Das Maß der Technik

Lebenswelt als Kriterium technischer Angemessenheit?

In: Kogge, Werner/ Heike Franz/ Torger Möller/ Torsten Wilholt, Wissensgesellschaft: Transformati-onen im Verhältnis von Wissenschaft und Alltag, IWT-Paper 25, Universität Bielefeld 2001

 

Abstract

Weist man den evolutionären Grundgedanken zurück, demgemäß technische Entwicklung ein eindimensionaler Entfaltungsprozess ist, der sich notwendig in einer unaufhörlichen Steigerung von Mitteln vollzieht, betrachtet man stattdessen Technik als Resultat bestimmter historischer und sozialer Gestaltungen, dann stellt sich auch die Frage nach alternativen Gestaltungen. 

Allerdings wirft der Gedanke einer gestaltbaren und mehr oder weniger angemessenen Technik die Frage auf, was als Maß dieser Gestaltung dienen kann. Mensch und Natur – zwei prominente Kandidaten – sind Begriffe, die sich vielfach unterschiedlich besetzen lassen. Allein die Rede von der menschlichen Natur und der Gedanke, daß es zu den Möglichkeiten des Menschen gehört, sich von der Natur abzulösen, zeigt, daß das Problem mit einem einfachen Hinweis nicht zu erledigen ist. Woran also soll eine alternative Technik angepaßt sein? Was könnten Kriterien sein, um besser angemessene von weniger angemessener Technik zu unterscheiden?

In diesem Text diskutiere ich, inwiefern der Begriff der Lebenswelt als Maß der Technik aufschlussreich sein kann.

„I shall … contend that the use of … instruments – or any technological artifact – is non-neutral. I use this term very carefully and deliberately to suggest that there is some kind of transformation of experience in the use of instruments but I do not wish to suggest that this transformation is ipso facto either essentially ’good’ or essentially ’bad’.“
 
Don Ihde

Leseprobe

Das Maß der Technik:

Lebenswelt als Kriterium technischer Angemessenheit

(Werner Kogge)

Blickt man auf die Technikkritik des zwanzigsten Jahrhunderts, so fallen zunächst zwei dominante Formen ins Auge. Aus dem Kulturpessimismus der Jahrhundertwende entwickelte sich eine Tendenz, die Fortschritte der Technisierung, Mechanisierung und Rationalisierung insgesamt für den Niedergang von Natur und Kultur verantwortlich zu machen. Mit der Zerstörung der natürlichen Vielfalt gehe, so schreibt etwa Ludwig Klages 1913[1], eine Entseelung von Mensch und Gesellschaft einher. Technik wird als Macht betrachtet, die den Reichtum der natürlichen und kulturellen Schöpfung zerstört.

Dieser romantizistischen Version der Technikkritik steht eine emanzipative Position gegenüber. Vertreter dieser Position beklagen nicht, daß Technik Natur, ’naturwüchsige‘ Kulturentwicklung und tradiertes Gut gefährde, sondern, daß sie in Widerspruch zur Freiheit und Selbstbestimmung des Subjekts gerate. Deshalb richtet sich ihre Kritik nicht gegen die Technik als solche, in der sie eher eine Verbündete zur Selbstbefreiung des Menschen sehen, sondern gegen eine mißbräuchlichen Anwendung von Technik zur Erreichung illegitimer Ziele, wie zur Stabilisierung sozialer Ungleichheit und Unmündigkeit.[2] Im Unterschied also zur romantizistischen Technikkritik, die im Technischen selbst ein elementares Übel erblickt, betrachtet die emanzipative Kritik Technik als neutrales Mittel zur Erreichung gegebener Zwecke. Technik wird in dieser Perspektive erst dann problematisch, wenn die technische Zweckrationalität den Bereich der Wert- und Zielsetzungen selbst besetzt und mit ihrer ‚Logik‘ durchherrscht.

