Was ist eigentlich ein Gedankenexperiment?
Mach, Wittgenstein und der neue Experimentalismus
(gemeinsam mit Birgit Griesecke)
In: Marcus Krause und Nicolas Pethes (Hg.), Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, Königs-hausen & Neumann, Würzburg, S. 41-72.
In Teilen der Philosophie, aber auch in literatur- und kulturwissenschaftlichen Ansätzen hat sich ein sehr allgemeiner Gebrauch des Begriffs Gedankenexperiment ausgebreitet. Vom naturwissenschaftlichen Terminus Experiment wird in erster Linie das Element der fingierenden Konzeption übernommen – Überlegungen zur Durchführung und zur Frage, woran beim Gedankenexperiment etwas erprobt wird, sucht man hier vergeblich. Wenn aber auf Überlegungen zu diesen Aspekten verzichtet wird, dann kann jeder Entwurf eines Szenarios als Experiment gelten und der Begriff Experiment wird letztlich zum Synonym für Fiktion im allgemeinen;[1] eine Perspektive, in der zumindest das verloren geht, was nicht nur Empiristen seit Bacon am Experiment fasziniert: das dialogische Verhältnis, das Verwobensein mit einer Materialität, die über das je Fingierte hinausgeht.
[1] Vgl. zu dieser Verwendung den Abschnitt 3 des Artikels ‚Thought Experiments‘ in: The Routledge Encyclopedia of Philosophy. London/New York 1998, Bd. 9, S. 393-397, hier: S. 395.
„Wenn wir die Möglichkeit eines experimentellen Denkens in Rechnung zu stellen, das in enger struktureller Verwandtschaft zu dem steht, was in den letzten Jahrzehnten über das wissenschaftliche Experiment entwickelt worden ist, dann zielen wir nicht auf eine Ausweitung oder Verwässerung des Begriffs des Experimentellen. Vielmehr geht es uns darum, am Begriff des Experimentellen eine Verengung in der Sicht auf das Denken zu revidieren. Anders gesagt: Uns geht es darum zu zeigen, daß sich Denken im allgemeinen sehr wohl als materiales Handeln auffassen läßt, indem wir im besonderen nachweisen, daß es ein experimentelles Denken gibt, das den Namen verdient.“
Leseprobe
Dreh- und Angelpunkt unserer Argumentation ist die Stellung des Gedankenexperiments in der Philosophie Ludwig Wittgensteins. Dies nicht nur, weil sich in den jüngeren Debatten um Gedankenexperimente immer wieder explizite oder implizite Aufnahmen Wittgenstein’scher Überlegungen finden, sondern vor allem, weil sich in der Philosophie Wittgensteins die beiden Hauptmomente unserer Argumentation verknüpfen. Wittgenstein selbst hat nämlich, im Zuge der Revision seiner Früh- und der ersten Schritte der Entwicklung seiner Spätphilosophie, in einer Bemerkung aus dem Jahr 1930 ausdrücklich auf Ernst Mach Bezug genommen: „Was Mach ein Gedankenexperiment nennt ist natürlich gar kein Experiment. Im Grunde ist es eine grammatische Betrachtung.“[1]
Diese terminologische Korrektur dient nun aber Wittgenstein keineswegs dazu, das von Mach mit dem Titel Gedankenexperiment bezeichnete intellektuelle Verfahren zu diskreditieren, sondern es geht ihm im Gegenteil darum, dieses in großer Sympathie unter seine Fittiche zu nehmen, denn die ‚grammatische Betrachtung‘ ist genau die Methode, die er zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Satzes entwickelt und die er in den folgenden Jahren an verschiedenen Gegenständen immer wieder erproben und propagieren wird.
