Begriffsforschung im interdisziplinären Kontext

Neuansätze einer Methode

Erster Teil

Archiv für Begriffsgeschichte, April 2021, Heft 1, S. 105-134.

Abstract

Begriffsforschung ist in zweierlei Hinsicht interdisziplinär: Zum einen haben unterschiedliche Disziplinen Ansätze der Begriffsforschung entwickelt. Diese reichen von der philosophischen Begriffsanalyse, philosophiehistorischer, geschichtswissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Begriffsgeschichte, begriffsbezogener Semantik in den Sprachwissenschaften, Conceptual Research in der Psychoanalyse bis hin zu methodischen Reflexionen sprachspezifischer Begrifflichkeiten in den Philologien.

Zum anderen spielen Begriffe eine zentrale Rolle für die Kooperation in interdisziplinären Forschungsverbünden. Bleiben sie unvermittelt, stellen unterschiedliche Begriffsverständnisse ein gravierendes Hindernis für die Zusammenarbeit dar; interdisziplinär reflektierte Begriffe bilden demgegenüber die Basis und das Medium gelingender Kooperation.

Der Text gibt einen Überblick über verschiedene Formen von Begriffsforschung und stellt den Ansatz einer Experimentellen Begriffsforschung als einer Technik der Begriffsreflexion vor, die verschiedene disziplinäre Ansätze vereinigt, indem sie auf eine Untersuchung der Kriterien zurückgeht, die in der Begriffsbildungs- und Begriffsverwendungspraxis wirksam werden.  Als kriteriologische Untersuchung setzt dieser Ansatz auf der Ebene der Konzeptualisierung von Phänomenen im Forschungsgeschehen an und kann dadurch die vorgängige Fixierung von Begriffsverständnissen unterlaufen. Die Aufdeckung phänomenaler Unterscheidungsmerkmale kann somit den Weg zu sachbezogener interdisziplinärer Kooperation frei machen.

„Man kann uns den Vorwurf des Nominalismus machen, wenn wir uns nicht bewußt sind, daß die Grenze, die eine Definition zieht, um der Wichtigkeit dieser Grenze willen gezogen ist. Und Sätze, die diese Wichtigkeit erklären, sind nun nicht solche über die Sprache.“

 Wittgenstein, Nachlaß MS 129, 193

Leseprobe

 

Begriffe spielen verschiedene, aber in jedem Fall konstitutive Rollen in den Wissenschaften (und nicht nur dort). Gleich, ob sich eine wissenschaftliche Praxis als Beschreibung, Erklärung, Rekonstruktion, funktionale Modellierung oder Reflexion ausprägt: es sind Begriffe, in und mit denen Gegenstände konstituiert und Phänomene erfasst werden. Doch woher nehmen wir die Begriffe, die wir verwenden und wie rechtfertigen wir die jeweiligen Begriffe? Und was begründet ihre Wissenschaftlichkeit?

Die vertrauteste Antwort auf diese Frage lautet: durch Definitionen, die die Bedeutung fixieren. Im Folgenden werde ich zeigen, dass diese Antwort nicht genügt und dass sich stattdessen in verschiedenen Ansätzen der Begriffsforschung Instrumentarien finden und entwickeln lassen, die, als Bestandteile wissenschaftlicher Methodologie, in der Forschung dienlicher sind als definitorische Festlegungen.

Vier Beispiele:

Das Begriffssystem der Molekularbiologie beruht auf Konzepten wie Information, Code und Programm. Von Beginn an wird nun aber in dieser Disziplin und ihrer Reflexion diskutiert, ob solche Begriffe angemessen sind. Dabei geht es nicht nur um deren Herkunft aus dem informationstechnischen Feld, ihre Metaphorik und um mögliche Definitionen, sondern auch um den spezifischen Zuschnitt, den solche Begriffe dem Phänomenbereich geben. So wurde argumentiert, dass gerade diese Begriffe den Forschungsbereich in einer Weise konfigurieren, die ganze Phänomenbereiche ausblendet: „Der [aus informationstechnischen Begriffen gebildete][1] Gen-Diskurs hatte eine räumliche Karte, die das Zytoplasma vom wissenschaftlichen Standpunkt aus unsichtbar machte“ – schrieb Evelyn Fox Keller.[2] Einschätzungen dieser Art lassen sich nicht selten aus dem Munde fachkundiger Kommentatoren vernehmen. Doch wie lässt sich in solchen Fragen entscheiden? Auf welcher Basis können Begriffe als adäquat akzeptiert oder als ungeeignet abgelehnt werden?