Trotz des Gegensatzes in der Frage der Neutralität von Technik entspricht die emanzipative Position der romantizistischen aber in einem wichtigen Punkt. Ebenso wie diese das Technische als eine Einheit begreift, die samt und sonders abzulehnen ist, so fassen die Verteidiger der menschlichen Autonomie Wissenschaft und Technik als alternativloses Projekt. Mit Gehlen ist beispielsweise Habermas der Überzeugung, „daß zwischen der uns bekannten Technik und der Struktur zweckrationalen Handelns ein immanenter Zusammenhang besteht.“ Ein „alternativer Entwurf“ sei nicht einmal denkbar, „weil Technik, wenn sie überhaupt auf einen Entwurf zurückgeht, offenbar nur auf ein ‚Projekt‘ der Menschengattung insgesamt zurückgeführt werden kann“.[3]

Sowohl die These einer globalen Schädlichkeit als auch die einer universalen Neutralität von Technik haben aber inzwischen ihre Plausibilität weitgehend eingebüßt. Im Anschluß an Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung, in der die Ambivalenz auch des Technischen deutlich herausgearbeitet wurde, haben eine Reihe von Autoren auf unterschiedlichem Reflexionsniveau nach einer alternativen Technik geforscht. Herbert Marcuse insistierte schon in One-Dimensional Man von 1964 darauf, daß Technik unauflöslich mit sozialen Verhältnissen verquickt ist und daher eine Veränderung der Verhältnisse auch die Möglichkeit einer anderen Technik impliziert. Ähnlich argumentierte 1973 Ernst F. Schuhmacher in Small is beautiful und Ivan Illich in Tools for Convivality.[4]

Was diese Autoren zurückweisen, ist den evolutionären Grundgedanken, der den beiden früheren Positionen zugrundeliegt. Für sie ist die technische Entwicklung kein eindimensionaler Entfaltungsprozess, der sich notwendig in einer unaufhörlichen Steigerung von Mitteln vollzieht, sondern ein Resultat bestimmter historischer und sozialer Vorgänge. Anders als beispielsweise Habermas, der lediglich einen Bereich der sinn- und werthaften Kommunikation vor der Eigengesetzlichkeit des Technischen bewahren will, bestehen die Protagonisten einer alternativen Technik darauf, daß die Technik selbst gestaltbar ist, daß sie sich den Bedürfnissen des Menschen und den Erfordernissen der Natur anpassen läßt.

Allerdings wirft der Gedanke einer gestaltbaren und mehr oder weniger angemessenen Technik die Frage auf, was als Maß dieser Gestaltung dienen kann. ‚Mensch‘ und ‚Natur‘ – zwei prominente Kandidaten – sind Begriffe, die sich vielfach unterschiedlich besetzen lassen. Allein die Rede von der ‚menschlichen Natur‘ und der Gedanke, daß es zu den Möglichkeiten des ‚Menschen‘ gehört, sich von der ‚Natur‘ abzulösen, zeigt, daß das Problem mit einem einfachen Hinweis nicht zu erledigen ist. Woran also soll eine alternative Technik angepaßt sein? Was könnten Kriterien sein, um besser angemessene von weniger angemessener Technik zu unterscheiden?[5]

In der folgenden Argumentation werde ich den Versuch unternehmen, Kriterien zu entwickeln, die eine besser angemessene Technik auszeichnen. Dabei werde ich zum einen Tendenzen aktueller technischer Entwicklungen anführen, die zeigen, daß das Bild eines eindimensionalen technischen Fortschritts zur Steigerung von Macht und Kontrolle empirisch nicht haltbar ist. Zum anderen werde ich theoretisch in einer phänomenologischen Traditionslinie den Gedanken ausführen, daß der Typ von Angemessenheit, den manche der neueren technischen Artefakte verkörpern, sich am besten als eine Steigerung der Offenheit und Erfahrbarkeit von lebensweltlichen Bezügen beschreiben läßt.

