Elementare Gesichter
Über die Materialität der Schrift und wie Materialität überhaupt zu denken ist
In: Die Sichtbarkeit der Schrift, hrsg. von Susanne Strätling und Georg Witte, Fink Verlag, München 2006, S. 85-101.
Abstract
Der Text diskutiert die Idee, dass Medien eine eigensinnige Materialität innewohnt am Beispiel des Mediums Schrift. Zwei Thesen leiten die Argumentation: Erstens gehe ich davon aus, dass die Materialität eines Mediums relativ ist zu Praktiken und Techniken, in denen sie eine Rolle spielt.[1] Diese These richtet sich sowohl gegen alle Ansätze, die Materialität ignorieren oder in irgend einer Form von Konstruktivismus oder Idealismus aufheben,[2] als auch gegen diejenigen, die Materialität verdinglichen und medialen Strukturen unmittelbare Effekte zuschreiben.[3] Zweitens behaupte ich, dass die Materialität von Schrift spezifischer zu fassen ist als dies bislang geschah. Zwei einander widersprechende Ansätze, die in den letzten Jahrzehnten die Schriftdebatte beherrschten, sind in bestimmter Weise zu verknüpfen und zu erweitern: mit der ‚Toronto-School’,[4] Jacques Derrida[5] und Nelson Goodman[6] kamen die Differentialität und Analytizität der Schrift in den Blick; mit Aleida Assmann,[7] Sabine Groß[8] und Wolfgang Raible[9]die Bildlichkeit der Schrift und die Flächigkeit des Schriftbildes.[10] Betrachtet man diese beide Ansätze aus einer Perspektive der Praktiken und der Techniken, so zeigt sich, wie Schriftpraktiken eine atomare, rein differentiell konstituierte Ebene mit einer gestalthaften verbinden, die sich allerdings von bildlichen Gestaltungen in einem wichtigen Aspekt unterscheiden: dem elementaren Atomismus der Schriftzeichen korrespondiert eine Erscheinungsweise in der Fläche, die sich auf eine nicht-piktorale Weise darbietet. Der Grundgedanke dieser Demonstration ist, dass wir uns zu Schrift weniger wie zu Bildern, sondern eher wie zu Gesichtern verhalten und dass demzufolge die Materialität der Schriftfläche nicht bildhaft, sondern physiognomisch aufzufassen ist.
[1] Systematisch dazu: Kogge, Werner: Praxis als philosophischer Grundbegriff. Wie Materialität und Devianz handlungstheoretisch zu denken sind. In: Bertram, Georg / Blank, Stefan / Lauer, David / Laudou, Christophe (Hg.): Intersubjectivité et pratique. Contributions à l’étude des pragmatismes dans la philosophie contemporaine. Paris 2005, 197-224 (im Erscheinen).
[2] Als ein Beispiel einer solchen Tilgung wird unten die Symbolphilosophie Ernst Cassirers diskutiert.
[3] So etwa in den Medientheorien von Flusser und McLuhan, wo es heißt, dass Schrift, weil sie linear sei, „als Ausdruck eines eindimensionalen Denkens und daher auch eines eindimensionalen Fühlens, Wollens, Wertens und Handelns“ (Flusser, Vilém: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft?Frankfurt a.M. 1992, 11.) zu betrachten sei oder dass die Zergliederung in die Einzelbuchstaben des Alphabets den westlichen Individualismus hervorgebracht habe. (Vgl. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. Düsseldorf/ Wien 1968, 86-98.)
[4] Vgl. dazu die instruktive Einleitung von Aleida und Jan Assmann: Schrift – Kognition – Evolution. Eric A. Havelock und die Technologie kultureller Kommunikation. In: Eric A. Havelock: Schriftlichkeit. Das griechische Alphabet als kulturelle Revolution. Weinheim 1990, 1-35.
[5] Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.M. 1972 (1966). Ders.: Grammatologie, Frankfurt a.M. 1983 (1967).
[6] Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Frankfurt a.M. 1997.