Ein zweites Beispiel: Ist es legitim, den Begriff Staat auf vormoderne politische Verbünde anzuwenden? Seit langem wird in der Politischen Theorie, der Mediävistik und anderer Geschichtswissenschaften diskutiert, ob ‚Staat‘ nicht ein spezifisch modernes, westliches Phänomen bezeichne.[3] Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, was als Kriterien für ‚Staat‘ vorausgesetzt wird. Hebt man mit Max Weber auf ein territoriales Gewaltmonopol ab, so formuliert man eine sehr spezifische Bedingung für (moderne) Staatlichkeit[4]; geht man von allgemeineren Bestimmungen wie Gesetzlichkeit, Ausbildung eines Beamtentums, Bürokratie, Organisation geordneten Handels, kulturellen Lebens und militärischen Schutzes innerhalb eines Verbandes aus[5], dann folgt daraus kein Präjudiz in Bezug auf historische Epochen und kulturelle Traditionen. Gleichwohl führt auch eine solche Bestimmung nicht zu einem transhistorisch-universalistischen Staatsbegriff, der sich von einem konkret-zeitgebundenen unterscheidet[6] – auch in solchen Begriffsbestimmungen liegen Abgrenzungen z.B. zu Stammes-, Clan- oder Familiengemeinschaften.[7] Doch auch wenn man von der Unterscheidung eines inhaltsarm-universalen und eines konkret-modernen Staatsbegriffs abrückt, steht hier viel auf dem Spiel: Will man den „modernen S[taat] als S[taat] schlechthin begreifen und früheren Typen der Verbandsbildung die Qualität von S[taatlichkeit] weitgehend absprechen“[8], dann werden andere Distinktionen, die z.B. durch die Ausbildung von Ämtern als Funktionsstellen markiert sind, ausgeblendet.

Drittes Beispiel: Die Physik gilt gemeinhin als Standard einer hochentwickelten Wissenschaft. Folgt man einer klassischen logischen Sicht auf den Aufbau einer Wissenschaft, so müssten die Grundbegriffe der Physik – wie beispielsweise ‚Kraft‘ – zunächst exakt definiert sein.[9] Das ist aber nicht der Fall. Wenn es in einem klassischen Lehrbuch der Physik heißt, „Das physikalische Wesentliche der Mechanik eines Teilchens ist in Newtons zweitem Bewegungsgesetz enthalten, das gleichermaßen als grundlegendes Postulat oder als Definition von Kraft und Masse angesehen werden kann“, dann zeigt dies zweierlei: erstens, ein eigenes, den gesetzmäßigen Ausdrücken vorgängiges Definitionsgeschehen findet sich in der Physik gar nicht[10] und zweitens, Begriffsbestimmungen erfolgen durch symbolische Ausdrücke (wie F = m . a), in denen mehrere Elemente zugleich bestimmt werden, was aus wissenschaftsphilosophischer Perspektive die Frage aufwirft, „wie durch ein Bewegungsgesetz gleich zwei Begriffe definiert werden können“.[11] Wissenschaftstheoretiker haben argumentiert, dass symbolische Verallgemeinerungen in der Physik zwischen Festsetzungen (Definitionen als Tautologien/ analytischen Sätzen) und empirischen Aussagen ihre Funktion wechseln können: Was zuvor als unzeitliche Begriffsbestimmung gegolten hat, kann, durch neue empirische Einsichten, sich in eine Gesetzesaussage verwandeln, die „Stück um Stück korrigierbar“ ist.[12] Es gehört zur Dynamik von Wissenschaft, dass die Grenze zwischen definitorischen Festsetzungen und empirischen Aussagen überschritten wird; Definitionen spielen hier eine Rolle temporärer Verankerungen im Forschungsprozess, nicht die von vorauszusetzenden, notwendigen Wahrheiten.