Da technische Artefakte die im Alltag am stärksten präsente Seite der wissenschaftlich-technischen Entwicklung sind, wird die Untersuchung auch ein Licht auf Grundlagen und mögliche Tendenzen im Verhältnis von Wissenschaft und Alltag werfen. Sie wird die Frage nach Transformationen in diesem Verhältnis als die Frage behandeln, wie das in technischen Artefakten inkorporierte Wissen auf die Lebenswelt der Anwender und Betroffenen bezogen sein kann.

I

Beginnen wir mit einem Beispiel, das den Typ von Technik, auf den ich die Aufmerksamkeit lenken möchte, besonders anschaulich macht. (Später werde ich weitere technische Artefakte anführen und damit versuchen, einige Einwände, die dieses Beispiel hervorrufen könnte, zu entkräften.)

Ende der 80er Jahre wurde eine neue Generation von Herzschrittmachern entwickelt und eingeführt. Bis dahin funktionierten Herzschrittmacher so, daß sie dem Herzen den Takt mit einer genau festgelegten Zahl von Impulsen, beispielsweise 70 pro Minute vorgaben. Das Problem, das dabei zwangsläufig auftreten mußte, bestand darin, daß jede Anstrengung, jede Aufregung, jede Situation, in der das Herz normalerweise schneller oder langsamer schlägt, um den Körper situationsgerecht zu versorgen, für die Patienten zur Qual wurde; zu vielen normalen Betätigungen waren sie gar nicht in der Lage.

Die neue Generation von Herzschrittmachern ist nun mit Sensoren ausgestattet. Diese ”registrieren die Aktivität der Muskeln, den Sauerstoffgehalt des Blutes, seinen ph-Wert, die Druckkraft der Herzschläge, den Verlauf des Druckanstiegs und die Temperatur des Blutes. Auch individuelle Unterschiede zwischen Menschen finden Berücksichtigung.”[6]

Die Herzschrittmacher der neuen Generation haben sich in der Anwendung bewährt. Ihre Akzeptanz und Alltagsrelevanz für die Betroffenen dürfte unbestreitbar sein. Es stellt sich aber die Frage, ob dieses Beispiel auf einen eigenen Typ von Technik verweist. Das wäre der Fall, wenn sich allgemeinere Strukturen aufweisen ließen, die sich nicht nur an in diesem Fall, sondern in einem weiteren Bereich wiederfinden ließen.

Meine These ist, daß der Herzschrittmacher der neuen Generation tatsächlich ein Exemplar eines Typs von Technik ist, der eine bestimmte Form von Angemessenheit impliziert. Ich möchte zeigen, daß sich diese Form von Angemessenheit philosophisch als Angemessenheit an Lebenswelt beschreiben läßt.

II

Warum sollte Technik überhaupt ein philosophisches Thema sein? Typische philosophische Themen wie Geist, Natur, Bewußtsein, Vernunft etc. tragen die Aura zeitloser Fragen an sich, während Technik bloß ein bestimmtes Problem unserer Zeit zu sein scheint. Das erste philosophische Werk, das explizit eine Technikphilosophie darstellt, ist erst 1877 erschienen, nämlich Ernst Kapps Grundlinien einer Philosophie der Technik : Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten.[7]

Natürlich ist es nicht so, daß es zuvor kein Nachdenken über Mittel- und Werkzeuggebrauch und die dazugehörigen Fertigkeiten gegeben hätte. Aber, daß der Mensch und die menschliche Kultur – wie es der Untertitel von Kapp andeutet – von der Technik und nicht etwa vom Geist oder von der Natur her gedacht werden, das ist eine Erscheinung des 19. Jahrhunderts. Erst jetzt spricht man vom Menschen als homo faber und von der Kultur als technischer Zivilisation.