[7] Assmann, Aleida: Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose. In: Gumbrecht, Hans Ulrich / Pfeiffer, Karl Ludwig (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a.M. 1988, 237-251, hier insbes. 241.
[8] Groß, Sabine: Schrift-Bild. Die Zeit des Augenblicks. In: Tholen, G. Chr. u.a. (Hg.): Zeit-Zeichen. Weinheim 1990, 231-246; Groß, Sabine: Lese-Zeichen. Kognition, Medium und Materialität im Leseprozeß. Darmstadt 1994.
[9] Raible, Wolfgang: Die Semiotik der Textgestalt. Erscheinungsformen und Folgen eines kulturellen Evolutionsprozesses. Heidelberg 1991.
[10] Vgl. dazu auch: Krämer, Sybille: ‚Schriftbildlichkeit’ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift. In: Krämer, Sybille / Bredekamp, Horst (Hg.): Bild – Schrift – Zahl. München 2003, 157-176.
Ein Buchstabe bedeutet nur in einem Wort oder Satz und ein „lächelnder Mund lächelt nur in einem menschlichen Gesicht.”[1] Die Zusammenstellung, die Gruppierung der Elemente ergibt die charakteristische Gestalt. Im Vergleich zu ’gewöhnlichen’ Bildern ist es für solche artikulierten Gestalten sowohl kennzeichnend, dass elementare Änderungen leicht wahrnehmbar sind, als auch dass trotz Variationen von Größe, Farbe oder Blickrichtung die charakteristische Gestalt erkennbar bleibt. Die Züge charakteristischer Gestalten widersetzen sich weitgehend der Transformation durch Faktoren, die ihnen unwesentlich sind, ändern sich aber abrupt und deutlich wahrnehmbar, wenn die sie konstituierenden Elemente und Relationen verändert werden. Diese Dezidiertheit haben die Physiognomien der Schriftgestalten und die von Gesichtszeichnungen gemein.
[1] Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, aus § 583.
Leseprobe
Die Kritik an der Philosophie als einer Denktätigkeit, die zeitlose und wesenhafte Bestimmungen suche, ist längst – auch innerhalb der Philosophie – zu einem Gemeinplatz geworden. Weniger beachtet blieb, dass dem philosophischen Denken seit seinen kanonischen Anfängen ebenso ein zweites Moment eingeschrieben ist, eine Bewegung, die keinen universalen und ahistorischen Entitäten nachsinnt, sondern sich von den Gegenständen des Denkens, vom Was, zurücknimmt auf die Kategorien, logischen Formen und Auffassungsmodalitäten, auf das Wie des Gegenstandsbezugs. In der Tradition dieser Wendung vom Was zum Wie steht die Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts und ebenso steht in ihr der Grundgedanke von Medienphilosophie und Medienwissenschaft, dass die Mittel, in denen sich ein Sinn artikuliert und manifestiert, durch ihre spezifische Materialität den Sinn mitprägen.
