Erschriebene Denkräume

Grammatologie in der Perspektive einer Philosophie der Praxis

In: Gernot Grube, Werner Kogge, Sybille Krämer (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine Fink Verlag, München 2005, S. 137-169.

Abstract

In diesem Text zeige ich, , dass die Eigentüm­lichkeit und der mediale Eigensinn von Schrift dann zum Vorschein kommen, wenn man sie als spezifische Praxis betrachtet. Das heißt auch, dass ich vor­schlage, Der­ridas Grundintuition, Bedeutung als Effekt eines materialen Spiels zu denken, um die vielleicht kleine, aber entscheidende Wendung auf den Ge­danken hin zu überschreiten, dass die Verwobenheit des Handelns in einem Material nie aufgeht, dass sie spannungsreich bleibt, dass sie einen Raum bildet, der un­gesättigt ist und gerade dadurch produktiv werden kann. Es geht mir also darum, den Raum der Kulturtechnik als einen Spannungsraum zu be­schreiben, in dem so grundsätzliche Erfahrungen wie das Ringen um Formu­lierungen, das überraschende Sehen von Zusammenhängen, das Umformen nach einer Ahnung, das Scheitern einer Komposition und viele mehr, die alles andere als maschinenhaft und logisch eindeutig verlaufen, ihren Ort haben.

Darstellungen aus dem Text

Leseprobe

In dem Augenblick, in dem Schrift zu einem eigenständigen philosophischen Thema wurde, war sie aus dieser Reflexion auch schon wieder verschwunden. Denn als Derrida, einen Gedanken Husserls aufgreifend, Mitte der 60er Jahre begann, Sprache, Philosophie und die abendländische Geschichte von der Schrift her zu denken, wurden zwar für einen Augenblick Strukturbegriffe wie Ver­räumlichung, Loslösung und Spur wirksam – kritisch merkt Derrida noch ge­genüber Condillac an, dass Schrift gemäß einer Konzeption, die sie als eine bloße Übermittlungstechnik von Sprache auffasst „niemals auch nur im min­des­ten auf die Struktur und den Inhalt des Sinns (der Ideen) … einwirken“ könnte[1] –, doch treten dann für Derrida selbst solche Strukturbestimmungen von Schrift, die ihre eigenständige Materialität und Wirksamkeit betreffen, hinter einer zentralen These zurück: der These, dass das Zeichen nur durch die Dif­ferenz zu anderen Zeichen konstituiert werde und keinerlei unabhängige Sub­stanz besitze. Dieses von Saussure entlehnte Postulat steht nun aber schon des­halb einer Thematisierung der Eigentümlichkeiten von Schrift entgegen, weil es für alle Symbolsysteme Gültigkeit beansprucht. Des weiteren lenkt Der­ridas Philosophie den Blick von der Schrift über die Schrift hinaus, da sie unter dem Titel der Schrift einen metaphysikkritischen Diskurs eröffnete, der Sub­stanz und Präsenz durch den Rekurs auf Prozessualität und Differentialität zu unterlaufen suchte. Damit waren die Weichen bereits so gestellt, dass Schrift mit der Bewegung eines, sich selbst entziehenden, konstituierenden Spiels oder generativen Mechanismus gleichgesetzt wurde. Schrift wurde zu einer ‚Maschine‘, die in einer Bewegung von Wiederholung und Ersetzung Differenzen prozessiert. „Schreiben heißt, ein Zeichen (marque) produzieren, das eine Art ihrerseits nun produzierende Maschine konstituiert, die durch mein zukünftiges Verschwinden prinzipiell nicht daran gehindert wird, zu funktionieren und sich lesen und nachschreiben zu lassen.“[2] Mit diesem Aus­gangspunkt lag es nur zu nahe, das Maschinenhafte der Schrift mit der Schrift­förmigkeit bestimmter maschineller Prozesse zu identifizieren, eine Möglich­keit, die die Theoretiker der neuen Medien bald aufgriffen, um den Schreibakt der Maschine zu überantworten. So fordert etwa Vilém Flusser „das Schrei­ben, dieses Ordnen von Zeichen, Maschinen [zu] überlassen“[3] – die dies ohne­hin besser leisteten als wir – und Friedrich Kittler meint: „Heute … läuft men­schli­ches Schreiben durch Inschriften, die nicht nur mittels Elektonen­litho­graphie in Silizium eingebrannt, sondern im Unterschied zu allen Schreib­werk­zeugen der Geschichte auch imstande sind, selber zu lesen und zu schrei­ben.“ Daher sei „mit der Miniaturisierung aller Zeichen auf molekulare Maße […] der Schreibakt selbst verschwunden.“[4]