Sieht man allerdings, was die Hinwendung auf das Thema Technik systematisch leistet, so ist Technikphilosophie gar keine späte, sondern im Gegenteil eine frühe Erscheinung. In der Sprachphilosophie wurde die analoge Denkbewegung erst im 20. Jahrhundert geleistet. Mit der ’sprachphilosophischen Wende‘ bzw. dem ‚linguistic turn‘ begann man, das Erkennen von Gegenständen und das Erfahren von Welt in Abhängigkeit von den sprachlichen Mitteln, in denen Theorien entworfen und Erfahrungen konzeptualisiert werden, zu denken. Das Mittel – im Sinne von das Mittlere, das Medium – wurde zum primären. Philosophie wurde in erster Linie Sprachphilosophie.

Die Dominanz der Sprachphilosophie rückte in den Hintergrund, daß das, was für die Sprache gilt, auch und in gewissem Sinne noch mehr für die Technik gilt: wie wir die Welt erfahren, hängt nicht nur davon ab, in welcher Sprache wir das tun, sondern auch, mit welchen Werkzeugen und Instrumenten wir dabei ausgestattet sind.

Technikphilosophie kann also als eine frühe Weise verstanden werden, die Beziehung von Mensch und Welt von dem Mittleren, vom Medium her zu denken. Dabei ist entscheidend, daß sich auch die Vorstellungen von Mensch und Welt verändern, je nachdem, wie man die Beziehung von Mensch und Welt realisiert denkt, d.h. hier, wie man Technik begreift.

III

Natürlich gibt es in der Moderne unterschiedliche Konzeptionen von Technik, die sich zum Teil auch widersprechen. Aber es gibt doch ein leitendes Paradigma, das immer wieder auftaucht. Dieses Paradigma ist die ideale Maschine:

”Das ganze innere Wesen der Maschine ist … das Ergebnis einer planvollen Beschränkung, ihre Vervollkommnung bedeutet die zunehmende kunstvolle Einschränkung der Bewegung bis zum völligen Ausschluß jeder Unbestimmtheit. An dieser Steigerung der Beschränkung hat die Menschheit durch Äonen gearbeitet.”[8]

So beschreibt Franz Reuleaux 1875 in seiner Schrift Theoretische Kinematik: Grundzüge des Maschinenwesens die Entwicklung der Technik als Isolierung und Optimierung singulärer Funktionen. Zwei Jahre später begreift Ernst Kapp in dem schon genannten Werk Technik als Organprojektion. Den Hammer faßt er als unbewußte Reproduktion von Unterarm und Faust, die Kraftmaschine als Nachbildung des Ernährungsapparates, das Telegraphensystem als Projektion des organischen Nervensystem. In der künstlichen Reproduktion findet jeweils – mit Reuleaux gesprochen – eine Vervollkommnung durch Einschränkung und Funktionsspezifizierung statt.

Technik hat also nach dieser modernen Vorstellung ein bestimmtes Optimierungsideal: Vervollkommnung einer Funktion durch Ausschluß jeder Wechselwirkung mit anderen Faktoren.

IV

Es ist leicht zu erkennen, daß die Technikkritik des frühen zwanzigsten Jahrhunderts diese positive Beschreibung des Technischen aufgreift und – wie Klages schreibt – die „Gegenrechnung“ (2) aufmacht. Allerdings ist mit einer Verrechnung von Vor- und Nachteilen zur Klärung der philosophischen Frage, wie das Verhältnis von Mensch und Welt unter dem Vorzeichen von Technik zu betrachten ist, nichts gewonnen. In einer einfachen Gegenüberstellung von Vor- und Nachteilen bleibt unbeachtet, daß unsere Vorstellungen davon, was ‚Natur‘, was ein ‚Gegenstand‘, was ‚Geist‘ und was ‚Bewußtsein‘ ist, auch dadurch geprägt wird, daß wir uns stets vermittelt, also unter Zuhilfenahme von Mitteln auf die Welt beziehen.

Die Frage, wie diese Beziehung durch die wissenschaftlich-technische Entwicklung transformiert wird, steht im Zentrum eines Ansatzes, der seine kritische Argumentation im Rahmen einer umfassenden philosophischen Problemstellung ausführt. Edmund Husserl hat in seinem Spätwerk Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie von 1936[9] eine Sichtweise entwickelt, die – wie ich meine – dazu verhilft, das Problem der Angemessenheit in einer neuen und interessanten Weise zu betrachten.

