Begriffsforschung im interdisziplinären Kontext

Neuansätze einer Methode

Zweiter Teil

Archiv für Begriffsgeschichte, November 2021, Heft 2, S. 109-136.

Abstract

Der Zweite Teil von Begriffsforschung im Interdisziplinären Kontext stellt das im Ersten Teil vorgestellte Projekt einer kriteriologischen Begriffsforschung ins Verhältnis zu verschiedenen disziplinären Diskursen, die je ihre eigenen Formen und Auffassungen von Begriffsforschung entwickelt haben. Ziel dieser vergleichenden Erörterung ist es, Anschlussstellen sichtbar zu machen und Übergänge zu benennen. Auf dem Wege der Diskussion zentraler Theoreme und Textpassagen aus den Diskursen der philosophischen conceptual analysis, der sprach- und kognitionswissenschaftliche Semantik und der Begriffsgeschichte zeichnet sich die Kontur einer Experimentellen Begriffsforschung ab, die Begriffe weder nur als empirische Phänomene noch unter einem ontologischen, unter einem logizistischen oder unter einem Conceptual-Engineering Aspekt betrachtet, sondern in einer Perspektive empirisch offener, welterschließender Praktiken, kurz: unter dem Gesichtspunkt von Forschung.

„Man kann uns den Vorwurf des Nominalismus machen, wenn wir uns nicht bewußt sind, daß die Grenze, die eine Definition zieht, um der Wichtigkeit dieser Grenze willen gezogen ist. Und Sätze, die diese Wichtigkeit erklären, sind nun nicht solche über die Sprache.“

 Wittgenstein, Nachlaß MS 129, 193

Leseprobe

 

Begriffe als Elemente von Forschung aufzuweisen, war Ziel des Ersten Teiles dieser Abhandlung.[1]  Es ließ sich zeigen, wie in unterschiedlichen Disziplinen und Diskursen unterschiedliche Formen von Begriffsforschung ausgeprägt wurden. Dabei trat ein Unterschied in den Vordergrund: der Unterschied zwischen der Forschung mit und an Begriffen einerseits und die Erforschung von Begriffen andererseits. In einer Reihe von Disziplinen spielt Begriffsforschung eine ähnliche Rolle wie in den klassischen Ansätzen der philosophischen Dialektik, Analyse und Kritik: die Rolle einer Selbstverständigung des Denkens über die Begriffe, in denen es sich vollzieht. Zu diesen Diskursen und Disziplinen gehören, neben vielen Ansätzen der Philosophie, wissenschaftliche Reflexionen im Feld der psychoanalytischen Conceptual Research ebenso wie systematische Übersetzungs- und Anwendbarkeitsreflexionen über Konzepte in den Philologien und ethnologischen Wissenschaften.

Auf der anderen Seite stehen Typen von Begriffsforschung, die Begriffe gegenständlich fassen und ihr historisches und empirisches Auftreten, etwa in Textkorpora oder in psychologischen Experimenten untersuchen. Begriffe sind hier Gegenstände der Forschung wie andere wissenschaftliche Phänomene auch.

Diese beiden Perspektivierungen der Begriffsforschung scheinen durch eine Vielzahl von Differenzen in grundsätzlichen Voraussetzungen voneinander getrennt zu sein, so dass auf den ersten Blick weder eine Konvergenz noch Komplementaritäten erkennbar scheinen. Dabei ist sowohl die Einsicht, dass jegliche Forschung der begrifflichen Selbstbefragung bedarf, als auch die, dass Begriffliches empirisch vielfältig auftritt, von eigenem Wert. Sollen somit Begriffsprobleme der Forschung – der Erste Teil führt Beispiele aus der Politischen Philosophie und Geschichte (‚Staat‘), der Molekularbiologie (‚Gen-Diskurs‘), der Anthropologie (‚Subjekt‘) und der Physik (‚Kraft‘) an – profund behandelt werden, dann bedarf es einer breit angelegten Arbeit an den unterschiedlichen Aspekten der verhandelten und der verhandelnden Begrifflichkeit.