So zeichnen sich, seitdem Derrida Schrift in den Momenten Differentialität und Wiederholbarkeit kondensieren ließ, immer deutlicher Züge einer zuvor kaum geahnten Verwandtschaft zwischen Schrift und Maschine ab. Und na­türlich geht es dabei nicht um irgendwelche Apparate, sondern um die digita­len, Differenzen prozessierenden Maschinen, die Bilder, Texte und Zahlen­kolonnen in die gleichförmigen Abfolgen und Wiederholungen von Elektro­nenzuständen überführen. Doch während analoge Symbolformen wie Bild und Laut im Computer einer Digitalisierung unterworfen werden, erweist sich Schrift als digitales Notationssystem sui generis, so dass die Vorgeschichte des Computers als Papiermachine oder symbolische Maschine rekonstruiert wer­­den kann.[5] Im Computer wäre demnach die Schrift gleichsam zu sich selbst gekommen. Das – wie Manfred Geier mit philosophischem Bedauern fest­stellt – „‚Spiel der Schrift‘, das im Phaidros(276e) als Kinderei der reifen Besonnenheit der erfüllten gesprochenen Rede gegenübergestellt wurde, hat sich kulturgeschichtlich vollendet. Es vollzieht sich kombinatorisch in den Gren­zen der generativen Grammatiken, programmierbaren ‚scripts‘ und sym­bo­lischen Formalismen, die modellartig determinieren, was als Sprache gelten kann.“[6]

Diese kulturgeschichtliche Einschätzung wird theoretisch flankiert durch die Präzisierung, die der Begriff des Notationssystems in der Philosophie Nel­son Goodmans erhalten hat.[7] Im Anschluss an diese Konzeption zeichnet sich in der jüngeren Schriftreflexion eine Tendenz ab, die Universalisierung der Schrift bei Derrida in der Weise zurückzunehmen, dass Graphismen nur wenn sie digital aufgebaut sind und sich nach rein syntaktischen Regeln transformie­ren lassen, als Schrift bestimmt werden. Mit Goodmans symboltheoretischer De­finition von Notationssystemen rücken Schriften in die Klasse der symboli­schen Ordnungen, in denen alle digitalen Systeme unabhängig von ihrer Er­scheinungsweise versammelt sind. ‚Schrift‘ wird synonym mit der Kategorie der digitalen Operativität.[8]

 

Im Folgenden werde ich nun zeigen, dass diese Bewegung, bei der Schrift im Digital-Maschinenhaften aufgeht, Schrift zwar in einem ihrer Aspekte trifft, aber eben nur in einem ihrer Aspekte. Um Schrift umfassender zur Gel­tung zu bringen, plädiere ich dafür, sie als eigenständige Kulturtechnik mög­lichst ge­nau zu beschreiben. Dabei gehe ich davon aus, dass die Eigentüm­lichkeit und der mediale Eigensinn von Schrift dann zum Vorschein kommen, wenn man sie als spezifische Praxis betrachtet. Das heißt auch, dass ich vor­schlage, Der­ridas Grundintuition, Bedeutung als Effekt eines materialen Spiels zu denken, um die vielleicht kleine, aber entscheidende Wendung auf den Ge­danken hin zu überschreiten, dass die Verwobenheit des Handelns in einem Material nie aufgeht, dass sie spannungsreich bleibt, dass sie einen ‚Raum‘ bildet, der un­gesättigt ist und gerade dadurch produktiv werden kann. Es geht mir also darum, den Raum der Kulturtechnik als einen Spannungsraum zu be­schreiben, in dem so grundsätzliche Erfahrungen wie das Ringen um Formu­lierungen, das überraschende Sehen von Zusammenhängen, das Umformen nach einer Ahnung, das Scheitern einer Komposition und viele mehr, die alles andere als maschinenhaft und logisch eindeutig verlaufen, ihren Ort haben.

