Despot und (orientalische) Despotie
Brüche im Konzept von Aristoteles bis Montesquieu
gemeinsam mit Lisa Wilhelmi
Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte, 69. Jahrgang 2019, II, S. 305-341.
Abstract
Die Konzepte Despot und Despotie spielen nach wie vor eine gewichtige Rolle in Diskursen der politischen Theorie, insbesondere in Kontexten, in denen ein Ost-West- Gegensatz thematisiert wird. Wir setzen uns mit der Begriffsgeschichte dieser Konzepte in kritischer Absicht auseinander, indem wir uns gegen eine – wie wir es nennen – ’Kontinuitätsthese‘ wenden, die unterstellt, dass das Konzept der orientalischen Despotie sich entlang einer kontinuierlichen Überlieferungsgeschichte der politischen Semantik bis auf Aristoteles zurückschreiben lässt.
Diese These, die vor allem zum Ausdruck kommt, wenn der Topos eines westlichen Selbstverständnisses durch Abgrenzung aufgerufen wird, stützt sich in vielen Fällen auf Richard Koebners maßgebliche Studie Despot and Despotism. Vicissitudes of a Political Term von 1951. Im Widerspruch zu der dort implizierten Kontinuitätsthese zeigen wir, dass es sich vielmehr um eine Kette von Transformationen und Brüchen handelt, indem wir entscheidende Stationen der Begriffsgeschichte rekonstruieren.
Erst infolge dieses Transformationsprozesses wurde es Charles de Secondat, Baron de Montesquieu möglich, das Konzept der ’orientalischen Despotie‘ als neues politisches Instrument zu etablieren – ein Instrument, das er meisterhaft einzusetzen verstand und das den modernen Konzepten ‚Despot‘ und ’Despotie‘ ihre spezifische Prägung gab.
In methodologischer Hinsicht wollen wir durch diese Gegendarstellung auch zeigen, warum und in welcher Weise es für Begriffsgeschichte erforderlich ist, die theoretischen Systematiken der Konzeptionen, in denen ein jeweiliges Konzept steht und Bedeutung erlangt, zu rekonstruieren und ins Verhältnis zueinander zu stellen.
Abbildungen aus dem Text
Leseprobe
Wann, wo und vor welchem Hintergrund entstand das Konzept orientalischer Despot / orientalische Despotie? Es sprechen viele Gründe dafür, seine Anfänge in der Philosophie des Aristoteles zu sehen. Auch die Sekundärliteratur schreibt regelmäßig das Konzept auf Aristoteles zurück und zieht, von diesem ausgehend, eine ungebrochene Traditionslinie, die – in einer für ’westliches’[1] Selbstverständnis konstitutiven Weise – östliche Herrscher als Despoten und ihre Herrschaftsform als Despotie kennzeichnet.
Dabei ist impliziert, dass es ein beständiges Konzept Despot / Despotie gibt und dass dieses Konzept gleichförmig auf östliche Herrscher angewandt wurde. Dagegen wollen wir zeigen, dass die angenommene kontinuierliche Diskurslinie bei einer Lektüre, die die Systematik der jeweiligen Kontexte ausreichend berücksichtigt, nicht aufrecht zu erhalten ist. Vielmehr als um eine Kontinuität handelt es sich um eine Kette von Transformationen und Brüchen. Als Resultat dieser Kette entstand ein geschlossenes Bild des Konzepts, wie wir es heute kennen, erst in der Absolutismus-Kritik des 17. und 18. Jahrhunderts, in voller Ausprägung bei Montesquieu.
Die Kontinuitätsthese beruht auf Deutungen der einschlägigen aristotelischen Textstellen, die der Stellung der Passagen in der Systematik des aristotelischen Denkens nicht ausreichend gerecht werden. Näher betrachtet zeigt sich, dass es in der aristotelischen Theorieanlage aus systematischen Gründen nicht möglich ist, das Wort Despot im Sinne eines politischen Titels zu nutzen, ebenso wenig die Bezeichnung Despotie für eine Verfassungsform.