Im Folgenden soll nun diskutiert werden, wie die Idee, dass Medien eine eigensinnige Materialität innewohnt, zu verstehen ist. Die Überlegungen werden am Beispiel der Schrift entwickelt. Zwei Thesen leiten die Argumentation: Erstens gehe ich davon aus, dass die Materialität eines Mediums relativ ist zu Praktiken und Techniken, in denen sie eine Rolle spielt.[1] Diese These richtet sich sowohl gegen alle Ansätze, die Materialität ignorieren oder in irgend einer Form von Konstruktivismus oder Idealismus aufheben,[2] als auch gegen diejenigen, die Materialität verdinglichen und medialen Strukturen unmittelbare Effekte zuschreiben.[3] Zweitens behaupte ich, dass die Materialität von Schrift spezifischer zu fassen ist als dies bislang geschah. Zwei einander widersprechende Ansätze, die in den letzten Jahrzehnten die Schriftdebatte beherrschten, sind in bestimmter Weise zu verknüpfen und zu erweitern: mit der ‚Toronto-School’,[4]Jacques Derrida[5] und Nelson Goodman[6] kamen die Differentialität und Analytizität der Schrift in den Blick; mit Aleida Assmann,[7] Sabine Groß[8] und Wolfgang Raible[9] die Bildlichkeit der Schrift und die Flächigkeit des Schriftbildes.[10] Betrachtet man diese beide Ansätze aus einer Perspektive der Praktiken und der Techniken, so hebt sich Schrift weder in differentielle Struktur oder notationale Operativität, noch in Bildlichkeit auf. Vielmehr zeichnet die Schriftpraktiken – wie ich zeigen werde – aus, dass sie eine atomare, rein differentiell konstituierte Ebene mit einer gestalthaften verbindet, die sich allerdings von bildlichen Gestaltungen in einem wichtigen Aspekt unterscheidet. Es wird deshalb zu zeigen sein, dass dem elementaren Atomismus der Schriftzeichen eine Erscheinungsweise in der Fläche korrespondiert, die sich auf eine nicht-piktorale Weise darbietet. Der Grundgedanke dieser Demonstration ist, dass wir uns zu Schrift weniger wie zu Bildern, sondern eher wie zu Gesichtern verhalten, dass die Materialität der Schriftfläche nicht bildhaft, sondern physiognomisch aufzufassen ist.
Der Begriff des Physiognomischen unterläuft eine Reihe von Dichotomien, die das Nachdenken über Schrift bislang in die Enge geführt haben: es durchkreuzt insbesondere die Unterscheidung der Komplexe (schreiben wir es so an, dass es ein deutliches Gesicht bekommt) [11]
einerseits: | andererseits: |
diskursiv | präsentativ |
sukzessiv | simultan |
präzise | ganzheitlich |
Im Zuge dieser Unterscheidung war Schrift klassischerweise – als Aufzeichnung gesprochener Sprache – dem ersten/ linken Komplex zugeordnet worden. Erst nachdem in jüngeren Arbeiten die augenscheinliche Tatsache, dass sich Schrift für gewöhnlich in der Fläche darbietet, in den Mittelpunkt des Interesses gerückt und das Schriftbild zu einem Leitkonzept der Schriftdebatte wurde, öffnete sich das Feld für Fragen nach dem Verhältnis von Schrift‚bildern’ und anderen Bildern. Das Konzept des Physiognomischen soll hier eine begriffliche Präzisierung einführen und auf diesem Wege auch gegen die Auffassung argumentieren, die, in der richtigen Betonung des Unterschiedes von Schrift und Bild, die Pikturalität von Schrift in Syntaktizität auflöst.
Eine Präzisierung des Unterschiedes zwischen Schrift und Bild ist nämlich auch deshalb dringend erforderlich, da eine unzureichend verstandene Materialität von Schrift, die ihre Erscheinungsweise mit der des Bildes identifiziert, der Gegenposition zuarbeitet, die gerade davon ausgeht, dass im Medium Schrift die konkrete Erscheinungsweise neutralisiert und vernachlässigbar ist. Die Konfigurationen diskreter Einzelzeichen lassen sich – so die Argumentation – in jede andere Ordnung diskreter Zeichen überführen (die Buchstaben des Alphabets können ebenso in Ziffern oder in einen binären Code umgeschrieben werden) und es ändert nichts an der Struktur einer schriftlichen Konfiguration, wenn sie in ein Medium transkribiert wird, das der menschlichen Wahrnehmung entzogen ist, wenn sie beispielsweise in der Form von Elektronenzuständen in einem Computer manifestiert ist.[12] Von diesem phänomenalen Befund ausgehend konnte der Schluss gezogen werden, Schrift sei – im wesentlichen – nichts anderes als Struktur aus eindeutig bestimmten und eindeutig zu unterscheidenden Elementen, und alles, was mit Schrift getan wird, ließe sich ebenso gut der Datenverarbeitung von digitalen Maschinen überantworten.[13]
Gegen diese Verabsolutierung eines wichtigen phänomenalen Aspektes von Schrift gilt es, verständlich zu machen, wie Geschriebenes in der Gestaltung seiner Darbietung auch Zusammenhänge und Strukturen allererst zum Vorschein bringen kann, die nicht bereits aus Regeln deduziert sind.[14] Dazu wird es erforderlich sein, in Bezug auf die Materialität von Schrift nicht nur die Gestalt des Einzelzeichens zu thematisieren, sondern insbesondere diejenige der überschaubaren Konfiguration, denn die Möglichkeit, Zeichen in wechselnden und veränderlichen Gruppierungen als Ganze zu betrachten und handzuhaben, dieser physiognomische Aspekt, wird sich als der charakteristische Zug des Mediums Schrift erweisen.