  1. Die Ausblendung von Akt und Materialität bei Derrida

Es ist erstaunlich, dass in der Entwicklung und Folge einer Philosophie, die ihren Einsatz im Begriff der Schrift findet, Merkmale und Eigentümlichkeiten von Schrift als Medium oder Phänomen eine verschwindende Rolle spielen. Fast scheint es als wäre der begriffliche Zugang schließlich zufällig. Wenn, was für Schrift gilt, ebenso in der „gesprochenen Sprache und letztlich in der Totalität der ‚Erfahrung‘“[9] wieder zu finden ist, so lässt die Frage, welches Mo­tiv den Einsatz des Schriftbegriffes leitet, vielleicht nur noch die Antwort zu: Am vertrauten Phänomen Schrift ist offensichtlicher, leichter aufweisbar, was dem Zeichenhaften überhaupt eigentümlich ist; Begriffe wie Wiederhol­bar­keit, Dekontextualisierbarkeit und differentielle Verwiesenheit sind keine Merk­­male der Erscheinungsweisen von Schriftlichem, sondern bestimmen jeg­­lichen Zeichenprozess.

Derridas Denkbewegung ist also nicht auf Schrift als ein Medium oder Phä­nomen hin gerichtet, sie benutzt phänomenale Aspekte von Schrift viel­mehr, um eine differentielle Bewegung freizulegen, die jeder Erscheinung noch zu­grunde liegt und sie konstituiert. ‚Urschrift‘, ‚Spur‘ und ‚différance‘ sind die Kon­zepte, die in wechselnder Besetzung ein Spiel von Differenzen, den Ort eines ‚immer schon‘ jeder Erscheinung, jedem Text, jeder Erfahrung Voraus­liegenden bezeichnen. Genauer gesagt, bezeichnen und negieren solche Be­griffe diesen Ort zugleich, denn keiner dieser Begriffe verweist auf ein irgend positiv Gegebenes. So gelingt es Derrida in einer Strategie von Erset­zung und Entzug, die Fundierungsbemühungen der Metaphysik zunächst in die Diffe­rentialität, Exteriorität, Wiederhol- und Ersetzbarkeit von Schriftli­chem zu überführen, um sodann zu zeigen, dass diese Kategorien jeden Halt, jede Zen­trierung, jede Stabilität unterlaufen. Der Ausgangspunkt dieser Trans­zendie­rung liegt dabei durchaus in einem phänomenalen Zusammen­hang, der auch empirischen Untersuchungen zugänglich ist (und es wäre eine eigene Be­trach­tung erforderlich, um aufzuweisen, wie die Plausibilität der Derrida­schen De­kon­struktion sich auf eine Erscheinung stützt, die sie als sol­che ver­leugnet): Dieser Zusammenhang, auf den Derrida in seiner Argumen­tation stets rekur­riert, ist in Saussures Beobachtung ausgedrückt, dass es in der Spra­che (langue) keine positiven Einzelglieder gibt, sondern immer nur Be­ziehun­gen und Differenzen mit anderen Elementen. Wie Saussure – bezeich­nender­weise am Beispiel der Schrift – erklärt, gibt es (1.) keine innere Bezie­hung zwischen Zeichen und Bezeichnetem (Arbitrarität), (2.) ist der Wert eines Zei­chens ne­gativ und durch Differenz zu anderen Zeichen bestimmt und (3.) spielen für den Wert eines sprachlichen Zeichens die materialen Eigen­schaften des Zei­chens (Farbe, Laut etc.) keine Rolle: der Wert eines Zeichens bestimmt sich nur aus seiner Stellung in einem differentiellen System.[10]

