Großbaustellen in der Theorielandschaft

Konzeptuelle und ideengeschichtliche Hintergründe baulicher Größe

In: Klaus Rheidt/ Werner Lorenz (Hrsg.):Groß Bauen. Großbaustellen als kulturgeschichtliches Phänomen, Basel, Birkhäuser Verlag 2018, S. 15-23.

Abstract

Sehen wir uns in der Theorielandschaft um, so ist zunächst festzustellen, dass „Großbaustelle“ offensichtlich kein theoretischer Begriff ist; er findet sich in keinem Titel eines philosophischen, soziologischen, naturwissenschaftlichen oder kulturtheoretischen Werkes, er ist in keinem Index solcher Schriften verzeichnet. Man könnte mit Fug und Recht sagen: In der Theorielandschaft ist – bislang – kein Bauplatz für das Phänomen großer Bauvorhaben vorgesehen.

Holt man etwas weiter aus, so zeigen sich aber durchaus eine Reihe von Begriffen in der Umgebung des Themas, die theoretische Anknüpfungspunkte bieten: Man denke etwa an Konzepte wie Artefakt, Technologie, Architektur, Modell, Entwurf; oder auch an Begriffe wie Größe, Monumentalität; Erhabenheit und ähnliches. Im Folgenden soll nun ein theoretischer Streifzug unternommen werden mit dem Ziel, herauszufinden, wo sich in der Theorielandschaft einschlägiger Fächer Anknüpfungspunkte für das Thema großer Bauvorhaben finden lassen.

„Auf der einen Seite ist unsere gegenwärtige Sicht auf Großbauten geprägt durch die jüngere Geschichte des Phänomens monumentaler Bauten. Sehen wir uns den Begriff des Monumentalen etwas genauer an: Eine für die Verwendung dieses Begriffs charakteristische Abgrenzung von verwandten Begriffen, etwa dem der Gigantik, kommt in einer Emphase auf relationale und proportionale Aspekte zum Ausdruck: „Wahre Monumentalität äußert sich eben nicht in der Größe, sondern im Verhältnis der Figur zum Betrachter und, pathetisch formuliert, der inneren Durchdrungenheit eines Werkes,“ schreibt etwa Ulf Küster in seinem Aufsatz Monumentalität contra Gigantismus.[1] Wirkungsgeschichtlich bleibt hier ein Aspekt des bis ins 18. Jahrhundert üblichen Sprachgebrauchs bestimmend, demgemäß das Wort ‚Monument‘ (nach lat. monere: mahnen, warnen, erinnern) für Denkmäler und Gedächtnisstätten verwendet wurde – zunächst ohne jede Assoziation zu Größe und nicht einmal zwingend bezogen auf Bauwerke. Der Aspekt baulicher Übergröße und klassischer Vollkommenheit wurde erst im Kontext nationaler Repräsentation und historistischer Legitimation im 19. Jahrhundert für den Begriff ‚Monumentalität‘ bestimmend. Das darin ebenfalls implizierte Moment des Sakralen[2] weist zurück auf das in den Ästhetiken Kants, Herders, Pauls und Schillers ausgebildeten Konzept des ‚Erhabenen‘, von Kant bestimmt als das, „was über alle Vergleichung groß ist“,[3] als „ehrfurchterregende Großheit“.[4] Die Verschmelzung von nationaler Repräsentation, verbunden mit der Idee einer das Individuum übersteigenden und quasi-sakralen Bedeutung, führte dann im 20. Jahrhundert zur Assoziation von Großbauten und totalitären Regimen: Monumentalarchitektur schien der charakteristische Ausdruck der Inszenierung totalitärer Regime zu sein. Erst in jüngerer Zeit öffnet sich die Möglichkeit einer neuen Deutungsvielfalt.[5]

[1] Küster Ulf (2009): „Monumentalität contra Gigantismus. Alberto Giacometti hat auf das, was um ihn herum geschah, stärker reagiert als bisher angenommen“. In: du – Die Zeitschrift für Kultur 69, S. 89–93.

