik digitaler Bilder am Beispiel der Hollywood-Produktionen Jurassic Parc und Terminator 2 an, die in den frühen 90er Jahren die Wende zum Einsatz von Computeranimationen im Kinofilm brachten (200). Entscheidend in diesem Zusammenhang ist, dass die Ästhetik der synthetischen Bilder nicht auf realistische, sondern auf photorealistische Wahrnehmung zielt. Computergenerierte Bilder erreichen nun aber – so Manovich – diese Zielsetzung nicht nur, sondern übererfüllen sie, da  sie in ihrer absolut gleichmäßigen Schärfe von Kontur und Fläche, ihrer die Wahrnehmung weit unterschreitenden ‚Körnigkeit’ und ihrer geometrischen Perfektion einen Eindruck von Hyperrealismus erzeugen, der den vertrauten Rahmen der Wahrnehmung sprengt. Wie gehen nun die Hollywood-Filme mit diesem beunruhigenden Potential um? Jurassic Parc wählt den Weg, die synthetischen Bilder den konventionellen Filmbildern anzupassen. Die Brillanz von Kanten und Farben wird gedämpft, Effekte von ungleichmäßiger Tiefenschärfe und Körnung werden eingefügt (204). Terminator 2 erhält die hyperrealistische Ästhetik, allerdings insofern entschärft, als seine Protagonisten explizit als Figuren der Zukunft, als science fiction fungieren. Für die politische Kultur der neuen Medien interessant ist an diesen Beobachtungen, dass sich eine Brücke von Hollywood zum sozialistischen Realismus der Stalin-Ära schlagen lässt. Manovich zeigt, dass dieser kommunistischen Kunstform eine Jurassic Parc strukturanaloge Ästhetik zugrundelag. Da science fiction als von der Realität abgehobene Form im Stalinismus keinen Platz hatte, ging es auch dort darum, eine visuelle Welt der Zukunft zugleich zu erzeugen und zu verbergen (203). Die Verwandlung der imperfekten Welt der Gegenwart musste im Bild stattfinden, so dass die gesunden und muskulösen Menschen, die modernen Strassen und die im Geiste des Sozialismus leuchtenden Gesichter als Zeichen einer Zukunft in der Gegenwart lesbar wurden (203). Doch keinesfalls durfte der Kontrast zwischen  strahlend-reiner Zukunft und schäbiger Gegenwart sichtbar werden; deshalb die Überblendung der technisch ermöglichten Imagination mit den gewöhnlichen Formen alltäglicher Wahrnehmung, das Nivellieren der Differenz, das Verdecken der Konstruktion im stalinistischen Sozialismus der 30er bis 50er wie im Hollywoodkino der 90er Jahre. Ein Ausweg bietet – neben science fiction, wo der Wahrnehmungsschock per Genrewahl ausgeschaltet ist – die Avantgarde.  Was Dziga Vertov  vorführte, nämlich die Möglichkeiten einer technisierten Wahrnehmung, die die natürliche überschreitet, ausdrücklich werden zu lassen, könnte ein Vorbild sein für die Experimentatoren der neuen Medien, die heute das Spannungsfeld zwischen Wahrnehmungskonventionen und materialen Möglichkeiten erkunden (239-243). Wo dagegen die digitale Technologie zwar eingesetzt, aber in den Dienst einer perfektionierten Illusion gestellt wird, bleibt die Rolle des users prekär. Jurassic Parc entdeckt sich nicht in seiner Konstruktion, sondern lässt seine technologische Revolution unter der Hand wirksam werden, gewöhnt unmerklich an eine Ästhetik, an artifizielle Figuren die – so Manovich – das Menschliche übersteigen. „They are perfectly realistic representations of a cyborg body yet to come, of a world reduced to geometry, where efficient representations via a geometric model becomes the basis of reality.“ (202f)

 

Die schleichende Geometrisierung – oder auch: Mathematisierung oder Formalisierung – der Welt, mag im Bereich cinematographischer Inszenierungen, in dem die Perfektion der Illusion zum Programm gehört – relativ unspektakulär scheinen. Doch die mediale Realisierung von Husserls These aus den 30er Jahren[6], dass die mathematisch und geometrisch erzeugte Welt sich der sinnlich wahrnehmbaren Lebenswelt unterschiebt und zur wirklichen Wirklichkeit erklärt, was doch ein Derrivat ist, zeitigt vielleicht doch auch tiefgreifendere Wirkungen. Das wird sichtbar, wenn man einen anderen Ausschnitt des Spektrums der neuen Medien in den Mittelpunkt rückt und die Grundstruktur von Computerspielen als paradimatisch für die neuen Medien erachtet.

