Denkwerkzeuge im Gesichtsraum

Schrift als Kulturtechnik

 In: Moritz Wedell/ Pablo Schneider (Hg.), Grenzfälle: Transformationen von Bild, Schrift und Zahl, Weimar 2004, S. 19-40.

Einleitung

Vielleicht sind Kulturtechniken inzwischen so umfassend zu unserer zweiten Natur geworden, dass das Unwahrscheinliche und Erstaunliche, das in ihrer Entstehung und Entwicklung liegt, aufgrund zu großer Nähe unsichtbar geworden ist. Jedenfalls findet sich in den aktuellen Forschungen und Debatten zum Thema Schrift kaum je ein Ausdruck der Verwunderung darüber, dass es Praktiken wie Schreiben, Rechnen und Lesen überhaupt gibt. Dabei ist die Situation, dass ein Mensch einer Fläche aus Papier, Ton, Flüssigkristallen o.ä. gegenübersitzt, auf der sich Gestalten wahrnehmen, aufzeichnen und verändern lassen, so dass dieses Wahrnehmen, Aufzeichnen und Verändern für ihn und für andere Bedeutung hat, alles andere als naturgegeben. Ein Versuch, die Voraussetzungen dieser Situation zu vergegenwärtigen, müsste eine ganze Reihe struktureller Momente beschreiben: etwa das Isolieren eines fixen Areals im Kontinuum des beweglichen Gesichtsfelds; ein Areal, das aber nicht selbst als Ding, sondern lediglich als Träger verwendet wird und zudem materialiter geeignet sein muss, in oder auf seiner Oberfläche sicht- oder tastbare Gestalten zu figurieren; eine in einem bestimmten Bereich variable Distanz, die es möglich macht, das Auge in dieser gestalteten Textur wandern zu lassen, und zwar so, dass es einzelne Zeichen fokussieren, aber auch ganze Komplexe von Zeichen auf einmal erfassen kann; eine Distanz und eine Oberflächenbeschaffenheit, die es der sich im diesem Ausschnitt des Gesichtsfelds bewegenden Hand erlauben, spezifische Modifikationen an und in der Textur vorzunehmen; ein Körper, der in seinem Bewegungsspielraum auf minimale Bewegungen der Augen, des Kopfes und meist nur einer Hand reduziert ist.

Solche und ähnliche Überlegungen fördern zu Tage, wie voraussetzungsreich unsere so selbstverständlich scheinenden Kulturtechniken sind und wie neuartig ist, was durch sie in die Welt kam. Mit Schreibflächen, Spiel- und Rechenbrettern waren nicht bloß neue Dinge, sondern ein ganzes technisches Setting erfunden, das bestimmte körperliche Dispositionen, Aktionsformen, Struktur- und Materialeigenschaften verbindet und das im Zeitalter von Monitoren, Displays, Tasten und Mausklicks ubiquitär geworden ist; ein technisches Dispositiv, das einerseits mit der Restriktion und Disziplinierung von Raum, Dingen und Körper verbunden ist und andererseits dadurch entschädigt, dass in seinen Oberflächen – diesen Fenstern der Wirklichkeit – Welten entstehen, die eigenen Logiken gehorchen und die eine unübersehbare Mannigfaltigkeit von Funktionen zu erfüllen vermögen.

In diesem technischen Setting kann gemalt, gerechnet und memoriert, bewiesen, geplant, gespielt, komponiert und vieles mehr getan werden. Einige dieser Tätigkeiten bezeichnen wir als Lesen und Schreiben, die Struktur, auf die sie sich richten als Schrift. Ich werde im Folgenden zeigen, dass sich vor dem Hintergrund einer kulturtechnischen Betrachtung, wie sie soeben umrissen wurde, der Begriff der Schrift klar konturieren und das Phänomen Schrift von anderen, eng verwandten abheben lässt. Die so gewonnene Bestimmung verhält sich kritisch zu den in den aktuellen Debatten um den Schriftbegriff vorherrschenden Auffassungen, die Schrift entweder auf logische Operativität reduzieren (im Anschluß an Nelson Goodman) oder zu einem universalen Seinsgeschehen hypostasieren (Derrida) – zwei Konzeptionen, deren Prominenz selbst wiederum von der Einsicht getragen ist, dass die herkömmliche und geläufige Auffassung, nach der Schrift als aufgeschriebene Sprache verstanden wird, die Eigenständigkeit des Mediums Schrift, dessen originale Gegebenheit und kulturgeschichtliche Relevanz außer Acht läßt.