[1] Systematisch dazu: Kogge, Werner: Praxis als philosophischer Grundbegriff. Wie Materialität und Devianz handlungstheoretisch zu denken sind. In: Bertram, Georg / Blank, Stefan / Lauer, David / Laudou, Christophe (Hg.): Intersubjectivité et pratique. Contributions à l’étude des pragmatismes dans la philosophie contemporaine. Paris 2005, 197-224 (im Erscheinen).
[2] Als ein Beispiel einer solchen Tilgung wird unten die Symbolphilosophie Ernst Cassirers diskutiert.
[3] So etwa in den Medientheorien von Flusser und McLuhan, wo es heißt, dass Schrift, weil sie linear sei, „als Ausdruck eines eindimensionalen Denkens und daher auch eines eindimensionalen Fühlens, Wollens, Wertens und Handelns“ (Flusser, Vilém: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft?Frankfurt a.M. 1992, 11.) zu betrachten sei oder dass die Zergliederung in die Einzelbuchstaben des Alphabets den westlichen Individualismus hervorgebracht habe. (Vgl. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. Düsseldorf/ Wien 1968, 86-98.)
[4] Vgl. dazu die instruktive Einleitung von Aleida und Jan Assmann: Schrift – Kognition – Evolution. Eric A. Havelock und die Technologie kultureller Kommunikation. In: Eric A. Havelock: Schriftlichkeit. Das griechische Alphabet als kulturelle Revolution. Weinheim 1990, 1-35.
[5] Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.M. 1972 (1966). Ders.: Grammatologie, Frankfurt a.M. 1983 (1967).
[6] Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Frankfurt a.M. 1997.
[7] Assmann, Aleida: Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose. In: Gumbrecht, Hans Ulrich / Pfeiffer, Karl Ludwig (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a.M. 1988, 237-251, hier insbes. 241.
[8] Groß, Sabine: Schrift-Bild. Die Zeit des Augenblicks. In: Tholen, G. Chr. u.a. (Hg.): Zeit-Zeichen. Weinheim 1990, 231-246; Groß, Sabine: Lese-Zeichen. Kognition, Medium und Materialität im Leseprozeß. Darmstadt 1994.
[9] Raible, Wolfgang: Die Semiotik der Textgestalt. Erscheinungsformen und Folgen eines kulturellen Evolutionsprozesses. Heidelberg 1991.
[10] Vgl. dazu auch: Krämer, Sybille: ‚Schriftbildlichkeit’ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift. In: Krämer, Sybille / Bredekamp, Horst (Hg.): Bild – Schrift – Zahl. München 2003, 157-176.
[11] Vgl. zu dieser Unterscheidung: Lessing, Gotthold E.: Laokoon. Oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. Stuttgart 1987, insbes. Kap. XVI-XVIII. Langer, Susanne K.: Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst. Frankfurt a.M. 1984 (1942). Zur Kritik dieses Schemas vgl.: Groß: Schrift-Bild.
[12] Vgl. Fischer, Martin: Schrift als Notation. In: Koch, Peter / Krämer Sybille (Hg.): Schrift, Medien, Kognition. Über die Exteriorität des Geistes. Tübingen 1997, 83-101. Ähnlich argumentiert ebenfalls in Anschluss an Nelson Goodman: Stetter, Christian: Bild, Diagramm, Schrift. In: Gernot Grube / Werner Kogge / Sybille Krämer (Hg.): Kulturtechnik Schrift. Die Graphé zwischen Bild und Maschine. München 2005 (im Erscheinen).