Derrida übernimmt dieses Theorem von der Differentialität der Sprache und radikalisiert es unter dem Titel ‚Schrift‘. Sein Argumentationsgang lässt sich so beschreiben: Wenn ein System notwendig durch Differenzen gebildet wird, während die phänomenalen Einzelglieder ihren Wert erst aus ihrer Stellung in einer differentiellen Ordnung gewinnen, dann sind es primär Differenzen, die ein System konstituieren. Die Differentialität, die dies leistet, ist nun aber in keiner Weise ontologisch positiv zu bestimmen: „Es geht hier nicht um eine be­reits konstituierte Differenz, sondern, vor aller inhaltlichen Bestimmung, um eine reine Bewegung, welche die Differenz hervorbringt.“[11] Differentialität als konstituierende Instanz vor aller positiven Bestimmung zu denken, erfor­dert, sie begrifflich als ein Geschehen zu fassen, das produktiv werden kann. Der­rida setzt an dieser Stelle die Begriffe ‚Spiel‘ und ‚différance‘ ein: „In einer Sprache, im System der Sprache, gibt es nur Differenzen. (…) Aber einer­seits spielen diese Differenzen: im Sprachsystem (langue), im Sprechakt (pa­role) und im Austausch zwischen Sprachsystem und Sprechakt. Andererseits sind diese Differenzen selbst wiederum Effekte. Sie sind nicht in fertigem Zu­stand vom Himmel gefallen (…) Was sich différance schreibt, wäre (…) jene Spielbewegung, welche diese Differenzen, diese Effekte der Differenz, durch das ‚produziert‘, was nicht einfach Tätigkeit ist.“[12] Ohne hier im einzelnen da­rauf eingehen zu können, wie Derrida durch Konzepte einer verzeitlichten Dif­ferentialität dem metaphysischen Substanz- und Subjektdenken jede Grund­lage zu entziehen sucht – eine Bewegung, die an dieser Stelle in keiner Weise kritisiert werden soll – ist doch zu bemerken, wie mit ihr eine spezifische Ausblendung verbunden ist. Derridas Verweis auf das Spiel zwischen langue und parole bleibt nämlich ein Lippenbekenntnis. Tatsächlich wird dieses Spiel zwischen System und Akt in Derridas Ausführungen ein um das andere mal eingezogen, in einer Stringenz ausgeblendet, die in der Perspektive einer Phi­losophie der Praxis ebenso gezwungen erscheint wie die Saussuresche Aus­blendung der Schrift in der Grammatologie.[13] Denn vom Spiel zwischen pa­role und langue behält Derrida, wenige Absätze später, nur das „Schema“, nicht den „Inhalt“ bei und überantwortet sowohl den differentiellen als auch den temporalen Aspekt der konstituierenden Bewegung einer einzigen Instanz, die er hier différance nennt, an anderen Stellen ‚Spur‘ oder ‚Urschrift‘.[14] Ent­scheidend ist nun, dass Derrida damit Saussures Theorem über seine Grenzen hinaus strapaziert. Denn Saussure legt unmissverständlich klar, dass der Ge­genstand seiner Überlegungen die Sprache (langue) und nicht das Sprechen (parole) ist.[15] Was Saussure zur differentiellen Konstitution des sprachlichen Wertes sagt, betrifft somit lediglich das System der langue. Ebenso ist bei Saussure klar, dass „alles Diachronische in der Sprache nur vermöge des Sprechens diachronisch ist. “[16] Denn im Sprechen, also in der parole, ruhe „der Keim aller Veränderung“.[17] Derrida hingegen hebt die Differenz zwischen System und Akt auf, indem er, da die Verwiesenheit von langue und parole aufeinander einen „Zirkelschluß“ impliziere, es als notwendig ansieht, ein bei­den zugrunde liegendes Moment auszumachen: „Man muß daher vor jeder Tren­nung von Sprache und Sprechen … eine systematische Produktion von Dif­ferenzen – eine différance – annehmen, aus deren Wirkung man eventuell durch Abstraktion und, indem man bestimmten Motivationen folgt, eine Lin­gu­istik der Sprache und eine Linguistik des Sprechens herausschneiden kön­nen wird.“[18] Damit wird das Spiel zwischen System und Akt in ein umfassen­der Systematisches verlagert. Das Motiv für diesen argumentativen Schachzug geht aus dem Kontext klar hervor: Es geht darum, dass kein „Subjekt, das Agent, Autor oder Herr der différance wäre“ existiert, dass vielmehr „Subjek­tivität – ebenso wie Objektivität – eine Wirkung der différance“ sei.[19] Mein Ziel hier ist nun nicht, durch ein Insistieren auf die Differenz von langue und parole die Instanz eines autonomen Subjekts oder eines schlechthin gegebenen Objekts zu rehabilitieren. Es geht mir vielmehr darum, auf der Differenz zwi­schen langue und parole zu bestehen, um den Ort, an dem im Verhältnis zwi­schen System und Akt Spannungen zu Abweichungen, Korrekturen, Scheitern, Neuerung führen können, für die Theorie zu sichern. Dazu ist es erforderlich, eine strukturelle Implikation herauszustellen, die in Saussures Theorem ange­legt ist und die in Derridas Aufgreifen dieses Theorems universalisiert wird: die von Saussure postulierte Arbitrarität und Differentialität des Zeichens be­deutet, dass der Wert des Zeichens, durch die Beziehungen, in denen es steht, kon­stituiert wird. Dieses In-Beziehung-Stehen, sein Unterschiedensein von und sein Bezogensein auf andere Zeichen, definiert den Wert eines Zeichens, ohne dass eine in ihm liegende substantielle oder materiale Wesenheit oder eine notwendige oder kausale Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem er­forderlich wären. Derrida versucht nun, diese Vorgängigkeit der differen­tiellen Relation dadurch zu radikalisieren, dass er das Zeichen zusätzlich durch eine elementare Struktur der Wiederholung („Iterierbarkeit“[20]), was impliziert: durch seine Herauslösbarkeit und Einsetzbarkeit in andere Kontexten charak­te­risiert.