Es war deshalb keine schlichte Wiederaufnahme aristotelischer Topoi, sondern eine Kette systematischer und semantischer Transformationen, durch die in der hochmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Aristoteles-Rezeption, politische Herrscher und eine politische Herrschaftsform mit dem Konzept belegt und schließlich östlichen Regierungen zugewiesen werden konnten. Diese Transformationen wollen wir nachzeichnen.
Thema ist hier also die Geschichte des Konzepts Despot / Despotie, insofern sie für das Selbstverständnis des politischen Denkens im Westen wirksam wurde. Da es uns um die Konstitution eines für westliche politische Theorie zentralen Begriffes geht, beschränken wir uns auf die dafür relevanten Quellen und Traditionen. Das heißt insbesondere, dass wir weder einen Anspruch auf Vollständigkeit der das Konzept betreffenden Aristoteles-Rezeption erheben, noch den Anspruch, sämtliche Traditionslinien einzubeziehen, die die kontextuellen Bedingungen dieses Konzepts mitprägten – Hippokrates, Herodot und Platon wären hier in erster Linie zu nennen.[2] Unsere These ist, dass sich die entscheidenden, den modernen Begriff der Despotie prägenden Neukonzeptionen nur als Transformationen der aristotelischen Systematik der Verfassungs- und Regierungsformen angemessen verstehen lässt. Damit soll nicht geleugnet werden, dass auch hippokratische, platonische und andere Motive in die Begriffsbildung eingingen, es soll jedoch gezeigt werden, dass sich die Bedeutungstransformationen im Konzept, die in einigen Aspekten radikal sind, nicht in der Kontinuität der Thematisierung beispielsweise der Klimathese oder des West-Ost-Gegensatzes verstehen lässt, sondern nur in der produktiven Anpassung der überlieferten politischen Systematik an die jeweiligen zeitgeschichtliche Voraussetzungen, Bedürfnisse und strategische Einsätze.
Die Kontinuitätsthese wird in verschiedenen Varianten und Ausprägungen vertreten. Sie findet sich auch in dem ausführlichsten und differenziertesten Text, der zur Begriffsgeschichte von Despot publiziert wurde. In seinem 1951 erschienen Aufsatz Despot and Despotism. Vicissitudes of a Political Term entwirft Richard Koebner ein historisches Schema, dem gemäß das durch die semantischen Aspekte Gewaltsamkeit, Willkür, Laszivität des Herrschers und eine Verortung in östlichen Regimen geprägte Konzept auf Aristoteles zurückgehe und mit der Aristoteles-Rezeption im Spätmittelalter lediglich aktualisiert werde. Mit dieser Rückschreibung wesentlicher Inhalte auf Aristoteles wendet er sich – interessanterweise – gegen Voltaire, der sich, gerade indem er auf den semantischen Bruch hinweist[3], wiederum gegen Montesquieus Entwurf eines (östlichen) Herrschaftstyps Despotie kehrt.[4] Koebner glaubt, in verschiedenen Passagen der aristotelischen Politik bereits eine Verwendung des Konzepts im modernen Sinne vorzufinden[5], so dass mit der Aneignung dieser Texte seit der Renaissance eine Übernahme einer schon ursprünglich bei Aristoteles vorfindlichen Semantik vollzogen sei. Sowohl das Moment der Willkür, als auch die Politisierung der lexikalischen Bedeutung (’Hausherr’) und dessen Zuschreibung an östliche Regime sei bereits aristotelischer Bestand: „the concept of despotical rule or depotism, which annoyed Voltaire as being a misleading innovation, originated from […] occasional remarks of Aristotle.“[6]
Koebners These vom aristotelischen ’Ursprung’ lässt sich in einem starken und einem schwachen Sinne verstehen: In einem schwachen Sinne würde es sich lediglich um Anknüpfungspunkte handeln, die zu späteren Zeitpunkten (jeweils in historisch spezifischer Weise) aufgegriffen würden. In einem starken Sinne aber wird unterstellt, dass es sich bei der modernen Artikulation des Konzepts um Rezeptionen handelt, die aristotelische Konzepte lediglich reproduzieren. Dieser starken These werden wir widersprechen, indem wir aufzeigen, welchen Transformationen die aristotelische Konzeption in der mittelalterlichen und modernen Rezeption unterzogen wurden.