[2] Vgl. Kuhlenkampff, Jens (1991): „Notiz über die Begriffe ‚Monument‘ und ‚Lebenswelt‘“. In: Kultur als Lebenswelt und Monument. Hrsg. von Aleida Assmann und Dietrich Harth, Frankfurt/M., S. 26–33. Dazu exemplarisch die Formulierung von Peter Meyer („Ueberlegungen zum Problem der Monumentalität als Antwort an Hans Schmidt”. In: Das Werk 25.4 (1938), 123–128, hier S. 123): „Der Unterschied von monumental und nicht-monumental ist vielmehr mit allgemeinerer Geltung ganz der gleiche, wie der speziellere zwischen sakral und profan. Es ist ein Unterschied der Tonart, des Anspruchs, der sich in der Komposition ausdrückt, also im rein Aesthetischen, und der mit dem äusseren materiellen Aufwand an sich nichts zu tun hat und der auch nicht von der Menge des Formenaufwandes abhängt. Silo und Fabrikgebäude mögen so gross sein wie sie wollen: sie sind vielleicht staunenerregend, überwältigend, kolossal, aber deswegen keineswegs monumental, wogegen der Briefbeschwerer aus schwarzem Serpentin auf dem Tisch des Generaldirektors monumental sein kann, ohne gross zu sein. Und Riesenstadion und Hudsonbrücke werden erst dann monumental, wenn sie über ihre technische Leistung hinaus auch äusserlich als Manifest einer Staatsideologie in Erscheinung treten, wenn sie also über ihren blossen Nützlichkeitscharakter hinaus noch durch besondere Massnahmen pathetisiert, in eine quasi-sakrale Tonart versetzt sind.“

[3] Kant, Immanuel (1990): Kritik der Urteilskraft. Hrsg. von K. Vorländer and H. F. Klemme. Hamburg, § 25.

[4] Kant, Immanuel (1995): Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 65. In: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2. Register zur Werkausgabe. Hrsg. von W. Weischedel. Frankfurt /M.

[5] Vgl. Brunke Hagan/ Cancik-Kirschbaum, Eva/ Kogge, Werner/ Wulf-Rheidt, Ulrike/ Ziemssen Hauke u.a. : Thinking Big. Research in Monumental Constructions in Antiquity, in: eTopoi: Journal for Ancient Studies, Special Volume 6 (2016): Topoi Research Papers, ed. by Gerd Graßhoff – Michael Meyer.

Leseprobe

 

  1. Groß-Bauen: der Versuch einer konzeptuellen Einordnung

Sehen wir uns zunächst im Feld der Grundbegriffe um: Wenn hier nicht Architektur im allgemeinen und auch nicht Bauwerke als bestehende Monumente zum Thema gemacht werden sollen, sondern tatsächlich das Geschehen des Bauens, also ein Ensemble von Aktivitäten, dann kann eine erste Annäherung an theoretische Reflexion am besten über Begriffe menschlicher Aktivität erfolgen. Ein philosophischer Klassiker hierzu ist Hannah Arendts Werk Vita Activa, in dem sie – in Anlehnung an Aristotelische Konzepte – drei Formen von Tätigkeit unterscheidet, nämlich ‚Arbeit‘, ‚Herstellen‘ und ‚Handeln‘. Eine übersichtliche Darstellung dieser drei Formen bietet folgende Tabelle:

 

 

Arbeit

Herstellen

Handeln

Charakterisierung

„Die Tätigkeit der Arbeit entspricht dem biologischen Prozess des menschlichen Körpers, der in seinem spontanen Wachstum, Stoffwechsel und Verfall sich von Naturdingen nährt, welche die Arbeit erzeugt und zubereitet …“[1]

 

„Im Herstellen manifestiert sich das Widernatürliche eines von der Natur abhängigen Wesens … [es] produziert eine künstliche Welt von Dingen, die sich den Naturdingen nicht einfach zugesellen, sondern sich von ihnen dadurch unterscheiden, daß sie der Natur bis zu einem gewissen Grade widerstehen und von den lebendigen Prozessen nicht einfach zerrieben werden.“[2]

 

„Das Handeln ist die einzige Tätigkeit der Vita activa, die sich ohne die Vermittlung von Materie, Material und Dingen direkt zwischen den Menschen abspielt. Die Grundbedingung, die ihr entspricht, ist das Faktum der Pluralität …“[3]

 

Sphäre

OIKOS / HAUSHALT REPRODUKTION

 

WERKSTATT

ARTEFAKTE

POLITISCHE SPHÄRE

 

Wenn wir versuchen, bauliche Großunternehmungen in dieses Schema menschlicher Aktivitätsformen einzutragen, dann wäre ein erster Ansatzpunkt wohl im Herstellen zu vermuten. Doch trifft das Bild des Handwerkers, der nach seinem Willen und Plänen Material zu einem Werk formt, die Sache, um die es hier geht? Zu Großbaustellen gehören ja – neben handwerklicher Tätigkeiten – ebenso Aktivitäten der Koordination, der Kommunikation, der Logistik: also ein ganzer Bereich von Praktiken, der bei Hannah Arendt nicht ‚Herstellen‘, sondern ‚Handeln‘ heißt und der in ihrer Einteilung in den Bereich des Politischen – im weiten Sinne des Begriffs – weist.

