Beschreiben als Forschungsform

Zur Methodologie des Deskriptivismus

Journal Phänomenologie, 58 / 2022, S. 41-50.

Leseprobe

Von den drei kardinalen Forschungsformen, die die Tradition entwickelt hat, ist das Beschreiben die leiseste. Als mit Verstehen und Erklären zwei Begriffe schon das Feld der Forschung mit Abgrenzungen und Gebietsansprüchen durchzogen, meldete sich das Beschreiben zu Wort, zögerlich noch, wie wissenschaftlich es überhaupt sein möchte. Es ist eine Koinzidenz, aber eine sehr beredte, dass zwei signifikante Bekenntnisse zum Deskriptiven im selben Jahr, 1913, verfasst wurden – in diesem „letzten Jahr des Friedens“[i], in dem außerdem Max Weber  das Konzept der Zweckrationalität entwarf und von der Entzauberung der Welt sprach,[ii] der erste Band von Prousts  À la recherche du temps perdu erschien und in Den Haag der Friedenspalast eröffnet wurde, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs – offensichtlich ein Kulminationspunkt der Moderne. 1913 also notiert Ludwig Wittgenstein, auf dem Weg zu seiner epochemachenden Logisch-philosophischen Abhandlung: „In der Philosophie gibt es keine Deduktionen; sie ist rein deskriptiv“, und Edmund Husserl hält in seinen Ideen zu einer reinen Phänomenologie fest: „Was die Phänomenologie anbelangt, so will sie eine deskriptive Wesenslehre […] sein, und wie jede deskriptive, nicht substruierende und nicht idealisierende Disziplin hat sie ihr Recht in sich.“[iii] Dieses „Recht in sich“ der Deskription bringt später wiederum Ludwig Wittgenstein zum Ausdruck, wenn er proklamiert: „Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten“.[iv] Und dies andernorts ergänzt: „Ich möchte hier sagen, dass es niemals unser Anliegen sein kann, irgendetwas auf irgendetwas zurückzuführen oder irgendetwas zu erklären. Philosophie ist rein deskriptiv“[v] Das Nicht-Zurückführen auf Anderes, das Verweilen bei der Sache ‚selbst‘, bei den ihr eigenen Momenten und Aspekten, die sich erst durch ein Beobachten erschließen, das sich Zeit nimmt, ohne Intensität preiszugeben, das zeichnet die deskriptive Forschungshaltung aus.  So viel die beiden Beschreibungskonzepte im weiteren auch unterscheiden wird,[vi] gemeinsam unterscheiden sie sich von früheren Apologien des Beschreibens in der Traditon d’Alemberts und Kirchhoffs, deren Affinität zur Beschreibung darin bestand, physikalische Phänomene unmittelbar in einer „mathematischen Aufstellung“ zu formulieren, ohne daß man sich auf eine weitere Interpretation der Kräfte oder Verbindung einlassen müsste“.[vii] Statt mit dieser Abstinenz von Interpretation (die nur ausblendet, dass der Übertrag in den Formalismus eine überaus radikale Deutung ist) verbindet sich der Neuansatz des Deskriptivismus im 20. Jahrhundert mit einer alten Tradition von Forschen, die noch im 18. Jahrhundert als Inbegriff von Wissenschaftlichkeit überhaupt gelten konnte: die deskriptiven Naturforschung, der naturalis historiae (Husserl nimmt explizit Bezug: „Knüpfen wir unsere Betrachtungen an die Kontrastierung von Geometrie und der deskriptiven Naturwissenschaft“).[viii]

[i] Corriera della Serra, zitiert im Klappentext zu Florian Illies: 1913. Der Sommer des Jahrhunderts, Frankfurt/M.: Fischer 2014. Ob diese muntere Anekdotensammlung, aus der ich mich hier bediene, auch als eine Form des Deskriptivismus gelten kann, wäre zu fragen (und würde von ernsthaften Deskriptivisten wohl eher bestritten werden).

[ii] Max Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie. In: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: Mohr 1988 (1913), S. 427-444.

[iii] Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie. In: Ströker, Elisabeth (Hg.): Gesammelte Schriften. Band 2. Hamburg: Meiner 1976 (1913), S. 156 (HUA III,1, 139).

[iv] Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd. 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, § 109.

[v] Ludwig Wittgenstein, Das blaue Buch. Werkausgabe Bd. 5. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 39.

[vi] Vgl. dazu Birgit Griesecke: Japan dicht beschreiben. Produktive Fiktionalität in der ethnographischen Forschung. München: Fink 2001, S. 54-64.

[vii] Ernst Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Historisch-kritisch dargestellt. hrsg. u. m. einem Anh. vers. v. Renate Wahsner u. Horst-Heino von Borzeszkowski. Berlin: Akademie-Verlag 1988 (1883), S. 285.

[viii] Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie, a.a.O., S. 154 (HUA III,1, S. 138).

„Wittgensteins Deskriptivismus hat sich nicht dem puren Deskriptivismus verschrieben, sondern ein experimentelles Moment integriert. Das Beschreiben ist hier stets auch ein Probieren. Es erkundet begriffliche Verhältnisse und Grenzen, indem es offensiv Gebrauchsfälle unterschiedlicher Provenienz – fremdartige, erfundene, strapazierende – in Verbindung setzt. Dabei geht es nicht nur um ein kontrastives Moment (das Anscheinende sichtbarer zu machen), sondern um ein transformierendes, die Sicht veränderndes. Nicht kumulativer Aspektreichtum, sondern Aspektwechsel ist das erklärte Ziel eines experimentellen Deskriptivismus.“