„Das enorme kulturgeschichtliche Potential von Schriften könnte gerade in dieser Integration von scheinbar Unvereinbarem liegen: nämlich in der Verbindung von logischer Struktur und komplexer Gestalt; so dass, je nach Schwerpunktsetzung zwischen diesen Polen, die Schrift ein Universalmedium ist, um zu rechnen und um zu erfinden.“

Leseprobe

  1. Ein kulturtechnischer Schriftbegriff

Mit den bisherigen Ausführungen zeigte sich bereits, dass Schrift tatsächlich als eigenständiges Medium und nicht als bloßes Derivat der Sprache anzusehen ist. Ihre Besonderheit liegt in ihrer Ausbreitung in der Fläche, die in vielerlei Hinsicht einen anderen Umgang mit Schriftmaterial erlaubt als dies mit Lautmaterial möglich ist. Auf der anderen Seite unterscheidet sich das Schriftbild von herkömmlichen, analogen Bildern dadurch, dass es als notationales Schema aufgebaut ist. Auf Grund dieser logischen Struktur ist es prinzipiell möglich, mit Schriftzeichen regelhaft zu operieren, sei es z.B. in der Nominalbildung der Sprache, in der Auflösung von Akkorden oder im Auffinden chemischer Elemente durch die Ergänzung molekularer Notationen.

Jedoch – und damit komme ich zu meiner Kernthese – erschöpft sich das, wie Schriften gebraucht werden und was sie als Kulturtechniken leisten, nicht in dieser logischen Struktur. So weit Schriften in dieser Form strukturiert sind, lassen sie sich durch jede andere schematische Struktur, eben auch durch die von Maschinen funktional äquivalent ersetzen.

Unser Umgang mit Schrift hat aber – wie die Beispiele der Entwurfs- und Arbeitsmanuskripte schon zeigten – auch noch eine ganz andere Dimension. Nicht alles, was wir mit Schrift tun, sind logisch eindeutige Operationen – im Gegenteil: das eindeutige Operieren mit Schriftzeichen ist eine spezielle Möglichkeit – neben vielen anderen.

Um zu erklären, was Schrift – über logische Struktur hinaus – charakterisiert, kann zunächst eine Beobachtung als Ansatzpunkt dienen, die für den Umgang mit Schrift typisch ist: Schriftliche Ausdrücke (seien sie sprachlich, mathematisch, chemisch …) werden vom Kundigen, vom Routinier, für gewöhnlich in größeren Gestalteinheiten behandelt. Ein routinierter Leser liest zusammengehörige Satzteile als Einheit, ein Mathematiker stellt ganze Gleichungsstücke um etc. Diese Gestaltseite der Schrift bringt Wittgenstein zum Ausdruck, wenn er immer wieder darauf hinweist, dass Buchstaben, Wörter und mathematische Reihenstücke für uns ein Gesicht haben.[1] Wer in eine Schriftpraxis eingeübt ist, erkennt ganze Komplexe auf Anhieb, bemerkt feine Veränderungen, kann Ähnlichkeiten auffinden – in der gleichen Weise, in der wir alle geübt sind, charakteristische Züge im Ausdruck von Gesichtern wahrzunehmen. Buchstaben sind keine bloßen Striche, sondern charakteristische Gestalten; Worte, Formeln, Notenkomplexe bündeln Elemente zu Bildgestalten, die als Ganze wahrgenommen werden. Die empirische Leseforschung hat gezeigt, dass das Auge wesentlich mehr Zeit für das Identifizieren einzelner Buchstaben benötigt als für das gewöhnliche Lesen ganzer Wörter. Die Gestalthaftigkeit von Schriften ist der Grund dafür, dass Routinen ausgebildet werden können. Ein routiniertes Umgehen ist nun aber etwas ganz anderes als ein mechanisches. Denn während im mechanischen Prozessieren nur Regeln umgesetzt werden, wird im routinierten Handeln immer erst erschlossen, wie beispielsweise ein Wort in seinem Satzzusammenhang gelesen werden kann. Hier gibt es häufig verschiedene Möglichkeiten: man kann einen Zeichenkomplex so oder anders lesen, diese oder jene Bestandteile zusammensehen; es ist möglich auszuprobieren; man kann sich fragen: wie sieht es aus, wenn…? was ergibt sich, wenn…? Deshalb öffnet die Gestaltseite von Schrift das Handeln auch hin zur kreativen Weiterentwicklung. Es können andere Ähnlichkeiten entdeckt, neue Verbindungen können zu neuen Aspekten und neuen Organisationsweisen führen.[2]

