Gibt es Techniken des Verstehens?

Eine hermeneutische Grundfrage im Kontext einer Theorie des Verstehens

in: Verstehen, hrsg. von Boike Rehbein und Gernot Saalmann, Konstanz 2009, S. 117-131.

Einleitung

Wie ist Verstehen zu verstehen? Wie sind die Implikate des Begriffs ‚Verstehen‘ zu explizieren? Wie muss eine Theorie des Verstehens angelegt sein, damit sie die Komplexität des Stands der Theoriebildung in diesem Gebiet spiegelt? – Drei Fragen, die auf verschiedene Diskurstraditionen verweisen; auf Diskurstraditionen, zwischen denen ein Verstehen häufig misslingt, und oftmals auch gar nicht versucht wird. Die Frageweise, die ich bevorzuge, hat die Form: Welchen Erfahrungen muss eine Konzeption des Verstehens zumindest gerecht werden? Diese Frageform hat den Vorzug, von vornherein den engen Zirkel der begrifflichen und theoretischen Verknüpfungen aufzubrechen, und die Fülle und Komplexität der Lebensbereiche, in denen das Konzept Verstehen von Bedeutung ist, in die Reflexion einzubeziehen. Sie hat – wie ich meine – außerdem den Vorzug, dass sie mit jeder der genannten Formulierungen der Theorietraditionen vermittelbar ist (aber dies ist vielleicht mehr eine Forderung an diese Traditionen als eine Beschreibung).

Zitate aus dem Text

„Ein junger Mensch aber hat keine Erfahrung – denn nur ein langer Zeitraum kann Erfahrung schaffen. Und in der Tat kann man die Frage auch so stellen: warum kann ein junger Mensch zwar ein Mathematiker, nicht aber ein Philosoph oder Naturwissenschaftler werden?“ (Aristoteles 1985, 1142a)

„Wenn aber die angenommenen Wesen uns etwas sagen, was wir nicht verifizieren können, so können wir es auch nicht verstehen; für uns liegt dann gar keine Mitteilung vor, sondern bloße Sprechklänge ohne Sinn, wenn auch vielleicht mit Vorstellungsassoziationen.“ (Carnap 1931, 233)

„Es ist anzunehmen, daß die Natur des intellektuellen Geistes so gegründet ist, daß sie aufgrund der Gliederung der natürlichen Ordnung mit den Erkenntnisgegenständen verbunden ist“. (Augustinus 1968; in Flasch 1982, 425f.)

Für das „hermeneutische Bewußtsein“ ist klar, „daß es mit dieser Sache nicht so verbunden sein kann, wie es für das ungebrochene Fortleben einer Tradition gilt. Es besteht wirklich eine Polarität von Vertrautheit und Fremdheit, auf die sich die Aufgabe der Hermeneutik gründet.“ (Gadamer 1990, 300)

„Wer versteht, ist immer schon einbezogen in ein Geschehen, durch das sich Sinnvolles geltend macht.“ (Gadamer 1990, 494).

„Kann man Menschenkenntnis lernen? Ja; Mancher kann sie lernen. Aber nicht durch einen Lehrkurs, sondern durch ‚Erfahrung‘. — Kann ein Andrer dabei sein Lehrer sein? Gewiß. Er gibt ihm von Zeit zu Zeit den richtigen Wink. — So schaut hier das ‚Lernen‘ und das ‚Lehren‘ aus. — Was man erlernt ist keine Technik; man lernt richtige Urteile. Es gibt auch Regeln, aber sie bilden kein System, und nur der Erfahrene kann sie richtig anwenden. Unähnlich den Rechenregeln.“ (Wittgenstein 1993, S. 575)

Leseprobe

Es sind drei Erfahrungen, die ich gleichsam als Eckpfeiler einer Konzeption von Phänomenen, Begriffen oder Theorien des Verstehens erachte: Wir kennen (1) alltäglich Situationen, in denen ein Unterschied deutlich wird zwischen einem ‚Verstehen‘, das offensichtlich nicht viel mehr ist als z.B. eine Projektion eigener Wünsche oder Ängste, und solchen Formen des Umgehens oder Auffassens, die im Vergleich dazu dem Zu-Verstehenden wesentlich besser gerecht werden: die Erfahrung von Mißlingen und Gelingen des Verstehens. Wir kennen (2) Situationen, die sich dem Verstehen versperren oder zu entgleiten scheinen; die eigene Orientierung gerät ins Wanken, das Zu-Verstehende befremdet: die Erfahrung von Fremdheit. Ebenfalls geläufig sind uns (3) Situationen, in denen jemand einen Satz paraphrasiert oder einem Verständnis gemäß handelt und der andere reagiert mit: ’nein, so war es nicht gemeint.‘ Auch hier scheint eine Differenz auf: die Erfahrung von Sinn und Nicht-Sinn.

Die Erfahrungen des Gelingens und Mißlingens, der Fremdheit und des (Nicht-)Sinns ließen sich durch weitergehende und präzise Beschreibung in ihren phänomenalen Strukturen erfassen, sie ließen sich aber auch, in einer sorgfältigen und am Sprachgebrauch ausgerichteten Analyse des Begriffs ‚Verstehen‘, als Implikate dieses Begriffs ausweisen; und es ließe sich zeigen, dass eine Theorie des Verstehens immer auch eine Theorie des Nichtverstehens, eine Theorie der Fremdheit und eine Theorie des (Nicht-)Sinns sein muss. Um sowohl dem ‚Stand der Reflexion‘ gerecht zu werden, als auch dem Sprachgebrauch und den phänomenalen Strukturen, dürfen diese Erfahrungen allerdings nicht – auch hier gibt es diskursabhängig verschiedene Vokabeln – substantialisiert, ontologisiert oder reifiziert werden: Denn es gibt zwar die Erfahrung der Differenz zwischen angemessenerem und weniger angemessenem Verstehen, aber es gibt nicht ein per sewahres oder richtiges Verstehen; es gibt zwar die Erfahrung der Differenz zwischen dem, was verständlich erscheint, und einem Gegebenem, das sich dazu unvermittelbar zeigt, aber es wäre verfehlt anzunehmen, es gäbe Fremdes an sich (etwa regional bzw. kulturell Entlegenes); und es gibt zwar die Erfahrung der Differenz z.B. zwischen Gemeintem und Gesagtem, aber es gibt deshalb nicht Sinn als selbständige Entität.[1] Angemessenheit, Fremdheit und Sinn sind vielmehr als Aspekte und Momente von komplexen Handlungs- und Erfahrungszusammenhängen zu betrachten. Eine Theorie des Verstehens, die nicht nur eine elegante begriffliche Konstruktion sein will, sondern in und für diese Zusammenhänge etwas leisten soll, muss deshalb diese herausstechenden Differenzen als Strukturmomente solcher komplexen Lebenszusammenhänge konzeptualisieren.[2]