Viertes Beispiel: Die Beobachtung, dass manche Sprachen kein ‚Ich‘ in der Bedeutung einer unverbundenen Entität kennen, sondern personale Bestimmungen stets in Relation zu anderen, also in ihrer sozialen Bezüglichkeit ausdrücken, ist mit der Einsicht verknüpft, dass der westliche Begriff eines Subjekts[13], das solitär steht und sich aus dieser Position in Relation stellt, nicht universalisierbar, jedenfalls nicht universal gegeben ist. Geschichtswissenschaftliche Studien zum Individuum im europäischen Mittelalter[14], sprachwissenschaftliche zum Gebrauch japanischer Personalpronomen[15], ethnographische zum Balinesischen ‚Selbst‘[16] (u.v.m.) haben gezeigt, dass die Vorannahme eines Subjekts nach modernem, westlichem Zuschnitt ein parochiales Vorurteil ist, das sich in der wissenschaftlichen Praxis als Projektion eigener sozialer Muster auf andere Gesellschaften auswirkt. Insbesondere die Ethnologie und die Cultural Anthropologyhaben intensive Debatten darüber entwickelt, auf welchen Wegen Anderes und Fremdes dargestellt werden kann, ohne es stets nur in unangemessene Kategorien zu fügen.[17] Definitionen, die aus der eigenen Begriffs- und Wissenschaftsgeschichte resultieren, werfen die Frage auf, wie sie auf die Phänomene anderer Kulturen hin geöffnet werden können und müssen.

In allen vier Fällen stellt sich das Problem so: Was tun wir, wenn wir einen Begriff in einem Phänomenbereich einsetzen und wenn wir ihn definieren? Stellen wir Verbindungen her, wo in Wirklichkeit Unterschiede überwiegen? Oder grenzen wir Elemente aus, die maßgeblich zur Konstitution der untersuchten Phänomene beitragen? Wie weit ermöglichen, wie weit hindern definitorische Festlegungen daran, das empirische Material wahrzunehmen? Wann müssen Begriffsbestimmungen erneuert, Konzepte reformiert werden?

Solche Probleme verschärfen sich noch, wenn in interdisziplinärer Kooperation unterschiedliche Begriffsverständnisse im Spiel sind. Wo eine klare Kompetenzzuteilung nicht mehr möglich ist, da zwar aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven, aber doch zu gemeinsamen Themen geforscht werden soll, führen solche Fragen leicht zu unterschiedlichen Positionen, Streit und Lagerbildung. Was dann benötigt wird, ist eine Form der Begriffskritik, die Gründe für oder gegen einen jeweiligen Begriffszuschnitt bereitstellt. Doch wie eine solche Begriffskritik aussehen kann und wie sie arbeitet, ist alles andere als klar. Dass formelhafte Definitionen auch dieses Problem nicht lösen können, erhellt schon daraus, dass jede weitere Definitionsformel wiederum Widerspruch und Gegenvorschläge auf den Plan rufen kann und sich aufs Neue die Aufgabe der Beurteilung und Entscheidung stellt. Ich werde im Folgenden zeigen, wie stattdessen verschiedene Ansätze der Begriffsforschung zu einer Praxis der kritischen Begriffsbestimmung und Beurteilung von definitorischen Festsetzungen beitragen können.

[1]Ergänzung durch Werner Kogge.

[2]Evelyn F. Keller: Das Leben neu Denken. Metaphern der Biologie im 20. Jahrhundert. (München 1998) 43.

[3]Vgl. zu dieser Debatte: Susan Reynolds: The Historiography of the Medieval State. In: Companion to Historiography, ed. by Michael Bentley (London/New York 1997), 117-138.; Rees Davis: The Medieval State: The Tyranny of a Concept? In: Journal of Historical Sociology, 2 (2003), 280-300.; Susan Reynolds: There were States in Medieval Europe. A Response to Rees Davies. In: Journal of Historical Sociology, 4 (2003), 550-555.

[4]„Staat ist diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes – dies: das „Gebiet“, gehört zum Merkmal – das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht.“ (wobei Weber die historische Spezifität selbst benennt: „Gerade heute ist die Beziehung des Staates zur Gewaltsamkeit besonders intim.“) Max Weber: Politik als Beruf (1919) (Berlin 2010) 8.