Doch wie lässt sich dieses Integral finden und wie ist die Arbeit in ihm und mit ihm zu konzeptualisieren? Im Ersten Teilwurde ein Ansatz der kriteriologischen und experimentellen Begriffsforschung umrissen, der, auf Überlegungen Wittgensteins und Austins basierend, ein solches Integral bereitstellen könnte. Im Zweiten Teil soll nun gezeigt werden, wie dieser Ansatz die Aspekte der empirischen und der selbstreflexiven Begriffsforschung integriert. Es soll damit zugleich eine Form der Begriffsforschung vorgestellt werden, die zum integralen Bestandteil jeglicher Sachforschung taugt.[2]

 

I. Begriffsforschung in einer Perspektive der Praxis – kriteriologisches Handeln als Forschen

Im Ersten Teil wurde rekonstruiert, wie sich die neuzeitliche Philosophie von der klassischen philosophischen Begriffsforschung abkoppelte und Probleme des Begrifflichen fast ausschließlich als Probleme einer formalen Semantik konfigurierte. Eine alternative, allerdings in der Philosophie nahezu verdrängte Traditionslinie geht von methodischen Ansätzen der Spätphilosophie Wittgensteins und von pragmatischen Wendungen in John Austins ‚linguistischer Phänomenologie‘ aus und stellt das Feld für eine praxeologische Auffassung von Begriff und Begriffsforschung bereit. In diesem Feld lässt sich eine interdisziplinär anschlussfähige und für die Begriffsarbeit jeglicher Forschung taugliche Methodik konturieren.

Aus der Perspektive der Praxis, wie sie hier entwickelt werden soll, lässt sich klar benennen, was Begriffe ausmacht. Begriffe treten in dieser Sicht als konstitutive Elemente eines bestimmten Handlungskomplexes, nämlich eines Komplexes von Fragehandlungen auf.

Die einfachste dieser Handlungen ist zu fragen, ‚ob ein gegebenes Phänomen ein X ist‘. Ist es möglich, so zu fragen, dann lässt sich X als Begriff verstehen. Abgrenzen lassen sich Begriffe so zunächst von Eigennamen und von all solchem, was praktisch analog zu Eigennamen behandelt wird. ‚Ist P ein Reich?‘ zeigt ‚Reich‘ als Begriff. Dagegen erweist die Satzgestalt *‚Ist P ein ‚Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation?‘‘ dadurch, wie in ihr jegliche Denkhandlung blockiert ist, dass hier ein Eigenname an Stelle eines Begriffs gesetzt wurde.

Diese Weise, auf Begriffe zu schauen, ist nicht etabliert. Die moderne Logik stellte sich zunächst die Aufgabe, zu einem neuen Verständnis der elementaren logischen Operation als Zuordnung von Gegenständen zu Prädikaten zu kommen. Die als Begriffe verstandenen Prädikate konnten entsprechend – wie im Ersten Teil dargestellt – als Form des Denkens oder als ontologische Form ausgelegt werden. Sie als Form der Sprachpraxis aufzufassen, war die entscheidende Wendung in Wittgensteins Spätphilosophie. Ziel der Darstellung war in diesem Kontext aber in erster Linie das Argument, dass die Sprache weit mehr ist als Sortierhandlungen, in denen Gegenstände gleichsam in Begriffstöpfen untergebracht werden; weit mehr als das „Sprachspiel des Sortierens“, das in seiner Übergeneralisierung treffend als „Aschenputtel-Paradigma“ kritisiert wurde.[3]

Das Begriffsverständnis, das im Folgenden konturiert werden soll, geht allerdings über diese Kritik an der simplifizierenden Formalisierung der Sprache und ihrer Funktionen hinaus: es wird auf ein Verständnis des Begrifflichen abgezielt, das es insgesamt aus dem Paradigma der Aussagenlogik heraushebt. Denn auch im Paradigma der Sortierhandlung, mit der das Begriffliche ja auch in der Kritik identifiziert bleibt, scheint das Begriffliche ja eine unproblematisch gegebene Weltordnung vorauszusetzen, von ontologischer Gewissheit zu zehren. Doch ist es sinnvoll, die Frage nach dem Begriff aus der Perspektive gegebener Ordnung zu stellen? Sollte der Ausgangspunkt nicht vielmehr da verortet werden, wo das Begriffliche phänomenal wird, also: wo Unsicherheit besteht, wo etwas fremd erscheint, Missverständnisse sich einstellen, Sichtweisen erkennbar ideologisch manipuliert und verstellt werden, wo sich Fragen stellen, wo etwas gelernt, neu verstanden, kurzum: wo geforscht wird?