In früheren Arbeiten habe ich versucht, solche Strukturmomente näher zu bestimmen. So brachte ich die Erfahrung des Sinns mit strukturellen Zusammenhängen in Verbindung, die das Inbeziehungsetzen von zwei Regularitäten im sinnhaften Akt (z.B. Sprechakt) betreffen: die Ordnung dessen, was es heißt x zu tun (im Unterschied zu y, z, …) (pragmatische Konventionen) und die Ordnung des semiotischen Systems (z.B. Sprache), in der etwas getan wird. Das Phänomen eines Sinns, der in Artikulations- und Verstehensbemühungen erfasst oder verfehlt werden kann, lässt sich aus der Erfahrung begreifen, dass sich Artikulationen in unterschiedlichen Graden als Entsprechungen vertrauter Handlungen deuten lassen. (vgl. Kogge 2002, 217-236)

Das Phänomen der Fremdheit analysierte ich im Zusammenhang von Sinn- und Verstehensgrenzen. Wichtige Strukturmomente dabei sind ausgedrückt in der begrifflichen Differenz von Anderem und Fremdem – wir erfahren Anderes nicht grundsätzlich als fremd, und Eigenes nicht grundsätzlich als vertraut[3] – und in der begrifflichen Differenz zwischen Erfahrung von Fremdheit und Zuschreibung von Fremdheit: die Zuschreibung von Fremdheit kann dazu führen, dass eine Erfahrung von Fremdheit gerade nicht gemacht wird. (vgl. Kogge 2002, 299ff.)

Die strukturellen Beziehungen, die sich in solchen Differenzen äußern, sind allerdings so komplex, dass eine Vielzahl von Untersuchungen erforderlich ist, um zu einem besseren Verstehen von Verstehensphänomenen zu kommen.

Hier nun will ich der dritten Grunderfahrung, der der graduell verschiedenen Angemessenheit von Verstehen, nachgehen. Es geht mir um die strukturellen Zusammenhänge, die in Verbindung mit der Frage stehen, durch welche Faktoren Verstehen verbessert oder befördert werden kann? Genauer geht es um die Frage, ob es Techniken gibt, die zu angemessenerem Verstehen verhelfen.

Die Antwort auf diese Frage hängt zum einen davon ab, was unter Techniken verstanden wird, zum anderen davon, was unter Verstehen verstanden wird. Diese beiden Voraussetzungen sollen nun zunächst thematisiert werden.

  1. Der Begriff der Techniken und das Verstehen

Technik im Plural, Techniken, ist in der Moderne ein unterbelichtetes Thema geblieben. Der griechische Begriff der techné, im lateinischen mit ars übersetzt, wurde im 19. Jahrhundert zu ‚Kunst‘ in einem Sinne, der der Technik – im modernen Wortsinn – gerade entgegen gesetzt ist. ‚Techniken‘ oder ‚Künste‘ im Sinne von Könnerschaften, von ausgebildeten und raffinierten Formen des Handelns werden inzwischen fast nur noch Sportlern zugeschrieben, aus anderen Lebensbereichen scheinen sie nahezu verschwunden zu sein. Wenn es nun um die Frage nach möglichen Techniken des Verstehens geht, empfiehlt es sich daher, in der begrifflichen Reflexion einer Kultur anzusetzen, die der Könnerschaft offenbar eine weit höhere Wertschätzung entgegenbrachte als unsere technisierten Gesellschaften.

In der Philosophie des Aristoteles bezeichnet techné ein Können, das auf einem Wissen beruht. Dieses Können ist lehr- und lernbar. Gemeinsam mit dem Wissen (epistéme) ist das Können der techné von der bloßen Erfahrung abgehoben. Der Begriff der Erfahrung ist zwar bei Aristoteles noch nicht empiristisch verkürzt, er bezeichnet nicht nur ein Beobachtungsereignis, sondern durchaus eine umfassende praktische Kompetenz, Unterschiede und Zusammenhänge zu sehen und danach wirkungsvoll zu handeln. Worüber diese Kompetenz der Erfahrung aber nicht verfügt, sind Explikationen der Regelzusammenhänge, in denen sie sich praktisch bewegt. Diese begrifflichen Verallgemeinerungen sind gerade das, worin sich epistéme und techné ausprägen. Der Allgemeinbegriff erst ermöglicht den Aufbau von Regel- und Ursachenwissen. Erst mit dem Begriff können Sätze wie ‚Allen Fieberkranken hilft das Medikament x‘ formuliert werden. Prinzipien und Regeln führen Ursachen an, geben eine Antwort auf die Frage ‚warum?‘ Damit erzeugen sie einen von der Erfahrung verschiedenen Wissenstypus, nämlich den des Herstellens aus Ursachenwissen und den des Rückführens auf Ursachenwissen.