In unserem Text werden wir nun zeigen, daß die Verbindung von sachlicher Anlehnung und terminologischer Abgrenzung, mit der Wittgenstein seine Arbeit zu Machs Ausführungen über Gedankenexperimente ins Verhältnis setzt, vom Standpunkt der heutigen Auffassung des Experiments auf der terminologischen Seite revisionsbedürftig ist. Die grammatische Betrachtung – so unsere Behauptung – ist nicht nur nicht vom Gedankenexperiment abzuheben, sie ist vielmehr das vielleicht beste Beispiel für ein Denkverfahren, das es erfordert, experimentell genannt zu werden. Grammatische Betrachtung kann – so werden wir zuspitzen – geradezu als Paradigma experimentellen Denkens aufgefaßt werden.
Der Begriff des Experimentellen, der dabei in Anschlag gebracht wird, ist nun aber nicht mehr derjenige, gegen den Wittgenstein seine sich in ersten Gehversuchen befindliche philosophische Methode abzugrenzen hatte. Vielmehr folgen wir in diesem Punkt neueren Studien, für die „das Einzelexperiment als scharfes Testverfahren einer scharfen Vorstellung keineswegs das elementar Einfache der Experimentalwissenschaft [ist], sondern die Degeneration einer elementar komplexen Situation.“[2] In einer seiner interessantesten Ausprägungen, die der ‚Neue Experimentalismus‘ inzwischen bei dem Wissenschaftshistoriker und Molekularbiologen Hans-Jörg Rheinberger gewonnen hat, bilden Experimentalsysteme die elementaren Einheiten der Forschung. Solche Experimentalsysteme sind nicht mehr bloße Prüfverfahren theoretisch vorgefertigter Anfragen an die Natur, sondern „werden eingerichtet, um Antworten auf Fragen zu geben, die wir noch nicht klar zu stellen in der Lage sind.“[3] Um ein Resultat zu erzeugen, das am präzisesten als „unvorwegnehmbares Ereignis“[4] zu bezeichnen ist, wird in Experimentalsystemen eine Spannung erzeugt und zum Austrag gebracht, nun aber nicht mehr die zwischen Theorie und Natur, sondern die zwischen zwei Arten von ‚Dingen‘, die Rheinberger als epistemische und als technische bezeichnet: „Epistemische Dinge sind die Dinge, denen die Anstrengung des Wissens gilt – nicht unbedingt Objekte im engeren Sinn, es können auch Strukturen, Reaktionen, Funktionen sein.“[5] Neben diesen prekären Objekten benötigt der experimentelle Prozeß zugleich
stabile Umgebungen, die man als Experimentalbedingungen oder als technische Dinge bezeichnen kann; die epistemischen Dinge werden von ihnen eingefaßt und dadurch in übergreifende Felder von materiellen Wissenskulturen eingefügt. Zu den technischen Dingen gehören Instrumente, Aufzeichnungsapparaturen und, in den biologischen Wissenschaften besonders wichtig, standardisierte Modellorganismen mitsamt den in ihnen sozusagen verknöcherten Wissensbeständen.[6]
In einer Theorie des Experimentellen, die die klassische Dichotomie aus Theorie und Natur durch die damit in keiner Weise in Deckung zu bringende Zweiheit von fraglichen, vagen Wissensobjekten und stabilisierten, verkörperten Bedingungen ersetzt, hätte Wittgenstein wohl kaum den Opponenten erblickt, gegen den er sein philosophisches Verfahren – noch 1933 – zu profilieren trachtete:
Philosophen haben ständig die naturwissenschaftliche Methode vor Augen und sind in unwiderstehlicher Versuchung, Fragen nach Art der Naturwissenschaften zu stellen und zu beantworten. Diese Tendenz ist die eigentliche Quelle der Metaphysik und führt den Philosophen in vollständiges Dunkel.[7]
Diese Kritik, die in eine entschiedene Trennung des philosophischen Vorgehens von der naturwissenschaftlichen Methode mündet, bedeutet für den frühen Wittgenstein zugleich, den Begriff des Experiments, der zu dieser Zeit unauflöslich an das naturwissenschaftliche Vorgehen gebunden schien, für den Kontext philosophischer Arbeit abzulehnen. Wittgenstein steht damit inmitten des Feldes der modernen Wissenschaftstheorie und der entstehenden analytischen Philosophie, das in seinen Anfängen durch die Unterscheidung von Theorie (Logik) und Empirie (Wissenschaft) beherrscht wurde und das er maßgeblich mitformte. Doch während Wittgenstein diese Ausgangsstellung sehr bald einer grundlegenden Revision unterzog, blieb die Zweiteilung von Wissenschaft, Handeln und Erfahrung auf der einen Seite, Sprache, Logik und Denken auf der anderen, in der Wissenschaftsphilosophie weiterhin wirksam.
