Empeiría

Vom Verlust der Erfahrungshaltigkeit des Wissens und vom Versuch, sie als implizites Wissen wieder zu gewinnen

in: Implizites Wissen im Kontext von Handlung, Kommunikation und Gesellschaft, hrsg. v. Jens Loenhoff, Verlag Velbrück-Wissenschaft, Weilerswist, S. 31-48.

Abstract

Die Ausdrücke implizites Wissen und tacit knowledge bezeichnen ein Konzept des 20. Jahrhunderts, das in einigen Bereichen des Nachdenkens über Gesellschaft, Kultur, Wissenschaft und Sprache durchaus Prominenz erlangt hat, das aber in den Hauptlinien der philosophischen, soziologischen, linguistischen und psychologischen Diskursen gleichwohl nur eine marginale Rolle spielt. Die uneindeutige Stellung wirft die Frage auf, ob dieses Konzept ausreichend gewürdigt ist, ob es stärker oder anders profiliert werden sollte, oder ob es vielleicht ein theoretisches Konstrukt darstellt, dessen Leistung durch andere, traditionell etablierte Ausdrücke und Konzepte besser erbracht wird.

Was leistet das Konzept? Welche Aspekte, Phänomene, Unterschiede und Zusammenhänge stellt es heraus? Was führt es vor Augen, was vergegenwärtigt es?

Leseprobe

  1. Implizites Wissen/ tacit knowledge: auf welche Frage antwortet dieses Konzept?

 

Als eine ‚Urszene‘, als prototypische Situation, kann etwa die des Handwerksmeisters gelten, von dem der Lehrling durch Zuschauen und Nachahmen lernt. Der Meister braucht dazu wenig Worte, kann sogar stumm sein; auf Vieles weist er durch Gesten hin, Manches ‚macht er vor‘, auch in beispielhafter, also die Bewegungsgestalt (etwa des richtigen Hobelns) expressiv hervorhebender Weise; er schaut dem Lehrling bei seinen Versuchen zu, korrigiert ihn da und dort, indem er etwa die Handstellung verändert; zuweilen führt er auch seine Hand, um ihm die richtige Form der Bewegung fühlbar zu machen; er zeigt ihm, welches Holz für welchen Zweck geeignet ist, indem er es betastet, es bewegt, an ihm riecht und den Lehrling teilhaben lässt an diesem Weg zu einer Wahl. Der Lehrling vollzieht nach, vollzieht mit, beginnt die vielfältigen Unterschiede zu bemerken, die in einer solchen Arbeit wichtig sind, und er beginnt zu verstehen, woran es liegt, dass manches gelingt, anderes nicht, und was entscheidend ist dafür, dass ein Werkstück so wird, wie die Produkte des Meisters. Wir sagen, der Lehrling hat das Wissen, wie ein solches Produkt hergestellt wird, von seinem Meister erworben, und dieses Wissen hat er nicht auf dem Weg und in der Form von sprachliche Bezeichnungen, Erklärungen und Regeln erworben, sondern auf eine ’stille‘, der Sache und dem Tun ‚inbegriffenen‘ Weise. Wir können sagen, er hat ‚implizites Wissen‘ (‚tacit knowledge‘) erworben und damit meinen, dass weder für den Erwerb, noch für den Gebrauch dieses Wissens eine sprachliche Verfassung dieses Wissens erforderlich war und ist. Darüber hinaus können wir sagen, er hat ein Wissen erworben, das durch sprachliche Bezeichnungen, Erklärungen und Regeln niemals zur Gänze einzuholen wäre, dass eine solche Art schulmäßiger Ausbildung vielmehr immer noch eine zusätzliche, praktische und an den Materialien selbst erfolgende Lehre erforderlich macht.

Es sind also zwei elementare Beobachtungen, die den Begriff des ‚impliziten Wissens‘ zunächst Gehalt geben: zum einen, dass sich Wissen sprachfrei weitergeben und erwerben läßt; zum anderen, dass auch der Erwerb von Wissen in sprachlicher Schulung zusätzlich auf jenen anderen Modus des ‚impliziten‘ Lernens angewiesen ist. Und es ist durchaus als eine Weiterführung dieser Einsichten anzusehen, wenn verschiedene philosophische Konzeptionen im 20. Jahrhundert dazu kamen, nicht nur vorderhand praktische Tätigkeiten, sondern auch das sprachliche und wissenschaftliche Handeln, ja die Erkenntnis- und Wissensgewinnung überhaupt als angewiesen auf eine Praxis anzusehen, die sich sprachlich-reflexiv nie vollständig einholen läßt: Mit Wörterbuch und Grammatikverzeichnis läßt sich keine Sprache erlernen, ohne die Praxis des Sprechens in wirklichen Sprechsituationen einzuüben; Lehr- und Handbücher genügen nicht, eine Wissenschaft zu erlernen, wenn nicht zudem das Auge geschult und Techniken handelnd erlernt werden. So ist der prinzipielle Vorrang eines praktischen Vermögens vor sprachlichen Explikationen zu verstehen, wie er etwa bei Heidegger, Wittgestein, Fleck, Polanyi und Merleau-Ponty zum Ausdruck kommt.