Im praktischen Bereich allerdings kann der Erfahrene dem Wissenschaftler oder Künstler/Techniker durchaus überlegen sein (vgl. Aristoteles 1985, 1143b), denn die Erfahrung richtet sich auf das Einzelne, und die Heilung betrifft – wie Aristoteles bemerkt – nicht „einen Menschen überhaupt […], sondern den Kalias oder den Sokrates oder irgendeinen anderen Einzelnen, für welchen es ein Akzidens ist, daß er auch Mensch ist.“ (Aristoteles 1994, 981a)

Dieser Gedanke, dass Erfahrung eine Kompetenz in Bezug auf Einzelnes ist, wirft nun aber für unsere Problemstellung eine Frage auf: Sind es vielleicht nicht Techniken, die ein Verstehen befördern, sondern Erfahrungen, sofern sich Erfahrungen von Techniken gerade unterscheiden?

Hermeneutisch ausgerichtete Autoren wie Droysen, Dilthey, Simmel, und Windelband haben ja mit Nachdruck auf einen Gegensatz hingewiesen „zwischen jenen Wissenschaften, die wie die Physik, Chemie oder Physiologie auf Generalisierungen über reproduzierbare und prognostizierbare Phänomene abzielen, und jenen, die wie die Geschichtswissenschaft die individuellen und spezifischen Merkmale ihrer Gegenstände“ (v. Wright 1991, 19) zu erfassen suchen. Wenn sich demnach nun aber Verstehen als die spezifisch hermeneutische Erkenntnisform auf das Individuelle richtet, und wenn die Kompetenz, die sich in Bezug auf das Individuelle auszeichnet, Erfahrung ist, dann wäre Erfahrung als die Voraussetzung anzusehen, aus der heraus Verstehen ermöglicht, oder zumindest befördert wird.

Aristoteles jedenfalls gesteht der Erfahrung eine ganz eigene Form der Ausbildung eines Verständnisses zu. In der Nikomachischen Ethik heißt es:

„Ein junger Mensch aber hat keine Erfahrung – denn nur ein langer Zeitraum kann Erfahrung schaffen. Und in der Tat kann man die Frage auch so stellen: warum kann ein junger Mensch zwar ein Mathematiker, nicht aber ein Philosoph oder Naturwissenschaftler werden?“ (Aristoteles 1985, 1142a)

Aristoteles rät, der Erfahrung der Alten genauso viel Gewicht zu geben wie den begrifflichen Beweisen:

„Denn weil sie durch ihre Erfahrung ein Auge bekommen haben, sehen sie die Dinge richtig.“ (Aristoteles 1985, 1143b)

Ist also Erfahrenheit eine Bedingung der Verstehensfähigkeit? Verstehen wir desto besser, je mehr Erfahrung wir haben? Gadamer scheint sich diese Auffassung zu eigen gemacht zu haben. Er schreibt in Wahrheit und Methode:

„Das Wesen der Erfahrung wird hier [im hermeneutischen Bewußtsein] von vornherein von dem her gedacht, worin Erfahrung überschritten ist. Erfahrung selber kann nie Wissenschaft sein. Sie steht in einem unaufhebbaren Gegensatz zum Wissen und zu derjenigen Belehrung, die aus theoretischem oder technischem Allgemeinwissen fließt. Die Wahrheit der Erfahrung enthält stets den Bezug auf neue Erfahrung. Daher ist derjenige, den man erfahren nennt, nicht nur durch Erfahrungen zu einem solchen geworden, sondern auch für Erfahrungen offen. Die Vollendung seiner Erfahrung […] besteht nicht darin, dass einer schon alles kennt und alles schon besser weiß. Vielmehr zeigt sich der Erfahrene im Gegenteil als der radikal Undogmatische, der, weil er so viele Erfahrungen gemacht und aus Erfahrungen gelernt hat, gerade besonders befähigt ist, aufs neue Erfahrungen zu machen und aus Erfahrungen zu lernen.“ (Gadamer 1990, 361)

Wer undogmatisch aus Erfahrungen zu lernen bereit ist, der kann wohl als einer betrachtet werden, der über eine besondere Kompetenz zu verstehen verfügt. Ist also besonders verstehensfähig, wer erfahren ist?

Der Gegensatz, den Gadamer zwischen Erfahrung auf der einen Seite und lehrbarem theoretischen und technische Wissen auf der anderen sieht und der bereits in der Gegenüberstellung von Wahrheit und Methode ausgedrückt ist, zeigt an, dass dieses Konzept des Verstehens durch Erfahrung tatsächlich gegen eine Ansicht gerichtet ist, die das Verstehen im Technischen begründet und verortet sieht.

Als Antipode zu Gadamer steht Rudolf Carnap sozusagen auf der Seite von Methode und Technik. Er schreibt über das Verstehen im Kontext eines möglichen Einwandes gegen seine Kritik der ‚Metaphysik‘, nämlich, ob höhere Wesen uns nicht etwas zu verstehen geben könnten, was uns bislang (wie – nach Carnap – die metaphysischen Sätze) unsinnig erschien und führt aus:

„Wenn aber die angenommenen Wesen uns etwas sagen, was wir nicht verifizieren können, so können wir es auch nicht verstehen; für uns liegt dann gar keine Mitteilung vor, sondern bloße Sprechklänge ohne Sinn, wenn auch vielleicht mit Vorstellungsassoziationen.“ (Carnap 1931, 233)

Verstehen können wir – so diese Konzeption –, was verifizierbar ist, und verifizierbar ist, was in denotierenden Begriffen und logisch eindeutiger Syntax, also in den Formen einer regelhaften Technik ausgedrückt ist und was sich in einem (der Idee nach) ebenso regelhaften und kontrollierten experimentellen System überprüfen lässt.

Wir stehen damit vor zwei grundverschiedenen Konzeptionen, zwei Grundfiguren oder Modellen, das Verstehen zu denken. Diese beiden Modelle sollen nun etwas näher beleuchtet werden, um deutlicher werden zu lassen, wie sie sich zu der Frage verhalten, wodurch Verstehen befördert werden kann.