In der Betonung „der Möglichkeit des Heraushebens oder zitationellen Pfropfreises, die zur Struktur eines jeden gesprochen oder geschriebenen Zei­chens (marque) gehört“[21] schleicht sich nun aber eine Harmlosigkeit in Derri­das Philosophie ein, die dort kaum vermutet wird. Denn was hier mit dem Wort ‚Möglichkeit‘ beschrieben wird und was als solche impliziert, dass das Zeichen stets nur aus seinem In-Beziehung-Stehen in einem kontextuellen System heraus und in ein In-Beziehung-Stehen in einem anderen kontextuellen System hinein gerückt werden würde, das ist in actu die Arbeit und das Wag­nis der parole. Jeder Sprechakt, so ist gegen Derrida einzuwenden, steht näm­lich in der Aufgabe, in Beziehung zu setzen, was noch nicht in Beziehung steht. Die paradigmatischen differentiellen Bestimmungen der Zeichen als Ele­mente der langue sind der parole nicht positiv gegeben, die langue enthält keine universalen Muster, die lediglich konform zu wiederholen wären.[22] Viel­mehr gehört es zur strukturellen Bestimmung der parole, dass niemals mit letzter Sicherheit feststehen kann, welche Folge von Zeichen in welcher Nuan­cierung welchen Sprechakt ergeben. Das elementar prekäre Moment, das übri­gens dem Verstehen genauso wie dem Sprechen, dem Lesen wie dem Schrei­ben inhärent ist, das also den Akt des Zeichengebrauchs als solchen betrifft, macht sich in den gewohntesten und am besten eingespielten Situationen am wenigsten bemerkbar. Doch sobald an den ‚normalen‘ Verhältnissen, die Vor­aus­setzung der – mit Wittgenstein gesprochen – „normalen Fälle des Ge­brauchs“[23] sind, sich auch nur eine Kleinigkeit verschiebt, wird das prekäre Mo­ment merklich, in dem sich die Akte des Redens, Schreibens und Verste­hens ohne feste Bindung an vorgegebene Muster aussetzen und im Modus der Ver­mutung, der Ahnung oder aus eigener Logik fortsetzen bis sie – im Falle des Gelingens – sich als gleichsam ‚sinnvolle Verläufe‘ vollenden.[24] Die Ar­beit der Artikulation und die Arbeit des Verstehens, das Wagnis der Formulie­rung und der Auffassung, die stets damit verbunden sind, implizierte Ansprü­che und Konsequenzen aufzunehmen, diese Aspekte, die dem „Spiel der Welt“[25] seine Tiefe und Ernsthaftigkeit geben, werden ausgeblendet, wenn die kategoriale Differenz zwischen langue und parole eingeebnet oder unterlaufen wird. Denn die Struktur des sinnhaften Aktes unterscheidet sich von einer Selbst­artikulation des Systems dadurch, dass er sich nicht einfach nur artiku­liert, sondern sich im Artikulieren, in der Einrichtung und Nuancierung von Zei­chen in Beziehung setztzu den Ketten von Elementen, mit denen die ein­gesetzten Elemente in systematischer Beziehung stehen. Der parole (hier als Name gebraucht für jeden sinnhaften Akt) ist deshalb selbst in den unschein­barsten Akten ein Moment qualitativer Überschreitung eigen, in dem nicht nur Zeichen und Kontexte verschoben und umarrangiert werden, in dem vielmehr ‚Sinn­ordnungen‘ aus eigenem Recht entstehen können.