Gestalthaft zu sein, haben Schriften nun aber mit bildlichen und lautlichen Medien gemeinsam. Das entscheidende für Schriften ist genauso wenig allein, dass sie gestalthaft sind wie allein, dass sie notational sind. Das entscheidende ist vielmehr, dass Schriften diese beiden Eigenschaften verbinden. Es ist typisch für sie, dass neben dem Umgang mit ganzen Gestaltformationen immer ein Rückgang auf eine elementarere Ebene möglich ist: Lesen heißt nicht buchstabieren, aber wenn ich ein Wort nicht kenne (oder lesen lerne), kann ich das Wort durch Buchstabieren erschließen. Das Schriftbild von Lexika ermöglicht es, zu einem bekannten Wort gehörige Erläuterungen oder Übersetzungen schnell zu überblicken, kenne ich aber die Schriftgestalt – beispielsweise japanischer Schriftzeichen – nicht, so erlaubt es die notationale Struktur – im Unterschied etwa zur Bestimmung von Pilzen nach einer Bildvorlage -, Element für Element abzugleichen und die gesuchte Zeichenformation eindeutig zu identifizieren.

Schriften ist also eine charakteristische Duplizität eigen insofern sie einen Aspektwechsel von der strukturierten Gestalt zur gestalteten Struktur und umgekehrt ermöglichen und herausfordern. Schriften formieren Gestalten, die intern komplex, aber auf der Oberfläche einfach sind. Das erlaubt dem Routinier, komplexe Strukturen zu identifizieren und mit ihnen zu operieren. Zugleich kann er jederzeit auf eine elementarere Ebene (z.B. vom Satz zum Wort) zurückgehen, um eine spezifische Manipulation vorzunehmen. Die Manipulation bleibt auf jeder Ebene spezifisch, weil jede Ebene als Ordnung differentieller Werte organisiert ist. Und trotzdem geht der Umgang mit den Gestaltformationen über das hinaus, was sich aus einer Kompositionen elementarerer Teile erschließen lässt. Man könnte auch sagen: Die Gestalt hat einen Überschuß über ihre Elemente. Der Grund dafür liegt darin, dass in der Erzeugung von Ausdrücken zwar bestimmte Dinge geregelt, aber die Gestaltformation nicht determiniert ist (wie auch der Argumentationsgang eines mathematischen Beweises nicht durch Rechenregeln determiniert ist). Schriften sind Kulturtechniken und keine mechanischen Prozesse, weil sie Regeln in Gestalten verkörpern, die Strukturen und Zusammenhänge sichtbar machen, die nicht (allein) aus der Ausführung determinierender Regeln resultieren.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Duplizität der Erscheinung als Gestalt und Notation ein spezifisches Charakteristikum von Schriften darstellt. Die besonders ausgeprägte Möglichkeit, einen Aspektwechsel von der strukturierten Gestalt zur gestalteten Struktur oder umgekehrt vorzunehmen, unterscheidet die Praktiken des Umgangs mit Schriftgestalten von denen mit lautlichen und piktoralen wie auch von anderen logisch eindeutigen, aber nicht-gestalthaften Prozessen. Bemerkenswert ist, dass die charakteristische Duplizität von Schrift, so wie sie hier beschrieben wurde, nicht als die Relation zwischen einer anwesenden Schriftgestalt und einer abwesenden Bedeutung zu verstehen ist. Vielmehr betreffen beide Aspekte, der gestalthafte wie der notationale, präsente Eigenschaften, die der Wahrnehmung zugänglich sind. Schriften führen Bedeutungen also in zweifacher Weise vor Augen: in holistisch-gestalthafter und in analytisch-atomarer.