Um in Wittgensteins Philosophieren beispielhaft ein eminent experimentelles Verfahren des Denkens ausweisen zu können, gehen wir nun folgendermaßen vor: Wir beginnen – im zweiten Abschnitt – mit einer Diskussion der These Hackings – dem schon genannten Vorkämpfer für eine Wertschätzung des Experiments –, die bestreitet, daß von Gedankenexperimenten als Experimenten im eigentlichen, ‚lebendigen‘ Sinne gesprochen werden kann. Hacking ist für unsere Argumentation eine Schlüsselfigur, da er – als einer derer, die nicht nur die wissenschaftstheoretische Funktion, sondern Struktur und Eigenleben von Experimenten zu untersuchen begannen – einerseits zwar über einen Begriff des Experiments verfügt, der die säuberliche Dichotomie von Theorie und Empirie unterläuft, was auch Gedankenexperimente in ein anderes Licht rücken könnte, andererseits aber einen zu engen Begriff von Denken in Anschlag bringt, um das Feld des Experimentellen auf Gedankliches hin öffnen zu können. Überdies führt Hacking seinen Vorstoß zu der Pointe, daß Gedankenexperimente mehr mit gedanklichen Bildwechseln als mit wirklichen Experimenten zu tun haben, indem er Anleihe bei Wittgenstein nimmt, so daß wir hier einen prägnanten Einsatzpunkt für unsere Argumentation vorfinden: seine These ist nämlich auf einem brüchigen, besser gesagt: sehr beweglichen Fundament gebaut, denn Wittgenstein hatte – wie sich zeigen wird – bereits in den Schriften, auf die Hacking rekurriert, die klassische Auffassung hinter sich gelassen, so daß sich Hackings Anleihe teils als mißverständlich, teils als anachronistisch erweist.
Wittgenstein selbst hat dagegen in der Revision seines früheren Denkens in den dreißiger Jahren den Begriff des Experimentellen von der engen Bindung an eine bestimmte Auffassung wissenschaftlichen Überprüfens gerade gelöst und damit – indirekt – auch die ursprüngliche terminologische Abgrenzung seines philosophischen Verfahrens von Machs Begriff des Gedankenexperiments obsolet werden lassen; was bleibt ist das positive Anknüpfen in der Sache, durch das Gedankenexperimente und grammatische Betrachtung in eine Verwandtschaftslinie gefügt werden.
