C-ELSI

Für eine neue Rolle des Faktors Kultur in der Wissenschafts- und Technikgestaltung

gemeinsam mit Birgit Griesecke

In: Griesecke, Birgit (2014) (unter Mitarbeit von Werner Kogge): Fremde Wissenschaft? Drei Studien zum Einsatz konzeptueller Forschung im Ver-hältnis von Wissenschaft und Kultur, kadmos Verlag, Berlin, S. 91-148

Einleitung

1989 wurde ELSI als Begleitforschung des Human Genom Projects (HGP) installiert, um die gesellschaftlichen Folgen der Genomforschung zu erkunden. Fünf Prozent des Budgets des HGP (bzw. seiner Nachfolgeprojekte) wurden (und werden in den Folgeprogrammen) dafür zur Verfügung gestellt (das sind derzeit jährlich etwa 18 Millionen Dollar).[1]Die Selbstauskunft des National Human Genome Research Institute zur Bestimmung von ELSI lautet wie folgt:

„The Ethical, Legal and Social Implications (ELSI) Research Program was established to address these issues and has become an integral part of the HGP. ELSI provides a new approach to scientific research by identifying, analyzing and addressing the ethical, legal and social implications of human genetics research at the same time that the basic science is being studied. In this way, problem areas can be identified and solution developed before scientific information is integrated into health care practice.“[2]

Das klingt auf den ersten Blick gut und richtig. Und doch läßt sich letztlich kaum verhehlen, dass das ELSI-Programm bereits in seiner ursprünglichen Stoßrichtung zur Akzeptanz- und Legitimationsbeschaffung für neue Technologien angelegt und ausgelegt wurde. Aus Sicht von Kritikern dienen ELSI-Programme dazu, Bedingungen zu schaffen, unter denen neue Technologien „möglichst reibungsarm, d.h. unter geringstem Verbrauch an Ressourcen, implementiert werden können“.[3]

[…]

Ebenso wie in der Soziologie lassen sich auch in den anderen, an ELSI-Programmen beteiligten Disziplinen, nämlich Jurisprudenz und Ethik, kultursensitive Ansätze finden, dort nämlich, wo die Sprache als Medium der Konzeption von Wirklichkeit in den Blick genommen wird (dazu sogleich mehr). Die Frage nach dem C- bildet eine Trennlinie, die bisherige Ansätze der ELSI-Forschung in sich spaltet. Auf der einen Seite stehen: soziologischen Ansätze, die soziale Strukturen als sinn- und bedeutungsunabhängige Gegebenheiten untersuchen, rechtsphilosophische Ansätze, die das Recht als positive Gegebenheit und als Gegenstand bloß rechtstechnischer Fragen betrachten und Ansätze der Ethik, die Verhältnisse zwischen Normen als logische oder rationale Zusammenhänge verhandeln. Auf der anderen Seite stehen Ansätze, die soziale Strukturen als Produkte sinnhaften Handelns, Recht als sprachlich verfasstes und mit moralischen Überzeugungen verbundenes, und die ethische Reflexion auf moralische Fragen als Arbeit an einem sinnhaften Wertesystem ansehen. Der Einsatz des C- in C- ELSI verknüpft sich so mit dem Anliegen, die kultursensitiven Ansätze in den Diskursen der Soziologie, Jurisprudenz und Ethik mit den Diskursen der Sprachphilosophie, der Literatur- und der Kulturwissenschaften in engere Verbindung zu bringen.

[1] Vgl. die Webpage des National Human Genome Research Institute: http://www.genome.gov/10001754 (19.9.2012)

[2] Ebd.

[3] Kemper, Oliver, „ELSA in der Genomforschung – eine vorübergehende Erscheinung“, in: E. Grießler, H. Rohrbacher, Genomforschung – Politik – Gesellschaft, 16, online: DOI: 978-3-531-92647-6_2; Rehmann-Sutter, Christoph, „Gesellschaftliche, rechtliche und ethische Implikationen der Biomedizin. Zu der Rolle und den Aufgaben von ELSI-Begleitforschung“, in: Sascha Dickel, Martina Franzen & Christoph Kehl (Hgg.), Herausforderung der Biomedizin. Gesellschaftliche Deutung und soziale Praxis, Bielefeld 2011, S. 49-66, hier 55ff.

„In diesem Sinne zielen kritische Interventionen darauf, die ELSI-Forschung neu zu begreifen: als eine zwar gegenständlich auf neue Technologien bezogene, in Methode und Zielsetzung jedoch unabhängige Forschung an Konzepten, Werten und sozialen Strukturen, die auf die Ausrichtung naturwissenschaftlicher Forschungsprogramme durchaus rückwirken bzw. an deren Ausgestaltung mitwirken können. Upstream Engagement ist das Losungswort dieser Bewegung.“

Leseprobe

… die Dimension der Lebensbedeutsamkeit

Was wir an diesem Beispiel stellvertretend für viele andere aus modernen Diagnostikverfahren resultierende Konstellationen gesehen haben, ist, daß der Zugang zu Fragen der Lebensbedeutsamkeit im Unterschied zu Fragen, die sich ungleich leichter einem angestammten sozialwissenschaftlichen Analyse-Repertoire unterwerfen und in den großen Strom der Forschung lenken lassen, in Zonen des Tabus führen und zu Umständen, über die keiner gern spricht, obwohl sie verbreitet sind. Oder anders gesagt: Der Zugang zu solchen Fragen fällt durch das Raster der forschungspolitisch eng gefaßten Majuskeln von ELSI.