Ein Versuch, diese Überlegungen zu konkretisieren, kann hinter Derrida zurückgehen zu einer seiner Quellen, nämlich zu dem Paläonthologen und Kulturtheoretiker André Leroi-Gourhan und seinem Buch La geste et la parole von 1964. Leroi-Gourhan hat die Entwicklung der graphematischen Systeme eng an die Beziehung von Hand und Gesicht geknüpft.[3] Derrida hat darauf hingewiesen, dass in diesem Verhältnis allerdings die Bedeutung von Hand und Gesicht nicht voraus gesetzt werden darf, sondern von der Schrift her neu zu erschliessen wäre.[4] Leider blieb es in der Grammatologie bei dieser Bemerkung. Denn die Phänomene des praktischen Umgangs mit Schriften lassen sich nicht so leicht in die Konzeption der ‚Seinsmaschine’ der différance einfügen. Folgende Aspekte wären hier mindestens zu berücksichtigen:

  1. Die Strukturbildlichkeit des Schriftbildes ist nicht notwendig ein visuelles Bild, hat aber bezeichnende Affinitäten zum Visuellen: schriftliche Gestaltformationen können auch taktil zugänglich sein wie bei der Blindenschrift. Zugleich zeigt das Beispiel der Blindenschrift, welche Vorzüge das Auge beim Umgang mit Schrift hat: durch seine Beweglichkeit im Zusammenfassen von Einheiten, im So- und Anderssehen, im Springen und Vergleichen zwischen verschiedenen Orten einer Textstruktur kann das Auge Gestaltähnlichkeiten und Differenzen sozusagen mit einem Schlag erkennen, auch wenn sie in gewisser Entfernung voneinander vorliegen.
  2. Hiermit zeichnet sich auch ab, was als spezifischer Raum der Schrift, als Schriftraum anzusehen ist: es ist der Raum von Hand, Auge und Textgestalt; das Auge kann wandern, Strukturen sehen und (re-) organisieren; die Hand, der Finger (digitas) kann Elemente fixieren und konkret manipulieren; der Text gibt Formationen vor und ist Objekt von Reformationen: ein Spannungsraum von Beschränkungen, Möglichkeiten und Tendenzen. Gesicht, Hand und Textfläche bilden einen tripolaren Raum, einen Schriftraum, für den entscheidend ist, dass die Textfläche gleichsam als Arbeitsfläche vor- bzw. gegenüber gestellt ist. Und zwar steht der Text Auge und Hand in einer Entfernung gegenüber, die es dem Auge erlaubt, sich sowohl im Gewebe der Zeichen zu bewegen als auch einzelne Zeichen visuell zu fixieren. Zugleich ist die Hand in der Lage, auf bestimmte Zeichen oder Zeichenkomplexe zu zeigen und unmittelbar, mit Stift, Kreide oder Tastatur in die bestehende oder entstehende Textstruktur einzugreifen. So verläuft das schriftliche Handeln, etwa beim Lesen oder Musizieren nach Noten, in einer Textstruktur, wobei zugleich immer strukturell die Möglichkeit besteht, abgelöst von der Textur mit einzelnen Elementen zu handeln, formierend oder transformierend tätig zu werden.
  3. Für schriftliche Praktiken sind eine Reihe von materialen Aspekten bedeutsam, insbesondere, dass Schriftzeichen manifest sind. Denn erst die Manifestation in nicht-transitorischen, fixierten Gestalten erlaubt es, diese Gestalten zu behandeln (umzugruppieren, einzurahmen, auszulöschen etc.), ohne sie zu aktualisieren. Materielle Stabilität der schriftlichen Formationen ist also ein entscheidendes Charakteristikum, durch das Schrift einerseits von Lautgestalten und Gesten unterschieden ist und das andererseits den spezifischen Schriftraum konstituiert.

Der spezifische Schriftraum öffnet sich also dann, wenn zwei Bewegungen konvergieren: wenn Zeichen-Gestalten zu notationalen Systemen ausgearbeitet werden, so dass eindeutige Operationen möglich sind und wenn systemische Operationen Gestalt gewinnen, so dass sie ‚vor Augen stehen’ und in immer wieder neuartiger Weise gesehen werden können. Das enorme kulturgeschichtliche Potential von Schriften könnte gerade in dieser Integration von scheinbar Unvereinbarem liegen: nämlich in der Verbindung von logischer Struktur und komplexer Gestalt; so dass, je nach Schwerpunktsetzung zwischen diesen Polen, die Schrift ein Universalmedium ist, um zu rechnen und um zu erfinden.

[1] Vgl. z.B. Wittgenstein 1982 (Philosophische Untersuchungen), §§ 167, 228, S. 560.

[2] Vgl. hierzu: Werner Kogge: Das Gesicht der Regel. Subtilität und Kreativität im Regelfolgen nach Wittgenstein. In: Wittgenstein – Jahrbuch 2001. Frankfurt a.M. 2002.

[3] Leroi-Gourhan 1988, S. 237-239.

[4] Derrida 1983, S. 150.