 

  1. Die beiden ‚klassischen‘ Modelle der Verstehenskonzeption

Das eine Grundmodell: Ein Subjekt bemüht sich, ein Objekt zu verstehen; das Objekt ist von ihm durch eine erkenntnistheoretische Kluft getrennt; das Subjekt ist mit ihm nur durch das verbunden, was ihm seine Sinnesorgane vom Objekt übermitteln. Die gesamte Verstehensleistung ist dadurch eine Leistung des Subjekts. Descartes, der vielleicht wichtigste Philosoph in der Tradition dieser Denkfigur schreibt:

 „‚alles was wir wahrhaft verstehen und begreifen‘ ist ‚ein Werk unserer Einsicht und unseres Verstandes …'“ (Descartes 1670, in Apel 1955, 152).

Im 20. Jahrhundert formuliert symptomatisch Theodore Abel in seinem Aufsatz The Operation called Verstehen, dass verstehe, wer  einen „stimulus“ nachempfinden und die dort beobachtete Handlung nach einer allgemeinen Verhaltensmaxime sich plausibilisieren kann. (Abel 1948, 212f.) Jedoch bleibt das Verstehen hier stets nur eine Rumpfform von Erkenntnis. Abel schreibt:

„Die Operation des Verstehens fügt unserem Wissensbestand nichts hinzu, da sie lediglich in der Anwendung von durch persönliche Erfahrung bereits validiertem Wissen besteht; noch dient sie als ein Mittel der Verifikation. Die Wahrscheinlichkeit einer Verknüpfung kann nur durch das Mittel objektiver, experimenteller und statistischer Tests mit Sicherheit geprüft werden.“ (Abel 1948, 218)

Abel reproduziert hier offenbar das Erkenntnismodell, dem auch Carnap verpflichtet ist: Erkenntnis kommt nur auf methodisch geregeltem Wege zustande. Der Unterschied, dass Carnap den Begriff ‚Verstehen‘ für diese methodische Tätigkeit selbst in Anspruch nimmt, und damit alle anderen Erkenntnisformen nicht nur als unzureichend, sondern als unsinnig deklariert, während Abel ein Verstehen aus „persönlicher Erfahrung“, wenngleich nur als rudimentäre epistemische Form, einräumt, fällt nicht weiter ins Gewicht angesichts ihrer gemeinsamen Überzeugung, dass jegliche erkenntnisschöpfende Leistung gerade nicht auf vorgängiger Erfahrung beruht, sondern auf einem logisch-methodischen Begriffsaufbau, dessen Aussagen sich experimentell überprüfen lassen. Verstehen – so weit man in diesem Rahmen diesen Begriff einsetzen will – würde hier durchaus eine technische Angelegenheit sein; und zwar eine Technik im Sinne von regelgeleiteter Konstruktion. Verstehen wäre hier, was sich in einem Regelsystem konstruieren bzw. rekonstruieren ließe.

Eine zweite klassische Traditionslinie geht von einem ganz anderen Grundmodell aus. Das Verstehende und das Zu-Verstehende sind hier gerade nicht durch eine Kluft voneinander getrennt, sondern durch eine zugrundeliegende Identitätsbeziehung miteinander verknüpft.

Die Traditionslinie einer Identitätsphilosophie des Verstehens zieht sich vom neuplatonischen Denken aus über den theologisch-mystischen Diskurs bei Augustinus und Meister Eckhart bis in die romantische Hemeneutik des 19. Jahrhunderts. [4] Sie findet sich außerdem in der literaturwissenschaftlichen Hermeneutik des 20. Jahrhunderts wieder.[5]Ihr Grundgedanke ist, daß das Verstehende (Geist, Subjekt, Vernunft, Ich etc.) im Grunde identisch sein muss mit dem, was zu verstehen ist. So findet sich etwa bei Augustinus folgende Bemerkung:

„Es ist anzunehmen, daß die Natur des intellektuellen Geistes so gegründet ist, daß sie aufgrund der Gliederung der natürlichen Ordnung mit den Erkenntnisgegenständen verbunden ist“. (Augustinus 1968; in Flasch 1982, 425f.)

Noch deutlicher fällt die Formulierung von Meister Eckhart aus:

„Denn solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gleicht, solange wird er diese Rede nicht verstehen.“ (Eckhart 1979, 309)

Besonders prägnant ist schließlich bei Dilthey zum Ausdruck gebracht, daß das Verstehen auf einer Identitätsgrundlage beruht:

„Das Verstehen ist ein Wiederfinden des Ich im Du; der Geist findet sich auf immer höheren Stufen von Zusammenhang wieder; diese Selbigkeit des Geistes im Ich, im Du, in jedem Subjekt einer Gemeinschaft, in jedem System der Kultur, schließlich in der Totalität des Geistes und der Universalgeschichte macht das Zusammenwirken der verschiedenen Leistungen in den Geisteswissenschaften möglich.“ (Dilthey 1981, 235)[6]

Die Voraussetzung einer zugrundeliegenden Identität von Verstehendem und Zu-Verstehendem steht nun der Annahme, dass Verstehen durch die Ausbildung von Verstehenstechniken befördert werden könnte, diametral entgegen. Hier kann kein Tun ausgebildet werden, da hier nämlich gar nichts getan wird; Verstehen beruht hier auf einem Sein, auf wesenhafter Gleichheit oder Ähnlichkeit, nicht auf einer Praxis.