Der parole ein Moment des Neuansatz, der qualitativen Produktivität zuzu­schreiben, scheint hinter das kritische Programm der Grammatologie zurück­zufallen, scheint Ursprung und Gesetz dort wieder einführen zu wollen, wo solche metaphysischen Konzepte glücklich überwunden sind. Doch das ist nicht der Fall. Es geht nicht darum, mit dem Sprechakt die Autonomie des Sub­jekts zu rehabilitieren, nicht darum, ein Moment des Ursprungs zu retten, aus dem sich ein Gesetz des Verlaufs ableiten ließe, Aufgabe ist vielmehr, aus der Logik auszubrechen, in der Derrida eine negative Metaphysik in die posi­tive einschreibt mit dem Ziel, sie auszuhöhlen, ihre Zuflüsse auszutrocknen, aber zugleich mit dem Effekt, dass er strukturanaloge Universalbegriffe in An­schlag zu bringen hat, die das Feld der Metaphysik besetzen und übernehmen können. ‚Hohl‘ und ‚ausgetrocknet‘, leblos mag manchem erscheinen, was dieser intellektuelle Kraftakt hinterlassen hat. Die grammatologische De­kon­struk­tion konnte das prekäre Spiel zwischen langue und parole, in dem Set­zung unter Bedingungen von Unterbestimmtheit sich vollzieht, nicht den­ken, da ihre Bewegung allem Gesetzten – als zeitlos-stabile Entität identifi­ziert – ein elementares Verwiesensein, ein Entzug von Identität entgegen­setzte. Das the­tische Moment der parole aber führt auf keinen Ursprung, kei­nen zeitlos-sta­bilen Grund zurück. Es ist setzend gerade insofern es ausgesetzt ist. Inso­fern jede Vorlage, jedes Muster, jede Form gegenüber einer aktuellen Hand­lungs­situation unterbestimmt ist (mehr oder weniger – abhängig von Norma­lität und Geläufigkeit der Situation), bildet sich im Akt etwas heraus, was – in ge­ringerem oder größerem Maße – neu ist in der Welt.

Wenn diese Darstellung hinreicht um anzudeuten wie Schrift aus der strate­gischen Operation der Metaphysikkritik befreit werden kann, indem nämlich die tendenziöse Ausblendung der aktualen Realisierung revidiert wird, dann öffnet sich der Raum für die Frage, welchen Einfluss die spezifischen Struktu­ren von Schrift im Lesen und Schreiben haben und wie sich diese Einfluss­faktoren unterscheiden von denen, die in anderen medialen Aktualitäten, z. B. denen der gesprochenen Sprache oder des Bildes manifestieren.

[1]   Derrida, Jacques, „Signatur. Ereignis. Kontext“, in: Randgänge der Philosophie, Frank­furt/ Main, Berlin, Wien, 1976, S. 124-155, hier S. 129.

[2]   Ebd., S. 134.

[3]   Flusser, Vilém, Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? Frankfurt/Main, 1992, S. 10.

