Verkörperung – Embodiment – Körperwissen

Eine historisch-systematische Kartierung

In: Almut Renger und Christoph Wulf: Körperwissen: Transfer und Innovation, Paragrana: Internationale Zeitschrift Historische Anthropologie, Band 25, 2016, Heft 1, S. 33-48.

Abstract

Das Konzept eines körperlichen Wissens gewinnt in einer Reihe von Diskursen zunehmend an Bedeutung: Wissenschafts-, Kultur- und Kunsttheorie, Sprach-, Medien- und Technikphilosophie, Ethnologie, Soziologie, Psychologie, Geschichtswissenschaften, Archäologie und Museumskunde – in ganz unterschiedlichen Bereichen spielen Begriffe wie tacit knowledge, implizites, verkörpertes und inkorporiertes Wissen, materiale Praxis, und Performativität, Leiblichkeit und Materialität (material turn), situatedness, embodiment und embeddedness eine tragende Rolle.

Der Text gibt eine historisch-systematische Kartierung von Diskursen und Denkfiguren, die –  von der griechischen Antike bis ins 20. Jahrhundert – das gegenwärtige Diskursfeld geprägt haben.

Allenthalben ist von einem material turn der Geistes- und Kulturwissenschaften die Rede. Wissenschafts-, Kultur- und Kunsttheorie, Sprach-, Medien- und Technikphilosophie, Phänomenologie und Poststrukturalismus, Ethnologie, Soziologie, Archäologie und Museumskunde – sie alle greifen das Konzept eines körperlichen Wissens auf. Doch tun sie dies auf gleiche Weise? Worin unterscheiden sich die jeweiligen Fragen, Motive und Projekte? Was sind ihre Hintergründe und wie verhalten sie sich zueinander?

Leseprobe

Gegenwärtige Tendenzen

Blickt man nun auf gegenwärtige Tendenzen und Diskussionspunkte im Themenfeld Körperwissen, dann lässt sich ein zentraler Punkt in dem Bestreben erkennen, die Denkfigur der Materialisierung und Verkörperung zu dynamisieren und an eine Ausweitung der Handlungsperspektive und eine Vervielfältigung der Agentenschaft zu koppeln – wobei der Begriff des Performativen (to perform: ausführen; durchführen; aufführen) eine entscheidende Rolle spielt. So beschreibt etwa Andrew Pickering in The Mangle of Practice seine Sicht auf Wissenschaft folgendermaßen:

„My basic image of science is a performative one, in which the performances, – the doings – of human and material agency come to the fore. Scientists are human agents in a field of material agency which they struggle to capture in machines. Further, human and material agency are reciprocally and emergently intertwined in this struggle.“ (Pickering 1995, S. 21)

Es ist eine spannungsreiche Dynamik, in der forscherisches Handeln materiale Dynamiken in Systemen zu fassen sucht, und zwar in einer Form der Auseinandersetzung, die zugleich eine Verwebung der epistemischen mit der materialen Aktivität bedeutet. Unschwer ist dies sowohl als Variation auf die antike Verkörperungsthematik als auch als Modulation der Marxschen Denkfigur zu erkennen; neu ist, dass Materialität und Handlungspotential sowohl dem (nach klassischer Auffassung) Subjekt als auch dem Objekt des Erkenntnisprozesses zugeschrieben wird.

Eine Symmetrisierung ist nicht nur titelgebend für ein hier ebenfalls einschlägiges Buch von Bruno Latour (2008), sondern für eine Reihe von Ansätzen, die aus der reduktiven cartesianischen Ontologie, welche dem menschlichen Geist eine Körperwelt gegenüberstellt, die nur als räumliche Gegebenheiten ohne jede Eigendynamik und Eigengesetzlichkeit konzipiert ist. Die Annahme, dass „Natur eine wie auch immer geartete Eigensinnigkeit aufweist“ drückt sich beispielsweise so aus:

„Donna Haraway fasst Natur als Trickster, als eigenwilligen, unberechenbaren, und sich permanent wandelnden Agenten, der jenseits von Gut und Böse situiert, aber alles andere als passiv ist.“ (Weber 2003, S. 240).

Welche Bedeutung eine solche Sichtweise für unseren Blick auf das Verhältnis von Technik und (menschlichem) Körper hat, formuliert Jutta Weber so aus:

„Eine solche […] Auseinandersetzung mit den Technowissenschaften bewahrt auch davor, den rhetorischen Praktiken der Technowissenschaften selbst, etwa ihrem Mythos der Entmaterialisierung, allzu leicht aufzusitzen und informationstheoretisch bestimmte Körper für bare Münze zu nehmen.“ (Weber 2003, S. 241).