Dass wir diese Formen des Wissens als implizites Wissen ansprechen können, bedeutet aber nicht, dass der Terminus in jedem Sinn geeignet sein muss, auszudrücken, was es hier auf den Begriff zu bringen gilt. Schon Polanyi hat den Begriff tacit knowledge mit der Ryleschen Unterscheidung von knowing how und knowing that und der deutschsprachigen Unterscheidung von Wissen und Können in Verbindung gesetzt. Wenngleich es Polanyi keineswegs darum ging, tacit knowledge mit knowing how und Können gleichzusetzen, vielmehr darum, die praktisch-theoretische Doppelnatur des Wissens herauszustellen, so lassen sich doch Argumente anführen, dass das, was hier mit knowledge oder Wissenangesprochen wird, besser mit dem Begriff des Könnens zu erfassen sei. Insgesamt erscheint fraglich, ob eine Reformulierung von nichtsprachlicher Praxis (oder von nichtsprachlichen Anteilen von Praxis) in Ausdrücken von knowledge und Wissen eine überzeugende Begriffswahl darstellt, oder ob dadurch nicht eher verdeckt wird, wie sich solche Praktiken zu Formen des Wissens verhalten. Andererseits ließe sich aber auch anführen, daß die Wahl des Ausdrucks implizites Wissen (bzw. tacit knowledge) darauf ziele, einer rationalistischen Verengung des Wissensbegriffes entgegen zu wirken und gerade kenntlich zu machen, dass in dem, was wir Wissen nennen, stets auch nicht sprachlich explizierbare Anteile enthalten sind.

In der folgenden Darstellungen möchte ich zu dieser Fragestellung einen Beitrag leisten, indem ich sie erweitere. Ich gehe nämlich von der Überlegung aus, dass sich die Frage, wie solche Fähigkeiten, wie die am Beispiel des Schreiners illustrierte, nicht hinreichend verstehen lassen, solange sie nur in Bezug auf das Verhältnis von Wissen und Praxis erläutert werden. Konzipiert man solche Fähigkeiten als ein Wissen, das man als implizites von explizitem unterscheidet, und versucht man sodann, dessen Implizitheit als Eingefaltetsein in Praxis weiter zu erläutern, so manövriert man in eine Sackgasse, denn auch explizites Wissen ist in Praxis verwickelt: bezeichnen, erklären  und Regeln formulieren sind ebenfalls Tätigkeiten (also Instantiierungen von Praxis). So läßt sich zwar durch den Verweis auf nichtsprachliche Fähigkeiten ein Argument für den grundlegenden Stellenwert des Begriffs der Praxis in praxeologischen Theorien gewinnen, aber umgekehrt reicht das Attribut ‚praktisch‘ nicht hin, diese Fähigkeit zu erläutern, gleichgültig ob man sie als eine Art des Wissens betrachten möchte oder eher als eine Art von anderer Kompetenz.

Dass die theoretische Decke, gleichsam, wie man sie zieht, zu kurz ist, deutet darauf hin, dass sie aus zu geringem begrifflichem Material gewoben ist. In Fällen wie dem beschriebenen spielt sicherlich Praxis eine Rolle, aber sicherlich auch Körperlichkeit, Wahrnehmung, Einübung, Memorierung, Routine und dergleichen mehr.

Es ist nun bemerkenswert, dass die philosophische Tradition durchaus ein Konzept bereitstellt, das die Einheit dieser Aspekte auf den Begriff bringt und diesen Begriff ins Verhältnis setzt zu Sprache (lόgos), Wissen (epistēmē), Könnerschaft (téchnē) und auch zum philosophischen Denken (sophía): nämlich den Begriff der Erfahrung (empeiría), wie ihn Aristoteles in seine Konzeption von Erkenntnis eingebunden hat. Empeiría ist in der Aristotelischen Konzeption primordial gegenüber dem Wissen und Können gedacht und fasst in sich einen ganzen Komplex nichtsprachlicher Kompetenzen. Sie ist also durchaus ein Kandidat, wenn es darum geht zu erläutern, was mit ‚impliziten Wissen‘ gemeint sein könnte, oder auch, wenn es darum geht, eine Alternative für diesen Terminus zu finden.

Bemerkenswert ist nun allerdings nicht nur, dass die Tradition einen solchen Begriff und eine solche Konzeption bereit stellt, sondern auch, dass im 20. Jahrhundert, als entsprechende Phänomene in den Blickpunkt des Interesses gelangten, diese Phänomene nicht mit Rekurs auf diesen Begriff und diese Konzeption aufgefasst und debattiert wurde, sondern in neu ansetzender Weise begonnen wurde, nach begrifflichen Möglichkeiten zu suchen. Die Fragen, um die es mir im Folgenden gehen wird, sind demgemäß: Wie kam es dazu, dass der Begriff der Erfahrung (im aristotelischen Sinne) aus dem theoretischen Diskurs verschwand; was trat an seine Stelle und was folgt aus diesem denkgeschichtlichen Umbruch für die Ansätze des 20. Jahrhunderts, die es unternehmen, solche Phänomene wieder in den Blick zu nehmen.

In theoriegeschichtlicher Rekonstruktion werde ich zeigen, dass der inhaltsreiche aristotelische Begriff von Erfahrung in der Neuzeit auf verschiedene Weisen reduziert wird und damit das Potenzial verliert, die Phänomene, um die es hier geht, auf den Begriff zu bringen. Um das Phänomen, dass wir mehr wissen und können, als wir sagen können, konzeptuell zu erschließen, muss es, so mein Argument, darum gehen, eine überzeugende Neukonzipierung des Aristotelischen Ansatzes zu entwickeln.