Denn, was hier offenbar betroffen ist, ist der Mensch in seinem Lebenszusammenhang – und zwar nicht in seinem physiologischen Leben, sondern zunächst einmal in dem, was solche Ereignisse und Entscheidungen für ihn bedeuten. Die Bedeutungs- oder Sinndimension wird in naturwissenschaftlich-technischer Perspektive oft weitgehend ausgeblendet oder als subjektiver Faktor beiseite gestellt. Doch die Implikationen von Trauer, Selbstzweifel, Scham und Schuld sind für die Betroffenen weder naturwissenschaftliche, noch rechts- oder sozialtechnische Fragen. Es sind Fragen der Lebensbedeutsamkeit und ihre Konsequenzen sind ebenfalls Konsequenzen der Lebensbedeutsamkeit – bis hin zu möglichen traumatischen Folgen.

Was hier also erforderlich ist, ist ein Perspektivenwechsel. Die ethischen, rechtlichen und sozialen Aspekte von Technologien müssen in der Perspektive ihrer Lebensbedeutsamkeit zur Geltung kommen. Dabei ist diese Perspektive keineswegs erst zu erfinden. Starke Traditionen der Philosophie, Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften haben den Menschen als ein Wesen beschrieben, das in einem Bedeutungsgewebe steht und sich und sein Handeln dort versteht. Menschen sind demnach stets auch kulturelle Wesen, sie leben in Sprachen, Bildern, Melodien, Geschichten, Erinnerungen, Werten – entscheidend ist stets, was wie Bedeutung erlangt. Bedeutsamkeit variiert sicher zwischen menschlichen Individuen. Jedoch variiert sie nicht in subjektiv-beliebiger Weise. Die Deutungsmacht des Individuums ist stets relativ zu den übersubjektiven Strukturen der Zeichen- und Wertsysteme, in denen Menschen leben, erfahren und sich auszudrücken gelernt haben. Es ist also ein durchaus objektiver und wirkmächtiger Faktor, der in der Aufgabenstellung von ELSI bislang unbeachtet ist: ein Faktor, der – kurzgefasst – als kultureller Faktor bezeichnet werden kann.[1]

C-ELSI

Kultur als Objekt und Subjekt

Wir schlagen also vor, dass ELSI systematisch und durchgängig um die Frage nach dem kulturellen Aspekt erweitert wird. Terminologisch schlägt sich diese Erweiterung in einem C(ultural)- nieder, das dem Akronym ELSI vorgeschaltet wird: C- ELSI. C- ELSI drückt aus, dass es in der Erforschung von Implikationen und Aspekten wissenschaftlich-technischer Entwicklungen stets auch – und nicht zuletzt – um die kulturellen Aspekte im Sinne von Lebensbedeutsamkeit gehen muss. Mit diesem Vorschlag bewegen wir uns in einem Umfeld von „Untersuchungen zu den Implikationen biomedizinischer Techniken für das Gesundheitssystem, die Gesellschaft und die kulturelle Entwicklung“.[2] Worauf unser Vorschlag einer systematischen und durchgängigen Erweiterung von ELSI zu C- ELSI aber zudem zielt, ist, dass wir Kultur sowohl als Einwirkungs- und Austragungsfeld wissenschaftlich-technischer Entwicklungen betrachten wollen, als auch als Erfahrungs- und Artikulationssphäre, in der aktiv Sinnressourcen freigesetzt und entwickelt werden, die in einen Upstream-Ansatz von C- ELSI eingespeist werden können. Kultur ist demnach, kurz gesagt, nicht nur Objekt wissenschaftlich-technischer Entwicklungen, sondern auch Subjekt. Subjekt in dem Sinne, dass aus der kulturellen Reflexion ein Potenzial differenzierter und differenzierender Erfahrung entsteht, das bereits an dem Punkt der Frage zur Geltung kommt, woran, in welcher Weise und mit welchem Ziel geforscht und technisch entwickelt wird. Kultur wird hier als methodische Freilegung und Entwicklung von Erfahrungen und Differenzierungen aktiv, so gesehen als eine ganz eigene Disziplin, denkbar weit entfernt von dilettierender Anverwandlung.

Im Folgenden wollen wir erläutern, wie sich der C-ELSI Ansatz zu verschiedenen anderen, verwandten Themen und Diskursen verhält. Zum einen geht es um den Einsatz des Kulturbegriffs in den Disziplinen, die Wissenschaft und Technik zum Gegenstand haben, wie Science and Technology Studies (STS), Technikphilosophie, Techniksoziologie, Kulturwissenschaften, Cultural Anthropology of Science und Technikfolgenabschätzung (TA). Zum anderen ist das Verhältnis des kulturellen Aspekts zu den in ELSI bereits angeführten ethischen, rechtlichen und sozialen Aspekten näher zu bestimmen. Hier geht es um die Frage, warum Ethik, Rechts- und Sozialreflexion den geforderten kulturellen Aspekt bislang nicht mit abzudecken vermochten und welche Neuausrichtung das Feld dieser Begriffe durch den Einsatz des kulturellen Faktors erhält.

[1] Zu einer Neuperspektivierung von bioethischen Fragen im Licht einer engagierten Kulturwissenschaft siehe Weigel, Sigrid, „Kulturwissenschaftliche Perspektiven zur Bioethik. Übertragungen von Leben und Genealogie“, in: Honnefelder, Ludger, Dirk Lanzerath (Hgg.), Bioethik im Kontext von Recht, Moral und Kultur, Bonn 2008. 95-111. 

[2] Bora, Alfons, Kollek, Regine, „Einleitung. Der Alltag der Biomedizin – Interdisziplinäre Perspektiven“, in Sascha Dickel, Martina Franzen & Christoph Kehl (Hgg.), Herausforderung Biomedizin. Gesellschaftliche Deutung und soziale Praxis, Bielefeld 2011. Mit weiterführender Literatur zu solchen Untersuchungen.