Heidegger, Dreyfus und die Frage nach einer Ethik des Technischen

In: Ethik im Lichte der Hermeneutik, hrsg. v. Andrzej Przylebski, Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 131-140.

Einleitung

Gibt es eine Ethik des Technischen?

Auf den ersten Blick scheint die Frage mit einem unproblematischen Ja zu beantworten zu sein. Ist Technik ein Tun und Produkt des Menschen und Ethik eine Ausformulierung der Kriterien richtigen und falschen Handelns, dann muss es selbstverständlich eine Ethik des Technischen geben. In diesem Sinne hat etwa auch der Verband Deutscher Ingeniere (VDI) einen Katalog ethischer Grundsätze des Ingenieursberufs entworfen.[1] 

Auf den zweiten Blick aber erscheint diese Ausgangslage doch nicht ganz unproblematisch

Es sind zwei, untereinander schwer vereinbare Konzeptionen, die es fraglich erscheinen lassen, ob es eine Ethik des Technischen überhaupt geben kann.[2] Zum einen ist es die Auffassung von Technik als neutralem Mittel, wie sie etwa von Jaspers und Habermas vertreten wurde.[3] Demnach taugt jedes technische Artefakt sowohl zu guten als auch zu schlechten Zwecken und diese Neutralität der Mittel bedingt, dass eine Untersuchung der je spezifischen Techniken für die Bewertung der Handlungen ohne Belang ist.

Zum anderen ist es die Auffassung von Technik als Medium, die sich in den letzten Jahren in Abhebung zum handlungstheoretischen Ansatz des ingenieurszentrierten Diskurses ausgeprägt hat. Technik wird hier verstanden als Medium, das unsere Handlungs- und Erfahrungsspielräume allererst konstituiert, strukturiert und transformiert. Insofern hier das Mediale als gleichsam transzendentale Bedingung der Möglichkeit von Handeln und Erfahren gedacht ist, entzieht sich auch gemäß dieser Konzeption die Frage, wodurch bessere und wodurch schlechtere Gestaltungen von Technik charakterisiert wären.

Die Frage, ob es eine Ethik des Technischen geben kann, entscheidet sich also an zwei Punkten: Erstens daran, ob man die Resultate und Produkte technischer Akte, Verfahren und Prozesse von diesen vollends ablösbar hält oder nicht: nur wenn die Eigenart dessen, was technisch eingesetzt, prozessiert und hergestellt wird, in seinen Resultaten, Produkten oder Beiprodukte wirksam wird, stellt sich die Frage nach Kriterien dieser ‚Mittel‘ oder ‚Medien‘, nicht nur etwaiger, auf unterschiedliche Weisen realisierbarer ‚Zwecke‘. Und zweitens daran, ob Technik als Voraussetzung allen Tuns oder innerhalb der Sphäre des Gestaltbaren gedacht wird. Nur im zweiten Fall stellt sich die Frage nach Kriterien dieser Gestaltung.

[1] Vgl. Verein Deutscher Ingenieure (Hrsg.), Technikbewertung. Begriffe und Grundlagen / Technology Assessment. Concepts and Foundations, VDI-Richtlinie 3780, 2000.

[2] Vgl. zum Folgenden: Werner Kogge: „Technologie des 21. Jahrhunderts. Perspektiven der Technikphilosophie“. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 6 / 2008, S. 935-956; insbes. S. 944-950.

[3] Vgl. Jürgen Habermas, Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt/M. 1968; Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949; Im Widerspruch zu seiner Bestimmung von Technik als symbolischer Form, kommt auch Ernst Cassirer zu einer Neutralitätsannahme: Vgl. „Form und Technik“, in: Leo Kerstenberg (Hrsg.), Kunst und Technik, Berlin 1930, S. 15-61; wieder abgedruckt in: Peter Fischer (Hrsg.), Technikphilosophie, Leipzig 1996.