  1. Die Konzeption des Verstehens in der philosophischen Hermeneutik

Die philosophische Hermeneutik des 20. Jahrhunderts wendete sich gegen beide genannten Traditionslinien und entwickelte eine neuartige theoretische Grundfigur für das Verstehenskonzept, die sie gegen beide Traditionen abgrenzt. Am Subjekt-Objekt-Modell des erkenntnistheoretischen Dualismus diagnostizierte sie insbesondere zwei theoretische Verkürzungen: Zum einen setzt diese Konzeption  irrigerweise ein „zunächst weltloses bzw. seiner Welt nicht sicheres Subjekt voraus, das sich im Grunde erst einer Welt versichern muß.“ (Heidegger 1993, 206) Zum anderen operiert sie mit der künstlichen Voraussetzung eines Verstehensobjekts als völlig unbestimmtem Gegenstand: Wenn uns etwas überhaupt gegeben ist, dann – wie Heidegger schreibt – schon vor aller ausdrücklichen Erkenntnisbemühung „in einer vorgängigen Erschlossenheit“ (Heidegger 1993, 87)

Der Abgrenzung gegen das zweite Modell, gegen die Konzeption einer – wie Gadamer es nennt – „ästhetisch-pantheistischen Identitätsphilosophie“ (Gadamer 1990, 222) sind in Wahrheit und Methode breite Ausführungen gewidmet, die dahin zielen, die Differenz zwischen zu verstehender Sache und dem vertrauten Horizont des Verstehenssubjekts zur Geltung zu bringen. Gadamer argumentiert:

Für das „hermeneutische Bewußtsein“ ist klar, „daß es mit dieser Sache nicht so verbunden sein kann, wie es für das ungebrochene Fortleben einer Tradition gilt. Es besteht wirklich eine Polarität von Vertrautheit und Fremdheit, auf die sich die Aufgabe der Hermeneutik gründet.“ (Gadamer 1990, 300)

Philosophische Hermeneutik sieht also die Situation des Verstehens als ein „Spannungsverhältnis“, das „nicht in naiver Angleichung zuzudecken“ (Gadamer 1990, 311) ist. Verstehen heißt hier, etwas auf etwas zu beziehen, oder, um es terminologisch mit Heidegger zu fassen: Verstehen zeigt sich darin, daß wir etwas als etwas verstehen; es als etwas wahrnehmen, behandeln oder begreifen. (vgl. Heidegger 1993, 148ff.) Dabei bezeichnet das erste etwas ein je aktual Gegebenes (z.B. einen Sprechakt, eine Handlung, ein Bild, ein Werkzeug) und das zweite etwas ein vertrautes, tradiertes, habitualisiertes Muster, in Bezug auf dessen Form und Struktur das gegebene etwas aufgefasst wird. Was verstanden wird, wird also nicht einfach an sich verstanden, sondern es wird als etwas verstanden; und als was es verstanden werden kann, hängt auch davon ab, welche Muster in der Sinnordnung, in der ein Verstehen sich bewegt, zur Verfügung stehen. Mit dieser Denkfigur kommen wir dazu, Verstehen als ein Verhältnis aufzufassen, das dadurch konstituiert wird, dass das Vorverständnis und das aktual zu Verstehende gerade nicht zusammenfallen.

Trotz dieser reflektierten Position wirft die Konzeption des Verstehens der philosophischen Hermeneutik aber verschiedene Probleme auf, die in erster Linie daher rühren, dass Heidegger und Gadamer die soeben skizzierte Grundfigur zu wenig explizieren, stattdessen eine streng immanenztheoretische Position immer wieder auf ontologische, existenzphilosophische und seinsgeschichtliche Fundierungen hin überschreiten und dadurch verflachen.

Diese Verflachungen zeigt sich insbesondere bei Gadamer an allen drei für eine Verstehenstheorie entscheidenden Punkten, die wir eingangs angeführt hatten.

Sinn konzipiert Gadamer im Rahmen der von ihm selbst mit „Ontologische Wendung der Hermeneutik“ überschriebenen Ausführungen als ein Geschehen, das zugleich Sprach-, Sach-, Erfahrungs- und Wahrheitsgeschehen ist und das somit eine Differenz zwischen Gemeintem und Gesagtem eigentlich nicht mehr denkbar sein läßt: „Immer bleibt das verstehende und auslegende Bemühen sinnvoll.“ (Gadamer 1990, 406) Denn:

„Wer versteht, ist immer schon einbezogen in ein Geschehen, durch das sich Sinnvolles geltend macht.“ (Gadamer 1990, 494).

Dieses Geschehen überspannt auch alle Differenzen zwischen Traditionen und Kulturen, so dass ein Phänomen der Fremdheit ebenfalls konzeptuell nicht mehr vorgesehen ist. In einer an Dilthey erinnernden Formulierung führt Gadamer aus: „Gewiß sehen die in einer bestimmten sprachlichen und kulturellen Tradition Erzogenen die Welt anders als anderen Traditionen Angehörige. Gewiß sind die geschichtlichen ‚Welten‘, die einander im Laufe der Geschichte ablösen, voneinander und von der heutigen Welt verschieden. Gleichwohl ist es immer eine menschliche, d.h. sprachverfaßte Welt, die sich, in welcher Überlieferung auch immer, darstellt. Als sprachlich verfaßte ist eine jede solche Welt von sich aus für jede mögliche Einsicht und damit für jede Erweiterung ihres eigenen Weltbildes offen und entsprechend für andere zugänglich.“ (Gadamer 1990, 451)

Im Rahmen dieser Konzeption eines universalen Sinngeschehens bleibt dann auch die Frage, wie der Unterschied zwischen einem angemessenerem und einem weniger angemessenen Verstehen zu begreifen wäre, unbeantwortbar. Erst auf der letzten Seite von Wahrheit und Methode versucht Gadamer dieses Desiderat zu füllen und spricht von einer „Disziplin des Fragens und des Forschens“, die – anstelle von Methode – „Wahrheit verbürgt.“ (Gadamer 1990, 494) Näheres über diese Disziplin, der eine so gewichtige Aufgabe zukommt, erfahren wir von Gadamer nicht.