Im dritten Abschnitt werden wir, um dieser Gemeinsamkeit auf die Spur zu kommen, Machs Ansatz rekonstruieren und mit demjenigen eines zweiten Autors parallelisieren, der ebenfalls in einem affirmativen Sinn von Gedankenexperimenten spricht und für die Debatte ebenfalls kanonisch ist: Thomas S. Kuhns Aufsatz von 1964 argumentiert ebenso wie Machs Text von 1897 dafür, daß sich durch Gedankenexperimente nicht nur eine Klärung innerhalb der Theorie erreichen, sondern auch etwas Neues über die Welt erfahren läßt. Seine Untersuchungen zu Gedankenexperimenten weisen ihn als profunden Kenner der Wittgenstein’schen Spätphilosophie aus, doch er bleibt – wie wir zeigen werden – an einem Punkt hinter dieser und auch hinter dem bereits bei Mach angelegten Begriff der Gedankenerfahrung zurück: Gedankenexperimente haben für Kuhn in erster Linie reaktiven Charakter, sie holen erfahrungsmäßige Anomalien in einen sich diesen anpassenden konzeptuellen Rahmen ein, sie werden nicht selbst initiativ auf dem Weg zu neuer Erkenntnis. Machs Beschreibung des experimentellen Denkens auf der Grundlage von „Umschau in der Erinnerung“ und „Fiktion neuer Kombinationen von Umständen“[8] stellt deshalb noch immer die prägnanteste programmatische Skizze dar für das philosophische Verfahren der grammatischen Betrachtung, das Wittgenstein in den dreißiger Jahren zu entwickeln beginnt, das er in seiner Spätphilosophie an unzähligen Fällen vorführt und das – so das Ziel unserer Argumentation im viertenAbschnitt – nachdrücklich zum Ausdruck bringt, daß Denken experimentell sein kann.
[1] Ludwig Wittgenstein: Manuskriptband Nr. 107. Band III. Philosophische Betrachtungen. In: Wittgenstein’s Nachlass. The Bergen Electronic Edition. Oxford University Press, The Wittgenstein Trustees, The University of Bergen 2000, Item 107, S. 284 f.
[2] Hans Jörg Rheinberger: Experiment. Differenz. Schrift: Zur Geschichte epistemischer Dinge. Marburg an der Lahn 1992, S. 25.
[3] Ebd., S. 25.
[4] Ebd., S. 15f.
[5] Hans Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. Göttingen 2001, S. 24.
[6] Ebd., S. 25.
[7] Ludwig Wittgenstein: Das blaue Buch. Werkausgabe Bd. 5. Frankfurt/M. 1984, S. 39.
[8] Mach (Anm. 1), S. 188.
Zitate
„Durch wenn möglich kontinuierliche Variation der Umstände wird der Geltungsbereich einer an dieselben geknüpften Vorstellung (Erwartung) erweitert; durch Modifikation und Spezialisierung der ersteren wird die Vorstellung modifiziert, spezialisiert, bestimmter gestaltet; und diese beiden Prozesse wechseln.“[1]
[1] Mach, S. 191.
„Experiment ist etwas durch den Gebrauch, der davon gemacht wird.“[1]
[1] Wittgenstein, S. 98.
„Wenn es eine Unstimmigkeit zwischen dem herkömmlichen Begriffsapparat und der Natur aufdecken soll, dann muß die vorgestellte Situation dem Wissenschaftler gestatten, seine gewohnten Begriffe in der bisherigen Weise anzuwenden. Das heißt, sie darf über den normalen Gebrauch nicht hinausgehen. […]. Wenn man … davon ausgeht, dass die Natur und der Begriffsapparat beide in den vom Gedankenexperiment aufgewiesenen Widerspruch eingehen, [braucht] die vorgestellte Situation zwar in der Natur nicht einmal möglich zu sein, doch der aus ihr abgeleitete Widerspruch muß derart sein, dass ihn die Natur selbst präsentieren könnte. … Die Schwierigkeit, der sich der Wissenschaftler in der Experimentalsitiation gegenübersieht, muß ihm schon vorher, wenn auch noch so undeutlich, gegenwärtig gewesen sein. Falls er nicht wenigstens so viel Erfahrung gehabt hat, ist er noch nicht imstande, aus Gedankenexperimenten allein etwas zu lernen.[1]
[1] Kuhn, S. 352.
„Was Mach ein Gedankenexperiment nennt ist natürlich gar kein Experiment. Im Grunde ist es eine grammatische Betrachtung.“[1]
[1] Ludwig Wittgenstein: Manuskriptband Nr. 107. Band III. Philosophische Betrachtungen. In: Wittgenstein’s Nachlass. The Bergen Electronic Edition. Oxford University Press, The Wittgenstein Trustees, The University of Bergen 2000, Item 107, S. 284 f.