„Vielleicht ist also der Weg vom Denken zur Gestaltung doch durchlässiger als es Heidegger im Zeitalter von Atombombe und großtechnischen Systemen erscheinen mochte. Auf jeden Fall scheint es mir selbst ein ethisches Problem zu sein, den Gestaltungswillen in Bezug auf die technischen Dinge unserer Welt theoretisch von vornherein zu suspendieren.“

Leseprobe

Als ich auf die technikphilosophischen Texte Heideggers stieß, hatte ich mich zuvor intensiv mit Sein und Zeit beschäftigt und es lag für mich nahe, die Beschreibung von Bestand und Gestell im Rahmen einer zentralen Dichotomie zu deuten, die Heideggers Hauptwerk durchzieht und die auch für die Erscheinungsweisen von Mensch, Raum, Zeit und Ding von Bedeutung ist: die Dichotomie von Vorhandenheit und Zuhandenheit. Bekanntlich ist im Rahmen dieser Unterscheidung die Entdecktheit von Welt primär im Zeugzusammenhang des Zuhandenen gegeben, in dem nicht nur die unmittelbar praktische Welt des Besorgens, sondern auch die Natur, der Raum, die Zeit und die Mitwelt – wie Heidegger schreibt – „mitentdeckt“[1] ist. Mit Blick auf diese Dichotomie liegt es nahe, Gestell und Bestand der modernen Technik gleichsam als realgewordene phänomenologische Fehldeskriptionen aufzufassen, insofern sich nun im Paradigma der modernen Technik eine Struktur welthaft verwirklicht, die zuvor nur als künstlich abgeleiteter Modus der Beschreibung von Welt erschien.

Anschließend an diesen Gedanken des Mitentdeckens – und an sprachpragmatische Überlegungen Wittgensteins – entwickelte ich eine eigene Konzeption, die sich um den Punkt dreht, dass Handeln nicht unabhängig von den Dingen und Materialien gedacht werden darf, mit und in denen eine Handlung jeweils vollzogen wird.[2] Und vom systematischen Hintergrund dieser Konzeption aus blickend, schien es mir offensichtlich, dass eine Totaltransformation in Bestand gleichzeitig mit dem Eigenwert und der Eigenständigkeit von Dingen die mit ihnen verbundenen Praktiken, durch die sich eine Lebenswelt konstituiert, zersetzen und nivellieren müßte. Eine Welt des Bestands schien mir überhaupt keine Welt mehr zu sein und ich hielt Ausschau nach technologischen Tendenzen, die nicht zerlegend, steuernd und entgegenständlichend, sondern rezeptiv, kommunikativ und integrativ ist – dazu später mehr.

 

Hubert Dreyfus reagierte auf diesen Text zunächst mit folgender Notiz: „Very clear, interesting + original. I think, however, it is all wrong about MH.“ So ganz falsch konnte er meine Interpretation Heideggers allerdings nach einiger Diskussion nicht mehr finden, wie auch umgekehrt mir allmählich klar wurde, welche Ambivalenz in die Heideggersche Philosophie ich übersehen hatte – eine Ambivalenz, an der sich auch die Frage nach einer Ethik des Technischen entscheidet.

Doch zunächst zu Dreyfus eigener Lesart.