  1. Ein Neuansatz in der Konzeption des Verstehens

In meinen eigenen Arbeiten habe ich versucht, den Schwächen der hermeneutischen Verstehenskonzeption zu begegnen, indem ich sie durch pragmatistische, praxeologische und systemtheoretische Denkfiguren anreicherte. (vgl. Kogge 2001, 2002, 2005, 2008)

Mein systematischer Einsatzpunkt war das Verhältnis zwischen dem Geflecht von Bedeutungen, Überzeugungen und Routinen, in denen wir immer schon stehen, und dem Verstehen. Es schien mir eine wichtige Einsicht zu sein, dieses Verhältnis nicht nur als ein Bedingungsverhältnis zu denken, sondern ebenso auch als ein Rückwirkungsverhältnis; also nicht nur: dass wir in einem Geflecht von Bedeutungen, Überzeugungen und Routinen stehen, ist eine Bedingung der Möglichkeit zu verstehen, sondern auch umgekehrt: was wir verstehen, und auch was wir nicht verstehen, prägt und formt dieses Geflecht. Eine Kultur, eine Sinnwelt, ist nichts anderes als der Zusammenhang der sinnhaften Akte, der Verstehensakte, die zu Struktur verfestigt sind. Diese Strukturen stehen in einem wechselseitigen Bedingungs- und Wirkungsverhältnis zu den Grenzen und Möglichkeiten des Verstehens: Ich habe versucht zu beschreiben, wie Erfahrungen von Unkenntnis, Unsinn und Widersinn mit Sinnregionen und Sinngrenzen korreliert sind. (vgl. Kogge 2002, 270-288)

Aus diesem theoretischen Zusammenhang möchte ich hier nur einen für die Frage nach Techniken des Verstehens zentralen Punkt herausgreifen:

Verstehen ist hier konzipiert als eine spezifische Ausformung, eine spezifische Emphase dessen, was wir in jedem Moment leisten: nämlich das aktual Gegebene, die komplexe gegenwärtige Situation mit den vertrauten Mitteln, Mustern und Schemata zu ‚verstehen‘. Dies tun wir für gewöhnlich unbewußt und unausdrücklich. Ein Verstehen – nun im eigentlichen Sinn – setzt an dem Punkt ein, an dem die vertrauten Muster, Schemata und Routinen nicht unproblematisch zur Anwendung kommen, sei es, weil sich etwas gegen ihre Applikation sperrt, sei es weil diese bewußt ausgesetzt wird. Verstehen in diesem Sinne beginnt, so könnte man pointieren, mit einem Nichtverstehen. (vgl. Kogge 2002, 261-270)

Das Aussetzen der vertrauten Deutungsmuster führt zu etwas, was ich als einen Schwebezustand beschrieben habe: sowohl die vertrauten Muster als auch das aktual Gegebene geraten in einen Zustand, in dem sie ungebunden, im noch gar nicht bekannten Raum der verschiedenen Möglichkeiten von Verknüpfungen sich bewegen – und zwar genau in dem Sinne, in dem ein Schwebendes, ohne widerstandslos zu sein, jegliche Impulse in seine Bewegung aufnimmt.

Dabei bleibt der Grundimpuls des Verstehens aber stets darauf gerichtet, die neu-  oder fremdartige Gegebenheit in eine Beziehung zu setzen zum Vertrauten und Bekannten. Es wird eine Aufhebung des Schwebezustandes in einem verknüpfbaren Sinnmuster gesucht, aber dieser setzt – im eigentlichen Verstehen – immer auch die vertrauten Muster einer Transformation aus: sie richten sich auf das Zu-Verstehende hin neu aus.

Eine solche Transformation ist nun aber keine kleine Sache. Im Gewebe von Bedeutungen, Überzeugungen und Routinen zieht jede Transformation eines Elementes andere Veränderungen nach sich. Verstehe ich etwas wirklich, so verändert sich nicht nur mein Verständnis an dieser Stelle, sondern der ganze Komplex, in das mein früheres Verständnis eingebettet war, muss sich neu einrichten.

  1. Verstehen und Erfahrungsschulung nach Wittgenstein

Was heißt das nun für die Frage nach den Techniken des Verstehens? Denkt man Verstehen in der soeben skizzierten Figur, dann liegt die Frage nahe, wo hier das Verstehen zwischen Ereignis und Vollzug steht: inwiefern ist ein solcher Verstehensprozess etwas, das sich gleichsam selbstläufig ereignet; und inwiefern ist es ein Vollzug, der durch gerichtete Aktivitäten zu Wege gebracht wird? – Sicherlich ist es beides und sicherlich ist es nur im konkreten Fall beschreibbar, aber im Allgemeinen unentscheidbar, welche Anteile wo liegen.

Wenn es sich mit dem Verstehen so verhält: Wodurch wäre die Fähigkeit zu verstehen zu befördern? Was läßt sich hier als begünstigende Bedingung denken?  Wir hatten zwei Möglichkeiten bereits angeführt: die aristotelische Erfahrung einer sich gleichsam naturwüchsig in der Zeit ausbildenden Unterscheidungskompetenz und die Techniken der Vereindeutigung und Regelfolgekompetenz. Wenn nun aber Verstehen etwas mit der, unter Umständen folgenreichen Transformation der eigenen Verstehensbedingungen zu tun hat, dann kann weder jene Erfahrung, noch dieser Typ von Technik ein geeigneter Kandidat für die zu besetzende Rolle sein. Denn jene Erfahrung läßt sich nicht eigens herbeiführen – das selbst gelebte Leben läßt sich nicht überspringen –, und diese Technik führt alles auf ein bekanntes und beherrschtes Schema, transformiert also nur den Gegenstand, nicht die eigenen Interpretationsmuster.