Der kulturpessimistischen Argumentation folgt Husserl insoweit, als auch sein Ausgangspunkt die Diagnose einer Krise der abendländischen Kultur ist; und zwar eine Krise der Lebensbedeutsamkeit durch die wissenschaftlich-technische Entwicklung, insbesondere durch die Mathematisierung von Wissen und Wissenschaft. Die Entstehungsgeschichte dieser Krise skizziert Husserl in einigen idealtypischen Stationen:

Die historische Ausgangslage ist durch Praktiken gekennzeichnet, die auf der Basis von Anschauung ein bestimmtes technisches Können ausprägen. Als Vorläufer der antiken Mathematik betrachtet Husserl die „praktische Feldmeßkunst“ (49), die in ihrer unmittelbaren Anschaulichkeiten Voraussetzung für die – wie er sagt – „Erfindung der idealen Welt der Geometrie“ (49) war. Bereits in ihrer antiken Form ist die Geometrie für Husserl insofern „sinnentleert“ (49), als sie eine Ablösung empirischer Gestalten von jeder konkret sinnlichen Anschauung und Praxis vollzieht.

Diese Ablösung ermöglicht in einem zweiten Schritt eine „reine Mathematik“, die es „nur mit den abstrakten Gestalten in der Raumzeitlichkeit, und zudem mit diesen nur als rein ‚idealen‘ Limesgestalten“ (27) zu tun hat. Das Operieren erfolgt hier in einem selbständigen technischen Regelsystem.

Eine weitere „Sinnverwandlung und Sinnüberdeckung“ (46) ergibt sich, wenn das regelhafte Operieren in technischen Symbolsystemen und Mechanismen umgesetzt wird und einen Typ von Objektivationen erzeugt, der mit den ursprünglichen bedeutungsvollen Praktiken nichts mehr zu tun hat.

Husserl beschreibt also einen Übergang, an dessen Anfang wie Ende eine anspruchsvolle Praxis steht. Während jedoch die praktische Meßkunst in eine anschaulich gegebene und alltäglich erfahrbare Lebenswelt eingebunden bleibt, operiert die moderne Mathematik nach „Spielregeln“ (46), die unabhängig von allen Sachfragen und Evidenzen funktionieren. Der eigentlich problematische Punkt liegt für Husserl da, wo sich eine „Unterschiebung der mathematisch substruierten Welt der Idealitäten für die einzig wirkliche, die wirklich wahrnehmungsmäßig gegebene, die je erfahrene und erfahrbare Welt – unsere alltägliche Lebenswelt“ (49) vollzieht. Husserl vertritt also die These, daß es im Laufe der wissenschaftlich-technischen Entwicklung zu einer Unterschiebung einer mathematisch konstruierten Welt unter die Lebenswelt kommt.

Was aber ist mit dem Begriff ‚Lebenswelt‘ hier gemeint?

Der Begriff, den Husserl in seinem Spätwerk einführt, steht in einer Traditionslinie, in der bereits Avenarius und Mach eine natürliche Einstellung jenseits der theoretischen Welterfahrung auszumachen suchten. Insofern hat der Begriff eine begründungstheoretische Funktion.

Zugleich hat er aber auch eine praktische Bedeutung: Die Lebenswelt ist der Bereich, aus dem wir alles zunächst kennen, von dem aus wir anfangen zu reflektieren und zu theoretisieren. Jedes methodische Vorgehen bleibt in letzter Instanz von ihr abhängig, wie sich am Beispiel der Statistik und der Abhängigkeit ihrer Ergebnisse von Fragestellung und Interpretation zeigt.