Hatten die 1970er bis 1990er Jahre unter dem Eindruck der technischen Informatisierung, Virtualisierung und Beschleunigung von Datenströmen eine Verflüssigung und Auflösung materialer Substanz und Körperlichkeit in stets reprogrammierbaren Daten- und Textstrukturen postuliert und dabei Kultur, Körper, Geschlecht, Technik, Natur als textuelles Konstrukt entlarvt, so ist nun die Tendenz zu beobachten, das Eigensinnige und sich textuellen Strategien entziehende im Materialen wiederzuentdecken.

Für die Wissenschaften, in denen eine atheoretische und naiv-positivistische Auffassung vorherrschte bis mit konstruktivistischen Theorieansätzen sowohl Gegenstandskonstitution als auch Forschungsstrategien kritisch befragt werden konnten, scheint diese Rückwendung auf das Materiale fast zu schnell zu erfolgen. Diese Skepsis reflektierend schreibt die Archäologin Kerstin P. Hofmann:

 „Zentral für den material turn ist Materialität und Wahrnehmung. Es besteht also die Gefahr, dass durch Rückbezug auf alte phänomenologische und empiristische sowie essentialistische Ansätze einem neuen Positivismus der Weg geebnet wird … Dies kann nur vermieden werden, wenn ‚die Erkenntnisgewinne von Semiotik, Medientheorie, Gendertheorie sowie Diskursanalyse nicht mit dem Gestus eines naiven material turn‚ […] entsorgt werden und insbesondere konstruktivistische und handlungstheoretische Ansätze und deren Einsichten Berücksichtigung finden.“ (Hofmann, im Erscheinen).

Der konstruktivistische und handlungstheoretische Reflexionsgewinn lässt sich in der neuen Verflechtung von Wissen und Geist mit Materie und Körper dann bewahren, wenn die Vollzüge materialen Handelns als formative Prozesse gedacht werden, die von keiner gegebenen Struktur aus vorbestimmt sind – was Sybille Krämer so ausdrückt:

„In der Perspektive des Verkörperungskonzeptes kommen die vorsymbolischen, nicht-diskursiven, nicht-intentionalen Bedingungen symbolischer Repräsentation in den Blick. In der Perspektive der Performativität geht es um das Wechselverhältnis zwischen allgemeinen Strukturen und ihren partikularen Realisierungen, insofern Strukturen nicht nur angewendet und ‚wiederholt‘, vielmehr im Vollzug verändert, unterminiert oder überhaupt erst geschaffen werden.“ (Krämer 2000, S. 189)

 

Abschließend möchte ich den Blick noch auf das Verhältnis der Begriffe Inkorporierung, Embodiment, Verkörperung, Körperwissen und implizites Wissen lenken:

Inkorporierung und Embodiment setzen einen Körper voraus, der schon da ist und durch eine ihm äußere, selbst strukturierte Gegebenheit geprägt wird – Macht, Gesellschaft, Sprache, Wirklichkeit prägen dem plastisch formbaren Körper ihre Form ein, sei es durch Übung und Disziplinierung oder auch durch material vermittelte Praxisschemata und Wahrnehmungsweisen.

Der Begriff der Verkörperung bezeichnet dagegen den Vorgang, in dem ein Geistiges sich mit Stofflich-Körperlichem verbindet, es durchdringt und daraus allererst einen geformten Körper generiert, sei es in der Bildung, sei es in der Herstellung von Artefakten.

Mit dem Begriff Körperwissen kann, entsprechend, der Akzent gesetzt sein auf in den Körper eingeschriebenes, eingeformtes Wissen – implizites Wissen ist ein Term, der diesen Aspekt prägnant zum Ausdruck bringt; oder aber der Akzent ist gesetzt auf Wissen, das in der Lebensäußerung des Geistes (Dilthey) zum Ausdruck kommt, in seinem knowing how, in seiner sich materialisierenden Könnerschaft.

Beide Aspekte ließen sich durchaus verbinden, wenngleich das Zusammenspiel der kritischen und der kulturkonstitutiven Perspektiven sich nicht auf das von Aktivität und Passivität herunterbrechen lässt. Denn, wie wir sehen konnten, sind jeweils Geistiges und Materielles, Handeln und Erfahren, Konstituierendes und Konstituiertes, Produktion und Produkt, Seelisches und Maschinelles, Individuum und Gesellschaft, Seelisches und Körperliches und vieles mehr im Spiel, wenn es um Embodiment, Verkörperung und Körperwissen geht.

 

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