Was benötigt wird ist also eine dritte Weise, die Möglichkeit der Förderung des Verstehens zu denken. Wittgenstein gibt hier einen hilfreichen Hinweis in Bezug auf einen möglicherweise analogen Fall, wenn er nämlich fragt:

„Kann man Menschenkenntnis lernen? Ja; Mancher kann sie lernen. Aber nicht durch einen Lehrkurs, sondern durch ‚Erfahrung‘. — Kann ein Andrer dabei sein Lehrer sein? Gewiß. Er gibt ihm von Zeit zu Zeit den richtigen Wink. — So schaut hier das ‚Lernen‘ und das ‚Lehren‘ aus. — Was man erlernt ist keine Technik; man lernt richtige Urteile. Es gibt auch Regeln, aber sie bilden kein System, und nur der Erfahrene kann sie richtig anwenden. Unähnlich den Rechenregeln.“ (Wittgenstein 1993, S. 575)

Könnte es sein, dass Verstehen ähnlich gelernt werden kann wie Menschenkenntnis? Wenn dem so wäre, dann wäre Verstehen zwar nicht durch die Ausbildung einer Technik im Sinne von Regelfolgekompetenz zu fördern, wohl aber durch eine Erfahrungsschulung, die mit Hinweisen und Beispielen arbeitet, wohl auch mit Hinweisen zu den eigenen Einstellungen und Haltungen. In diesem Sinne einer Erfahrungsschulung könnte Verstehenlernen doch das Erlernen von Techniken bedeuten, Techniken nämlich z.B. des Aussetzens von Musterapplikation, des Aushaltens der Schwebe, des Transformierens vertrauter Schemata. Die Hinweise, die dabei hilfreich sein könnten, sind ähnlich wie im Fall des Erlernens von Menschenkenntnis. Es wird am konkreten Fall auf Aspekte hingewiesen, die im selbstläufigen Verständnis unter den Tisch fallen; es wird gezeigt, dass es sich lohnt, das Bild, das man sich gemacht hat, außer Kraft zu setzen, ohne es aber schlechthin aufzugeben; es werden Richtungsalternativen angezeigt, in denen sich Unfügsames mit fremdartig Erscheinendem verbinden läßt, so dass zwar kein vertrautes Schema daraus hervorgeht, das Zu-Verstehende aber dennoch Kontur gewinnt – nämlich als konturierte Erfahrung des Nichtverstehens im beständig gesuchten Verstehen. Solche Strukturelemente eines ‚eigentlichen‘ Verstehens lassen sich in der Ausbildung einer kultivierten Praxis, nicht zuletzt in der Ausbildung einer Praxis des Umgangs mit dem Eigenen und Eigensten, sicherlich zu einem gewissen Grade erlernen. Ein Garant für Verstehen kann eine solche Schulung aber nicht sein. Denn was in einer Verstehenssituation herausgefordert ist, ist – in Abhängigkeit von dem Verhältnis dessen, was auf der einen und was auf der anderen Seite auf dem Spiel steht – nicht nur eine Frage des Könnens, sondern stets auch eine Frage des gewordenen Seins und des Seinwollens.

Literatur:

Abel, Theodore: The Operation called ‚Verstehen‘. In: American Journal of Sociology 54, 1948, S. 211-218.

Allolio-Näcke, Lars/ Britta Kalscheuer: Wege der Transdifferenz. In Allolio-Näcke, Lars/ Britta Kalscheuer / Arne Manzeschke (Hrsg.): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz, Frankfurt/M., New York 2005, S. 15-25.

Apel, Karl-Otto: Das Verstehen. Eine Problemgeschichte als Begriffsgeschichte, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 1, Bonn 1955, S. 142-199.

Aristoteles: Metaphysik. Hrsg. von Ursula Wolf, Reinbek bei Hamburg 1994.

Aristoteles: Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes hrsg. von Günther Bien, Hamburg 1985.

Augustinus, De trinitate XII 15, n. 24, Corpus Christianorum. Series Latina 50, hrsg. v. W.J. Mountain u. F. Glorie, Turnhout 1968.

Bittner, Rüdiger: Was ist Verstehen? In: Kaul, Susanne/ Lothar von Laak (Hrsg.): Ethik des Verstehens. Beiträge zu einer philosophischen und literarischen Hermeneutik, München 2007.

Carnap, Rudolf: Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache. In: Erkenntnis 2 (1931), S. 219-241.

Descartes, René: Brief an Clerselier über die Einwände Gassendis [s. Meditationes de prima Philos., ed. Amstelod (1670), S. 145, 147]; zitiert nach Apel 1955,                                                                  152.

Dilthey, Wilhelm: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt/M. 1981

Flasch, Kurt (Hrsg.): Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Bd. 2, Stuttgart 1982.

Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990.

Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 1993.

Horstmann, Axel: Das Fremde und das Eigene – ‚Assimilation‘ als hermeneutischer Begriff. In: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 30, Bonn 1986-87, S. 7- 43.

Kogge, Werner: Verstehen und Fremdheit in der philosophischen Hermeneutik: Heidegger und Gadamer, Hildesheim 2001.

Kogge, Werner: Die Grenzen des Verstehens: Kultur – Differenz- Diskretion, Weilerswist 2002.

Kogge, Werner: Die Kunst des Nichtverstehens. In: Juerg Albrecht/ Jörg Huber/ Kornelia Imesch/ Karl Jost/ Philipp Stoellger (Hg.): Kultur Nicht Verstehen. Produktives Nichtverstehen und Verstehen als Gestaltung, Zürich, Wien, New York 2005, S. 119-144.

Kogge, Werner: Wie Differenz begreifen? Das Konzept der ‚Transdifferenz‘ und die Konzeption von ‚Die Grenzen des Verstehens‘. In: Transdifferenz revisited. Neue interdisziplinäre Zugänge und Perspektiven, hrsg. von Britta Kalscheuer und Lars Allolio-Näckel, Frankfurt/M. 2008, S. 213-233.

Meister Eckhart: Deutsche Predigten und Traktate, Zürich 1979.