Der Gegenbegriff zu Lebenswelt ist nicht Technik oder System, sondern die theoretische Einstellung. Ein wichtiger Aspekt des Lebensweltbegriffs ist daher in dem Wortteil ‚-welt‘ ausgedrückt. Die Lebenswelt ist ein Bereich, in dem niemals isolierte Dinge oder Empfindungen wahrgenommen werden, sondern jedes Element in einem Zusammenhang, in seiner Verbundenheit mit anderen Elementen.

Was geschieht nun mit der Lebenswelt durch die Unterschiebung einer mathematisch konstruierten Welt? Da Lebenswelt eine transzendentale Instanz, die Bedingung der Möglichkeit von Sinn und Erfahrung darstellt, kann sie weder zerstört noch aufgehoben werden. Nach Husserls Analyse ist die Lebenswelt in der krisenhaften Situation der abendländischen Kultur nicht verloren, sondern verdeckt. Indem die formalen Regelsysteme, die auf der Grundlage lebensweltlichen Sinns gebildet werden konnten, für diese Grundlage selbst gehalten werden, wird der Lebenswelt, wie Husserl sagt, ein ”Ideenkleid“ (51) angemessen. Die Beziehung zum sinnhaften Grund wird eine verdeckte Beziehung, unkenntlich, unzugänglich und vergessen.

V

Der Bewußtseinsphilosoph Husserl hat, auch wenn er in seinem Spätwerk von Technik und Technisierung spricht, in erster Linie technisches (d.h. regelförmiges, methodisches) Denken im Blick. Zwar deutet Husserl an, daß sich dieses Denken in Symbolsystemen und mechanischen Artefakten objektiviert, jedoch erfahren wir wenig darüber, wie sich die gegenständliche Technisierung in der Lebenswelt auswirkt.

Der Praxisphilosoph Martin Heidegger folgt den Grundlinien der Husserlschen Überlegungen, verwendet sie aber, über Husserl hinausgehend, für eine Analyse konkreter moderner Technologie. In seinen Aufsätzen Die Frage nach der Technik und Bauen, Wohnen, Denken geht es um technische Systeme wie das Energieerzeugungs-, Transport- und Informationsnetzwerk.[10]

Heidegger stellt die Frage, wie moderne Technik im Gegensatz zu früherer Technik dem Menschen Welt erschließt bzw. verschließt. Leicht ist zu erkennen, daß er damit Husserls Gedanken der Verdeckung durch Technisierung aufgreift.[11]Wie bei Husserl das moderne Denken ein Umgehen mit sinnlich und sinnhaft erfüllten Gestalten durch ‚ideale‘ Entitäten und frei verwendbare Symbolismen ersetzt, so ereignet sich für Heidegger beim Übergang zur modernen Technik eine Verwandlung in – wie er es nennt – Bestand. Was Heidegger damit meint, läßt sich am besten an seinem Beispiel der Energieerzeugung deutlich machen. Windmühle und modernes Heizkraftwerk dienen der Erzeugung von Energie aus natürlichen Quellen. Während jedoch die gewonnene Bewegung im ersten Fall dem Naturgeschehen unmittelbar verbunden bleibt, löst sich das System der modernen Kraftwerkstechnik aus solchen Vorgaben, in dem es die Möglichkeitzur Energieerzeugung als Material aus der Natur fördert, es nach Belieben und Bedarf in Energie umsetzt und idealiter zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort verfügbar macht.

„Das Entbergen, das die moderne Technik durchherrscht, hat den Charakter des Stellens im Sinne von Herausforderung. Diese geschieht dadurch, daß die in der Natur verborgene Energie aufgeschlossen, das Erschlossene umgeformt, das Umgeformte gespeichert, das Gespeicherte wieder verteilt und das Verteilte erneut umgeschaltet wird.“ (24)

Moderne technische Systeme sind darauf ausgerichtet, neutrales und ungebundenes Material zu gewinnen. Ihre Tendenz geht dahin, Energie, Rohstoffe, Transportmittel und Informationen jederzeit und an jedem Ort verfügbar zu machen. Das hat Konsequenzen für den Charakter des Materialen wie für den Menschen, der damit umgeht.