Es scheint mir sinnvoller, Begriffe in ihrem Potenzial, Welt zu erschließen, zu betrachten denn in ihrer Funktion, Welt gleichsam nur aufzuräumen. Letzteres kann eine Folge von ersterem sein – aber nur eine mögliche Folge.

Diese praxeologische Weise, auf Begriffe zu schauen, gibt Begriffen einen Status, der sie eng mit dem Heuristischen: mit Untersuchung, Forschung und Erfahrungsbildung verknüpft. Begriffe repräsentieren hier nicht eine vorgegebene Ordnung, bilden nicht Ontologie, sondern sind Elemente eines ergebnisoffenen Prozesses des Begreifens: Ob P ein X ist? Was spricht dafür, was dagegen? Welche Merkmale finden sich? Sind sie relevant? Bieten sie eine deutliche Abgrenzung zu verwandten Phänomenen? Sind die angenommenen Kriterien brauchbar? Eine Reihe weiterer Fragen knüpft sich so an die elementare Ausgangsfrage und eröffnet ein Feld der Begriffsforschung, in dem Begriffe als Gegenstände und Mittel der Forschung zugleich auftreten.

In dieser Sichtweise sind Begriffe schon deshalb keine Elemente einer Ontologie, weil mit jedem neuen Phänomen auch die Begriffe selbst in Frage stehen. Dass Begriffe Ausdrücke zeitloser Ordnungseinheiten sind, ist aus praxeologischer Sicht aber nur das eine Vorurteil, das es zu überwinden gilt. Das zweite Vorurteil resultiert aus einer Reaktion auf diese ontologische Vorstellung vom Begrifflichen. Diese Reaktion möchte das Begriffliche aus der Statik des Ontologischen lösen und gleichsam verflüssigen. Sie möchte die Wandelbarkeit und die Ambiguität des Begrifflichen aufzeigen. Begriffe sind dieser Sichtweise gemäß immer mehrdeutig.

Aus der Perspektive der Praxis ist auch diese Reaktion eine Suspension des begrifflichen Einsatzes. Denn die Fragerichtung des Begrifflichen geht auf Distinktion und Bestimmung. Ex post und von außen betrachtet erscheinen Begriffe häufig als spannungsreiche, uneindeutige Einheiten. Doch in der jeweiligen Praxis konstituieren sie sich als Begriffe überhaupt nur dadurch, dass sie als Unterscheidungswerkzeuge taugen, dass sie also etwas von etwas unterscheiden, was es nicht ist. Kein Begriff ohne Kriterium und kein Kriterium ohne Gegenfälle, ohne Fälle, deren „Erscheinungen“ – wie Wittgenstein es pointiert – „zu einem andern Vorbild hin gravitieren“.[4]

 

[1] Archiv für Begriffsgeschichte 63/1 (2021) 105-134.

[2]          Vgl. dazu: Werner Kogge: Experimentelle Begriffsforschung. Philosophische Interventionen am Beispiel von Code, Information und Skript in der Molekularbiologie. Mit einer Abhandlung zu Wissenschaftstheorie nach Wittgenstein (Weilerswist 2017) Einleitung.

[3]          Hans-Julius Schneider: Phantasie und Kalkül. Über die Polarität von Handlung und Struktur in der Sprache. (Frankfurt a. M. 1999) 468. Ders.: Was heißt: Reden von etwas? In: Implizite Axiome. Tiefenstrukturen des Denkens und Handelns. Hg. von Wolfgang Huber, Ernst Petzold u. Theo Sundermeier (München 1990) 140‒150.

[4]          Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. § 385 (Auszug). In: Werkausgabe Bd. 1 (Frankfurt a. M. 1982) 401.

Keywords

 

Begriffsforschung, Begriffsanalyse, Begriffskritik, Begriffsgeschichte, Historische Semantik, Conceptual Research, Conceptual Ethics, Experimentelle Begriffsforschung, Definitionen, Interdisziplinarität, Wissenschaft, Wittgenstein, Austin