Doch damit nicht genug: Eine Großbaustelle ist – schon als Tätigkeitsstätte, nicht erst als Werk – auf Dauer angelegt; d.h. es ist ein Betrieb, dessen Reproduktion gewährleistet sein muss. Zu denken ist an: Versorgung mit Energie, mit Produktionsmitteln, Ersatzteilen etc.; d.h. eine Großbaustelle ist nicht nur ein Ort des Herstellens und des Handelns, sondern zugleich ein Ort der Reproduktion, der wie ein oikos, ein Haushalt, unterhalten werden muss.

Unser theoretischer Verortungsversuch zeigt also: Das Phänomen des Groß-Bauens fügt sich nicht in dieses philosophische Schema der Einteilung menschlicher Aktivitäten; es liegt quer zu seinen Unterscheidungen; genauer: Es übergreift sie. Wie aber deuten wir diesen Befund?

Eine naheliegende Vermutung bestünde in der Annahme, die Technikentwicklung sei über solche Kategorisierungen schlicht hinweggegangen. Die Aristotelischen Begriffe und Unterscheidungen, die Hannah Arendt verwendet, sind – so würde unterstellt – in einem kulturellen Hintergrund verortet, dem moderne Herstellungsweisen fremd sind.

Gegen eine solche Deutung sind aber zwei Punkte vorzubringen: Erstens sind Großbauvorhaben keine exklusiv modernen Veranstaltungen. Große Bauvorhaben, auch mit enormen logistischen Aufwand, sind, zumindest als Thema, vielen antiken Gesellschaften vertraut. Zudem zeigt sich, auf den zweiten Blick, Hannah Arendts Verständnis von Technik alles andere als veraltet, vielmehr von besonderer Aktualität: Bereits 1958 beschreibt sie nämlich eine Tendenz der Technik, sich immer mehr den Naturvorgängen, der Reproduktion anzuverwandeln.[4] Mit dieser Diagnose kann sie tatsächlich als eine Vorläuferin zu aktuellen Tendenzen in der Techniktheorie gelten, die – nun durchgängig – in der Technik eine Tendenz zu Verkleinerung, Anpassung, Situierung, Flexibilisierung und Adaptivität erkennt. Minimalisierung, nicht Monumentalität, die Beherrschung des Atomaren, Molekularen und Nanoskaligen, nicht die Großartigkeit des Herstellens von Überdimensionalem liegen im Trend der Zeit!

Dass das Thema Größe im Bauen solchen weitreichenden Trends entgegengesetzt ist, kann sicherlich als ein Grund dafür angesehen werden, dass es im toten Winkel der jüngeren Theoriebildung blieb. Doch liegt nicht in genau dieser Nichtbeachtung auch ein Aspekt seiner Aktualität? Großbauvorhaben erscheinen heute als prekär und problematisch. Liegt der Grund dafür darin, dass sie – geht man von dem aus, was heute als besonders sinnig erscheint – etwas dem Widersprechendes, in diesem Sinne Widersinniges an sich haben?

Eine solche Charakterisierung von Großbauten als etwas generell Sinnwidriges ließe sich aber wiederum auf zweierlei Weisen deuten: entweder als Einsicht im Sinne des Satzes: „Großbauten sind die Dinosaurier der Gegenwart; sie sind dem Aussterben anheim gegeben“; oder aber in umgekehrter Weise: Wenn unserem Verständnis das Phänomen des Groß-Bauens von vornherein als etwas Sinnwidriges erscheint, dann zeigt sich darin in erster Linie ein Mangel unserer Konzepte, solche Phänomene sinnhaft zu erfassen und begrifflich zu durchdringen.

Im Folgenden will ich zunächst der Frage nachgehen, wo sich eventuell doch Spuren zu Theorien großmaßstäbiger menschlichen Unternehmungen finden lassen. Anschließend geht es dann um ideen- und mentalitätsgeschichtliche Hintergründe, die für die gegenwärtige theoretische Situation in Bezug auf das Thema Groß-Bauen relevant sind.

 

[1] Arendt, Hannah (1981): Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich (Orig.: The Human Condition, Chicago 1958), S. 16.

[2] Arendt 1981, S. 16.

[3] Arendt 1981, S. 17.

[4] Arendt 1981, S. 179-181.