[5]„Der Staat, Fr. Etat; Engl. State; Ital. Stato, ist eine unter sich zu gemeinsamen Zwecken verbundene Gesellschaft von geringerem oder größerem Umfange, deren Grundsatz Ordnung (Gesetzlichkeit), Sittlichkeit und gegenseitige Beschützung ist, worauf denn die übrigen gesellschaftlichen Zwecke gebauet worden, von welchen der Verkehr (Gewerbe und Handel) oben anstehen, woraus der gemeinschaftliche Nutzen fließt.“ Eintrag ‚Staat’ in: Johann Georg Krünitz: Oeconomische Encyclopädie oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- u. Landwirthschaft. Bd. 1-242 (Berlin 1773-1858). Online unter: http://www.kruenitz1.uni-trier.de. Zuletzt geprüft: 03.09.2019.

[6]Vgl. Eintrag ‚Staat‘. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter Bd. 10, Basel 1998, 1-29, insbes. 2-4; Und: Eintrag ‚Staat‘. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5 (München 1995) 2151-2158, hier S. 2152.

[7]Im Sinne von Staatenbildung grenzt auch Krünitz das Phänomen historisch ab: „Die Sicherheit der Personen und des Eigenthums, war der erste Gegensatz in dem Zusammenleben befreundeter Familien, und mit diesem erhob sich der Staat aus dem Nomadenleben.“ Eintrag ‚Staat’. In: J. G. Krünitz: Oeconomische Encyclopädie, [Anm. 5] 1-242.

[8]Lexikon des Mittelalters [Anm. 6] 2153.

[9]Besonders prägnant hat – im Anschluss an Descartes – Thomas Hobbes ein solches Wissenschaftsbild ausformuliert. Vgl. Thomas Hobbes: Leviathan (Frankfurt a.M. 1994) 38.

[10]So ist es kein Zufall, dass man einen Eintrag zu ‚Definition‘ in Fachbüchern zur Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften häufig vergeblich sucht. Vgl. z.B. Wissenschaftstheorie. Ein Studienbuch, hg. von Andreas Bartels/Manfred Stöckler (Paderborn 2007).

[11]Holm Tetens: Der Status des Massen- und Kraftbegriffs in einer technikorientierten Interpretation der klassischen Mechanik. In: Aspekte der physikalischen Begriffsbildung. Theoretische Begriffe und operationale Definitionen, hrsg. v. Wolfgang Balzer/Andreas Kamlah (Braunschweig 1979), 239-255, hier S. 239.

[12]Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (Frankfurt a.M. 1988) 195; Vgl. dazu auch: Georg H. von Wright: ‚Laws of Nature‘. In: Truth, Knowledge and Modality, Philosophical Papers (1984), 135-149.

[13]Vgl. Tod des Subjekts? Hg von Herta Nagl-Docekal/Helmuth Vetter (Wien/München 1987).

[14]Vgl. Aaron Gurjewitsch: Das Individuum im europäischen Mittelalter (München 1994).

[15]Kimura Bin: Zwischen Mensch und Mensch. Strukturen japanischer Subjektivität“. (Darmstadt 1995), bes. 94-106.

[16]Mark Hobart: “Who Do You Think You Are? The Authorized Balinese”. In: Localizing Strategies. Regional Traditions of Ethnographic Writing, ed. by Richard Fardon (Edinburgh 1990) u.a. 303-338.

[17]Vgl. dazu Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, hg. von Eberhard Berg/Martin Fuchs (Frankfurt a.M. 1993). Und: Werner Kogge: Die Grenzen des Verstehens (Weilerswist 2002) insbes. 136-155; Vgl. auch: Birgit Griesecke: Japan dicht Beschreiben. Produktive Fiktionalität in der ethnographischen Forschung (München 2001).

Keywords

 

Begriffsforschung, Begriffsanalyse, Begriffskritik, Begriffsgeschichte, Historische Semantik, Conceptual Research, Conceptual Ethics, Experimentelle Begriffsforschung, Definitionen, Interdisziplinarität, Wissenschaft, Wittgenstein, Austin