Die Doppelstruktur aus Illusionsraum und digitaler Maschine wird in ihren pragmatischen Effekten vielleicht nirgendwo deutlicher als in den interaktiven Computerspielen, in denen die Spieler ‚sich’ als Figuren in einem synthetisch erzeugten 3-D-Raum bewegen, dort Probleme lösen, Hindernisse überwinden, gegen Angreifer kämpfen. Wie in einem Cockpit sind hier Steuerungsanzeigen (z.B. das Energielevel des Protagonisten) in das illusionistische Sehfeld eingelassen, wobei typischerweise ein Wechsel zwischen Phasen nicht-interaktiver, kinoartiger Sequenzen und interaktiver Steuerungspassagen vorgesehen ist (210). Dieses Oszillieren – wie Manovich sagt – ist zugleich ein Oszillieren zwischen zwei Zuständen von Subjektivität (Wahrnehmen und Handeln) und zwei Typen von Oberflächen (transparent und opak) (210), oder allgemeiner: zwischen psychischem Involviertsein und distanziertem, auf datenförmigen Informationen gestütztem Handeln (216). In dieser allgemeinen Form der Beschreibung wird nachvollziehbar, warum Manovich  die Struktur der Computerspiele als Grundform neuer Medien betrachtet; denn selbst Suchmaschinen, die scheinbar bloß der Informationsgewinnung dienen, zielen mehr und mehr darauf, die Nutzer in ihre Struktur zu verwickeln und auf ihren Seiten zu halten, während scheinbar rein illusionistische Computerspiele in einem hohen Maße über Informationsgewinnung und -verarbeitung funktionieren (216). Der Effekt dieser Doppelstruktur besteht auf der ganzen Breite dieses Spektrums darin, dass die user einerseits in ein Geschehen verwoben sind, das zugleich aber ihre intellektuellen Fähigkeiten und Aktivitäten herausfordert. Problemlösen, schnelles Wechseln zwischen verschiedenen Typen von Aufmerksamkeit  und systematisches Experimentieren können als elementare Handlungsformen im Gebrauch von neuen Medien angesehen werden (210). Dabei ist diesen kognitiven Aktivitäten  eine ganz bestimmte Teleologie inhärent: sie zielen darauf, die versteckte Logik des Spiels aufzudecken, ein mentales Modell zu erstellen, das die Funktionsweise transparent macht (222). Entscheidend ist nun, dass dieses mentale Modell einer illusionistisch erzeugten Welt nichts anderes sein kann als exakt das Modell, das die Programmierer dieser Welt eingeschrieben haben. Die programmierte Logik ist aber – als digital erzeugte  – in ihrer Grundform immer algorithmisch, d.h. eindeutig, abgeschlossen, letztlich transparent und auflösbar. In ihrer Lösungsstruktur hat sie die Form von Schachaufgaben und detektivischem Rätsellösen, ist sie also keineswegs neu und einzigartig.

[1] vgl. den Beitrag von Christof Windgätter in diesem Band.

[2] „The oscillation between illusionary segments and interactive  segments forces the user to switch between different mental sets – different kind of cognitive activity. These switches are typical of modern computer usage in general.“ (210)

[3] Dreyfus, Hubert L. (1995), Heidegger on Gaining a Free Relation to Technology, in: Technology and the Politics of Knowledge, hrsg. von Andrew Feenberg und Alastair Hannay, Indiana University Press 1995. Dreyfus, Hubert L. (1997), Highway Bridges and Feasts: Heidegger and Borgmann on How to Affirm Technology, in: Man and World 30, S. 159-177.

[4] Heidegger, Martin (1954), ‚Die Frage nach der Technik‘, in: Ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen, S. 13-44.

[5] Husserl, Edmund, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936), hrsg. v. E. Ströker, Hamburg 1977 (Husserliana Bd. 6), S. 48f.

[6] Husserl 1992, a.a.O.