Das Material verliert tendenziell seinen je spezifischen, gegenständlichen Charakter. Als Bestandteil des Transportsystems ist beispielsweise das Flugzeug kein eigentümliches Gefährt, sondern in Bau und Funktionsweise möglichst vollkommen auf die Anforderungen der Verfügbarkeit im System ausgerichtet.

Auch der Mensch läuft Gefahr, in diesen Systemen zu bloßem ‚Bestand‘ zu werden, insofern er als Funktionsträger in die Verfügbarkeit von Materialien und Informationen eingereiht ist.

Für Heidegger zeichnet sich also moderne Technik dadurch aus, daß in ihr jedes Element lediglich in einem Um-zu-Verhältnis besteht. Jedes einzelne technische Artefakt ist tendenziell darauf eingerichtet, seine Funktion in einem beliebigen Wirkungszusammenhang zu erfüllen.

Blicken wir von hier aus zurück auf die Charakterisierung der idealen Maschine bei Reuneaux, so zeigt sich, daß dieser Typ von Artefakt als Paradigma moderner Technik aufgefaßt werden kann. Durch die „kunstvolle Einschränkung der Bewegung“ und den „völlige Ausschluß jeder Unbestimmtheit“ erzeugt die ideale Maschine gewissermaßen ‚reine‘ Bewegung, ‚reine‘ Energie – universal verfügbar im Sinne von Heideggers ‚Bestand‘.

Wie verhält sich nun aber zu dieser Charakterisierung der modernen Technik das eingangs angeführte Beispiel des Herzschrittmachers der neuen Generation? Zwei wichtige Eigenschaften, die ihn von der ‚idealen‘ Maschine unterscheiden, möchte ich hier herausheben:

Erstens ist das Gerät nicht gegen Umwelteinflüße abgeschottet, sondern integriert diese in seine operationale Struktur und zweitens bedeutet Optimierung hier nicht Steigerung einer singulären Funktion in einem systemischen Zusammenhang, sondern Anpassung an diverse Lebenssituationen.

Die Tendenz dieser Technologie scheint also der Entwicklungsrichtung moderner Technik, wie sie von Reuneaux bis Heidegger beobachtet wird, in wichtigen Aspekten entgegengesetzt zu sein. Allerdings steht noch immer die Frage im Raum, ob der Herzschrittmacher lediglich ein besonderes Beispiel darstellt, nämlich den Fall der Ersetzung eines intelligent arbeitenden, aber doch relativ einfachen Organs durch einen möglichst funktionsadäquaten Apparat oder ob sich in ihm eine Tendenz technischer Entwicklung zeigt, die die Reflexion auf Technik vor eine eigene Herausforderung stellt.

VI

Allgemein formuliert ist dies die Frage nach alternativer Technik; also die Frage, ob es Techniken gibt, die generell einen anderen, weniger instrumentalistischen, zerstörerischen und unintegrierten Charakter haben als die ‚typisch modernen‘ Techniken.

Die Idee alternativer Technik ist ein Thema der 70er Jahre. Im Unterschied zur Stimmung zu Beginn des Jahrhunderts, als Technik insgesamt dämonisiert und für den Niedergang der abendländischen Kultur verantwortlich gemacht wurde, entwickelte sich nun eine eigentümliche Melange aus Fortschrittsoptimismus, Herrschaftskritik und Emanzipationsbestrebungen.[12]

Ähnlich wie in Marcuses Der eindimensionale Mensch sind die Überlegungen zu Technik auch in den Texten dieser Zeit weitgehend in eine umfassende Kritik kapitalistischer Wirtschafts- und Herrschaftsstrukturen eingebunden. Ansätze zu einer internen Technikkritik finden sich am besten in Illichs Selbstbegrenzung ausgearbeitet. Deshalb bietet sich, wenn es um alternative Technik und nicht um alternative Verwendung von Technik geht, ein genauerer Blick auf dieses Buch an.