[13] In vorsichtiger Formulierung noch Jacques Derrida: Signatur. Ereignis. Kontext. In: Randgänge der Philosophie. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1976, 124-155, hier 134: „Schreiben heißt, ein Zeichen (marque) produzieren, das eine Art ihrerseits nun produzierende Maschine konstituiert, die durch mein zukünftiges Verschwinden prinzipiell nicht daran gehindert wird, zu funktionieren und sich lesen und nachschreiben zu lassen.” Weniger abwägende Formulierungen finden sich dann bei: Flusser: Die Schrift. 10: „es ist etwas mechanisches am Ordnen und Reihen, und Maschinen leisten dies besser als Menschen. Man kann das Schreiben, dieses Ordnen von Zeichen, Maschinen überlassen.” Ähnlich Kittler, Friedrich: Es gibt keine Software. In: Ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig 1993, 225-242, hier 226: „mit der Miniaturisierung aller Zeichen auf molekulare Maße dagegen ist der Schreibakt selber verschwunden. […] Heute […] läuft menschliches Schreiben durch Inschriften, die nicht nur mittels Elektronenlithographie in Silizium eingebrannt, sondern im Unterschied zu allen Schreibwerkzeugen der Geschichte auch imstande sind, selber zu lesen und zu schreiben.” Systematisch zum Zusammenhang von operativer Schrift und Computer vgl.: Krämer: ‚Schriftbildlichkeit’, 169-174, hier 171: „Die operative Schrift ist nicht nur ein Beschreibungsmittel, sondern zugleich ein Werkzeug des Geistes, eine Denktechnik und ein Intelligenzverstärker. Lange vor dem Computer als Universalmedium und programmierbarer Maschine, entwickelten wir den Computer ‚in uns’, hier verstanden als das maschinenhafte, interpretationsentlastende Umgehen mit Zeichen auf dem Papier.”
[14] Vgl. dazu: Kogge, Werner: Erschriebene Denkräume: Die Kulturtechnik Schrift in der Perspektive einer Philosophie der Praxis. In: Gernot Grube / Werner Kogge / Sybille Krämer (Hg.): Kulturtechnik Schrift. Die Graphé zwischen Bild und Maschine. München 2005 (im Erscheinen).
Konklusion
Die Materialität von Schrift zeigt sich somit weder als differentielle Struktur distinkter Einzelelemente noch als piktorale Präsenz. Worauf wir zurückkommen, wenn wir fragen, wie und womit wir denken, rechnen, kommunizieren, wenn wir in Schrift denken, rechnen und kommunizieren, ist vielmehr die Eingerichtetheit und Abgestimmtheit dieser beiden voneinander unabhängigen Ebenen der Praxis. Was wir beherrschen müssen, um mit Schrift umzugehen, ist der Wechsel von der elementaren zur konfigurativen und von der konfigurativen zur elementaren Ebene. Dass Schrift diesen Aspektwechsel erforderlich macht und dass Schrift das Potential dieses Aspektwechsels ausschöpft, zeichnet die Materialität des Mediums Schrift aus. Denn weder im Umgang mit Bildern noch im Umgang mit Sprachlauten (um nur zwei nahe liegende Vergleichsphänome anzuführen) finden wir Möglichkeit und Erfordernis eines solchen Aspektwechsels.[1] In Schrift lässt sich deshalb in einer Weise denken, ordnen und erfinden, die kein anderes Medium ermöglichen kann.
[1] Das gilt auch für digitalisierte Bilder und Laute. Denn dort werden die Manipulationen der präsenten Gestalt durch ein externes Werkzeug vollzogen. Schrift dagegen enthält selbst – in Kopräsenz – die Mittel der Transformation ihrer Gestalten.