Der Ansatzpunkt seiner Interpretation drückt sich bereits in der Formulierung aus: „How can we relate ourselves to technology in a way that … gives it a positive role in our lives?“[3] Es geht Dreyfus also darum zu fragen, wie es uns gelingen kann, uns zu Technik, auch zu moderner Technik, so ins Verhältnis zu setzen, dass sie eine positive Rolle in unserem Leben spielt. Dies gelingt nicht – so versteht Dreyfus Heidegger – wenn wir versuchen, die technischen Objekte noch besser unter Kontrolle zu bringen und der Verfügung des Subjekts zu unterwerfen. Stattdessen geht es darum, aus dem technologischen Seinsverständnis herauszutreten, die Restriktion und die Nivellierung, die in diesem Verständnis für unser Seinsverhältnis liegt, zu überwinden. Dies gelingt uns nicht durch eine Änderung der technischen Artefakte und Prozesse – damit würden wir innerhalb eines Kontrollparadigmas verbleiben, sondern durch eine Änderung unserer Einstellungs- und Erfahrungsformen. Eine freie Beziehung zu Technik erreichen wir nämlich, wenn wir uns klar machen – und zwar nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch –, dass wir uns zu technischen Artefakten nicht im Sinne von Sicherung und Steuerung verhalten müssen; und zwar können wir, so Dreyfus, aus dem technologischen Grundverständnis immer dann ausbrechen, wenn wir uns von Dingen eher versammelt fühlen als sie zu kontrollieren suchen. In Bezug auf diesen „Gestalt Switch“[4] – wie Dreyfus das auch nennt – unterscheidet sich die talüberspannende Autobahnbrücke nicht von der Holzbrücke über den Schwarzwaldbach. Die unterschiedlichsten Artefakte nämlich ermöglichen eine Integration und Fokussierung unserer Praktiken, wenn wir nur gewillt sind, aus dem Zwang einer Ordnung der Effektivitätssteigerung herauszutreten und wahrzunehmen, wie auch moderne Technik unterschiedliche lokale Welten mit unterschiedlichen Erfordernissen an Fertigkeiten zu verbinden vermag.

Ohne hier weiter ins Detail zu gehen, dürfte sich schon andeuten, worin sich die beiden Auslegungen von Heideggers Text grundlegend unterscheiden. Während Dreyfus das Problem der Gefährdung des Menschen als ein Verkennen der welt- und identitätsstiftenden Potenziale versteht, die auch der modernen Technik eigen sind, deutete ich Heidegger so, dass

das Verkennen nicht nur im Verhältnis des Menschen zur Technik, sondern ebenso in der Technik selbst manifestiert ist. Zugespitzt gesagt: Für Dreyfus gibt es die Technik und unsere Deutung; für mich ist die moderne Technik selbst schon eine in spezifischer Weise ausgelegte Welt. Für beide Interpretationsansätze lassen sich Argumente in Heideggers Text finden – mehr vielleicht für den Ansatz von Dreyfus.

Ich möchte hier aber nicht in erster Linie textexegetischen Fragen nachgehen, sondern ein inhaltlich-systematisches Problem freilegen. Festzuhalten ist zunächst, dass die beiden Interpretationen entgegengesetzte Antworten auf meine Eingangsfrage liefern: Im Kontext der Deutung von Dreyfus gibt es zwar die Aufforderung, sich in einer nicht-technologischen Weise zu moderner Technik zu verhalten, diese Aufforderung betrifft aber nicht die Technik selbst, sondern unsere Einstellung zu ihr. Im Kontext meiner Deutung sind dagegen sehr wohl Kriterien für besseres und schlechteres technisches Handeln denkbar; die resultierenden Prozesse und Produkte sollen nämlich die Anforderungen eines offenen, entdeckten Weltzusammenhangs nicht gefährden, was Ansprüche der Orientierung, Zugänglichkeit, Erschließbarkeit durch Fertigkeiten etc. impliziert.

Auf inhaltlich-konzeptioneller Ebene ist es also durchaus folgenreich zu entscheiden, welche Deutung vorzuziehen ist.

[1] Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1993 (1927), S. 70.

[2] Eine handlungstheoretische Ausformulierung dieses Punktes findet sich in: Werner Kogge, „Praxis als philosophischer Grundbegriff: Wie Materialität und Devianz handlungstheoretisch zu denken sind“, in: Georg Bertram, Stefan Blank, David Lauer und Christophe Laudou (Hrsg.). Intersubjectivité et pratique. Contributions à l’étude des pragmatismes dans la philosophie contemporaine, Paris 2005, S. 197-224.

[3] Hubert L. Dreyfus, Charles Spinosa, „Highway Bridges and Feasts: Heidegger and Borgmann on how to Affirm Technology“, in: Man and World 30, 1997, S. 159-177, hier S. 159.

[4] Hubert L. Dreyfus, „Heidegger on Gaining a Free Relation to Technology“, in: Andrew Feenberg, Alastair Hannay (Hrsg.): Technology and the Politics of Knowledge, Indiana University Press 1995, S. 97-107, hier S. 103.