[4]   Kittler, Friedrich, „Es gibt keine Software“, in: ders., Draculas Vermächtnis. Technische Schrif­ten, Leipzig, 1993, S. 225-242, hier S. 226.

[5]   Vgl. dazu: Krämer, Sybille, Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung in ge­schicht­li­chem Abriß. Darmstadt, 1988. Und: Heintz, Bettina, Die Herrschaft der Regel: Zur Grund­lagengeschichte des Computers, Frankfurt/Main, New York, 1993.

[6]   Geier, Manfred, „Schriftlichkeit und Philosophie“, in: Hartmut Günther, Otto Ludwig (Hg.), Schrift und Schriftlichkeit / Wri­ting and Its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internatio­na­ler Forschung, Bd. 1, Berlin, New York, 1994, S. 646-654, hier S. 652.

[7] Goodman, Nelson, Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt/Main, 1995.

[8]   Vgl. Fischer, Martin, „Schrift als Notation“, in: Peter Koch, Sybille Krämer (Hg.), Schrift, Me­dien, Kognition. Über die Exte­riorität des Geistes, Tübingen, 1997, S. 83-101. Vgl. auch den Beitrag von Christian Stetter in diesem Band. Symptomatisch für den Stand der Debatte, die sich in der Gegenüberstellung eines lautsprachenbezogenen und eines notationa­len Schrift­­begriffs verfangen hat, ist auch, dass Rainer Totzke in der Begründung seines ‚en­ge­ren‘, sprachbezogenen Schriftbegriff lediglich eine Alternative sieht, nämlich die eines no­ta­tio­­nalen, an Goodman orientierten Schriftbegriffs, den er aber für seine Fragestellung nach den spezifischen Wirkungen und Konsequenzen des Einsatzes von Schrift wohl als wenig auf­schluss­­reich erachtet. Vgl. Totzke, Rainer, Buchstaben-Folgen. Schriftlichkeit, Wissenschaft und Heideggers Kritik an der Wissenschaftsideologie, Weilerswist, 2004, S. 55 f. Warum ein Schrift­begriff, der Schrift mit Notationalität identifiziert, zugleich zu eng und zu weit ist, wird er­läutert in: Kogge, Werner, „Denkwerkzeuge im Gesichtsraum. Schrift als Kulturtechnik“, in: Moritz Wedell, Pablo Schnei­der (Hg.), Grenzfälle: Trans­formationen von Bild, Schrift und Zahl, Weimar, 2003, S. 19-40.

[9]   Derrida, Jacques, „Signatur. Ereignis. Kontext“, a.a.O., S. 137.

[10] Saussure, Ferdinand de, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 2. Aufl., Berlin, 1967, S. 142 f. Vgl. dazu: Derrida, Jacques, Grammatologie, Frankfurt/Main, 1983, S. 91 f.

[11] Derrida, Jacques, Grammatologie, a.a.O., S. 109.

[12] Derrida, Jacques, „Die différance“, in: ders., Randgänge der Philosophie, Frankfurt/Main, Ber­lin, Wien, 1976, S. 6-37, hier S. 16 f.

[13] Derrida, Jacques, Grammatologie, a.a.O., S. 79 f.

[14] Vgl. Derrida, Jacques, Grammatologie, a.a.O., S. 98-114.

[15] Saussure, Ferdinand de, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 23 f.

[16] Ebd., S. 117, Herv. im Orig.

[17] Ebd.

[18] Derrida, Jacques, Positionen, Graz, Wien, 1986, S. 69 f.

[19] Ebd., S. 70.

[20] Derrida, Jacques, „Signatur. Ereignis. Kontext“, a.a.O., S. 133.

[21] Ebd., S. 141.

[22] Vgl. ebd., S. 150.

[23] Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Untersuchungen, in: ders., Werkausgabe, Bd. 1, 6. Aufl., Frankfurt/Main, 1989, § 142.

[24] Vgl. dazu ausführlich: Kogge, Werner, Die Grenzen des Verstehens: Kultur – Differenz – Dis­­kretion, Weilerswist, 2002, S. 263 ff.

[25] Derrida, Jacques, Grammatologie, a.a.O., S. 88.