Polaschegg, Andrea: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin, New York 2005.

Polaschegg, Andrea: Tigersprünge in den hermeneutischen Zirkel oder Gedichte nicht verstehen. Gattungspoetische Überlegungen (lange) nach Emil Staiger. In: 1955-2005: Emil Staiger und Die Kunst der Interpretation heute. Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge, Bd. 16, Bern u.a. 2007.

Renn, Joachim: Übersetzungsverhältnisse. Perspektiven einer pragmatistischen Gesellschaftstheorie, Weilerswist 2006.

Straub, Jürgen / Shingo Shimada: Relationale Hermeneutik im Kontext interkulturellen Verstehens. Probleme universalistischer Begriffsbildung in den Sozial- und Kulturwissenschaften – erörtert am Beispiel ‚Religion‘, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 (1999) 3, S. 449-477.

Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt/M. 1997.

Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt/M. 1993.

[1] Es ist gerade das Nicht-Unterscheiden von mit dem Sinnbegriff verbundenen Erfahrungen und der Auffassung von Sinn als selbständiger Entität (im Sinne einer platonischen Idee), das der Empfehlung Rüdiger Bittners zugrundeliegt, „auf den Begriff ‚Sinn‘ zu verzichten“ (30). Bittner wendet sich gegen Begriffsbildungen wie „‚Sinnkonstitution‘, ‚Sinnstiftung‘ oder ‚Sinngeschehen'“ (30) und schlägt vor, anstelle der Rede vom Sinn eines Satzes, ‚Verstehen‘ als die Erkenntnis aufzufassen, „daß mit dem Satz das und das gesagt ist“ (30). Die Formel „das und das“ versteckt aber nur – und dazu ganz unzureichend – das eigentliche philosophische Problem, das darin liegt, jene spezifische Erfahrung, dass das, was „gesagt ist“, in einer Paraphrase oder in einer Übersetzung mehr oder weniger verfehlt oder getroffen werden kann, so zu konzeptualisieren, dass sie weder getilgt, noch in die Form einer platonischen Entität gefasst wird. Bittners Versuch, den Sprachgebrauch zu verbessern, bedeutet dagegen eine Simplifizierung auf Kosten dieser Erfahrung. Es scheint hier das zu geschehen, was in Teilen der analytischen Philosophie immer wieder geschieht, nämlich dass der antimetaphysische Impuls in einen neuen Dogmatismus umschlägt. Vgl. Bittner 2007.

[2] Zu praxeologisch inspirierten Ansätzen, die sich dieser Aufgabe zuwenden, vgl.: Straub/ Shimada 1999; Allolio-Näcke/ Kalscheuer 2005; Renn 2006. Zur Praxis produktiver interkultureller Hermeneutik vgl. Griesecke 2001.

[3] Dass Anderes nicht schlechthin mit Fremdem gleichzusetzen ist, wird bereits von Bernhard Waldenfels (1997, 20f.) herausgearbeitet. Zur Frage wie sich die Einordnung in bekannte ‚Topoi des Anderen‘ zu Fremderfahrungen verhält vgl. Kogge 2002, 300 ff. Der Unterschied zwischen den Dichotomien von Eigenen und Anderen einerseits und von Vertrautem und Fremdem andererseits wird in Polaschegg 2005, 41ff. in aller Deutlichkeit herausgearbeitet: Während die Unterscheidung von Eigenem und Anderem für jede Kultur konstitutiv und symmetrisch aufgebaut ist, ist die Dichotomie von vertraut und fremd grundsätzlich asymmetrisch angelegt und spiegelt Machtverhältnisse.

[4] Weiteres zu dieser Traditionslinie hat Axel Horstmann (1986/87) in seiner Studie zum Begriff der Assimilation versammelt, als Quelle neuplatonisches und hermetisches Gedankengut ausgemacht und die modernen Folgen über den Historismus bis hin zu Gadamer aufgewiesen; vgl. v.a. S. 13-18; 26; 36; Mit der “antiken omoiosis ist der Vorgang angesprochen, das ‚Sich-selbst-angleichen-an das-Andere‘ bis hin zum Extremfall der völligen Preisgabe des spezifisch ‚menschlichen‘ Selbsts zugunsten jenes ‚göttlichen‘ Anderen, das als das schlechthin Überlegene und Bessere gilt, dabei aber nicht eigentlich als etwas ‚Fremdes‘, sondern im Gegenteil als das wahrhaft ‚Eigene‘ des Menschen begriffen wird.”(16)

[5] Vgl. zu Emil Staigers „mimentischer Methodologie“ Polaschegg 2007 (hier S. 108).

[6] Vgl. auch Dilthey 1981, 171: „Das gegenseitige Verstehen versichert uns der Gemeinsamkeit, die zwischen den Individuen besteht. Die Individuen sind miteinander durch eine Gemeinsamkeit verbunden, in welcher Zusammengehören oder Zusammenhang, Gleichartigkeit oder Verwandtschaft miteinander verknüpft sind. Dieselbe Beziehung von Zusammenhang und Gleichartigkeit geht durch alle Kreise der Menschenwelt hindurch. Diese Gemeinsamkeit äußert sich in der Selbigkeit der Vernunft, der Sympathie im Gefühlsleben, der gegenseitigen Bindung in Pflicht und Recht, die vom Bewußtsein des Sollens begleitet ist. Die Gemeinsamkeit der Lebenseinheiten ist nun der Ausgangspunkt für alle Beziehungen des Besonderen und Allgemeinen in den Geisteswissenschaften. Durch die ganze Auffassung der geistigen Welt geht solche Grunderfahrung der Gemeinsamkeit hindurch, in welcher Bewußtsein des einheitlichen Selbst und das der Gleichartigkeit mit den Anderen, Selbigkeit der Menschennatur und Individualität miteinander verbunden sind. Sie ist es, die die Voraussetzung für das Verstehen bildet.“