Eine neuerliche Betrachtung der Transformationen im Bedeutungskonzept erscheint uns vor allem in Hinblick auf die weite Rezeption von Koebners Artikel notwendig. Durch die zahlreichen Zitierungen hat die Kontinuitätsthese in ihrer starken Lesart – sei sie von Koebner im schwachen oder im starken Sinne angelegt – Eingang in die allgemeine Literatur genommen und scheint nur selten hinterfragt zu werden. Koebner wird nämlich vor allem dort zitiert, wo belegt werden soll, dass Despotie als Herrschaftsform bereits aristotelisch sei[7], oder – noch häufiger – ein bereits seit Jahrtausenden bestehendes westeuropäisches Verständnis von der Verortung einer solchen Herrschaftsform im Orient vorausgesetzt wird[8]. Nur wenige Autoren setzen sich kritisch mit den Details der – ansonsten durch die Fülle des Materials bestechenden – Darstellung Koebners auseinander[9]. Was aber bereits Koebner nicht ausreichend in Rechnung stellt, ist die Systematik, in der die Begriffe jeweils eingelassen sind. Wir werden diese jeweiligen Zusammenhänge rekonstruieren und – zur besseren Anschaulichkeit – durch Graphiken illustrieren. So soll deutlich werden, wo Umbrüche und Verschiebungen in der Systematik stattfinden, die in Koebners Darstellung zu wenig Beachtung finden. Ziel unserer Ausführungen ist zum einen, diese Kette systematischer Transformationen zu rekonstruieren, zum anderen zu zeigen, dass die Begriffsgeschichtsschreibung ihr kritisches Potenzial nur entfalten kann, wenn sie die theoretischen Systematiken, in denen ein Begriff in seiner Geschichte jeweils steht – und damit auch deren Neufassung und produktive Rekonzeptualisierung – in Betracht zieht und zur Darstellung bringt.
[1] Zum Begriff des Westens vgl.: Osterhammel, 2017, 101–14; Trautsch, 2017, 58–66.
[2] Insbesondere der Einfluss der hippokratischen Klimalehre auf Bodin und Montesquieu ist signifikant (Müller, 2005).
[3] Voltaire, 2009 [1777], 321.
[4] Voltaire, 1768, 16.
[5] Koebner, 1951, 276.
[6] Ebd., 277.
[7] Vgl. hierzu z.B.: Sawer, 1977; Morkel, 1966, 14–32; Aksan, 1994, 201-214; Govind, 2011, 177–213, 181 – 183.
[8] Vgl. hierzu z.B.: Briant, 1979, 1375–1414, 1379 – 1380; Richter, 1990, 175–187, 175; Mukherjee, 1985, 25–39, 29; Sawer, 1974, 7; Brentjes, 1999, 435–468, 455 – 456; Whelan, 2001, 619–647, 623 – 624; de Araujo, 2017, 9–27, 12 mit Fn. 7; Tzoref-Ashkenazi, 2009, 189–211, 196; Gantet, 2001, 261–282, 278; Sonderegger, 2005, 1-30, 4-5; Sato, 2018, 191–216, 191; Minuti, 2012; Metcalf, 2006, 7 mit Fn 5; Hussain, 2003, 46; Osterhammel, 2010, 275-276; Soracoe, 2013, 8; Eaton, 2008, 63–93. 65 mit Fn. 3; Tzoref-Ashkenazi, 2013, 280–320; Tzoref-Ashkenazi, 2014, 82.
[9] Fang, 2017, 71 mit Fn. 139; Gallagher, 2014, 72-75; Pringle, 1993, 136–159, 155, mit Fn. 18; Singer, 2013.