Illichs Ziel ist es, die ”Schwelle der Schädlichkeit” (13) zu bestimmen, an der der nützliche, kreative Gebrauch von Technik umschlägt dahin, daß die Technik mehr Macht über den Menschen gewinnt, als der Mensch Macht durch Technik gewinnt.

Dazu unterscheidet er zwei Arten von Technik: konvivale und beherrschende Werkzeuge. Illich benennt vier Aspekte, in denen sich die beiden Idealtypen, die die Pole eines Kontinuums bilden, unterscheiden lassen:

(a) Während das konvivale Werkzeug im Prinzip von jedem einzelnen beherrscht werden kann, kann das beherrschende Werkzeug nur vom Spezialisten eingesetzt werden (vgl. 13f).

(b) Im Gegensatz zum konvivalen Werkzeug, das gemacht ist, „um damit zu arbeiten“, ersetzt das beherrschende Werkzeug den Menschen „durch einen Apparat, der an seiner Statt ‚arbeitet‘.“ (31).

(c) Das konvivale Werkzeug kann kreativ modifiziert werden, während das beherrschende „eingezeichneten Zwecken“ (51) folgt und dem Einzelnen seine Struktur aufprägt.

(d) Das konvivale Werkzeug kann benutzt werden „so oft oder so selten“ der Einzelne es will, wohingegen das beherrschende dem Menschen „keine Wahl“ läßt, ihn im „System verwendet“ (53)

Die Stoßrichtung der Argumentation ist klar: Es geht Illich um eine Technik, „welche die Macht und das Wissen jedes Einzelnen vermehrt und ihm erlaubt, seine Kreativität zu betätigen, ohne damit notwendigerweise dem anderen diesen Spielraum zu verschließen.“ (13f) Als Beispiele für typisch konvivale Werkzeuge führt Illich die Nähmaschine und das Telefon an, das elementar beherrschende Werkzeug wird für ihn durch Autobahn und Fließband verkörpert.

Versucht man nun aber die (im Text verstreuten) Unterscheidungskriterien auf die Beispiele anzuwenden, so ergeben sich einige gewichtige Probleme. So ist bei der Autobahn normalerweise nicht vorgegeben, wann und wie häufig sie durch ein Individuum benutzt wird, auch ersetzt sie weniger als beispielsweise öffentliche Verkehrsmittel menschliche Arbeit durch die Apparatur (fahren muß man schon selbst) und es ist kaum zu sehen, inwiefern sie stärker eingezeichnete Zwecke hat als das Telefon. Waschmaschinen, die die leidige Rubbelei am Waschbrett überflüssig machen, wären nach Illichs Kriterien ebensowenig konvivale Werkzeuge wie unser Herzschrittmacher, da beide statt des Menschen arbeiten.

Die Schwierigkeiten mit den Beispielen weisen auf ein prinzipielles Problem, das dem Kriterienkatalog zugrundeliegt. Illichs Konzept konvivaler Technik zielt auf individuelle Selbstbestimmung. Es geht ihm darum, dem Einzelnen die Herrschaft über seine Mittel zu verschaffen. Die im Instrumentellen liegende Möglichkeit, daß andere Menschen oder ganze Systeme Macht über das Individuum ausüben, soll durch die Zuschneidung der Mittel selbst unterlaufen werden.

Doch vielleicht zeigt sich in diesen konkreten Überlegungen Illichs lediglich deutlicher als anderswo, daß die Verbindung von Instrument und Herrschaft nicht so eindeutig ist, wie vielfach angenommen. Zwei Hinweise sollen hier genügen, um anzudeuten, warum das Herrschaftsparadigma für die Analyse des Verhältnisses von Macht und Mitteln unzureichend ist und warum das Problem der Bewertung von Technik nicht durch die Unterscheidung von Fremd- und Selbstbestimmung gelöst werden kann.

Zum einen ist festzustellen, daß wir kein Werkzeug vollständig kontrollieren können. Schon der einfache Hammer zeichnet durch seine Form, sein Gewicht und sein Material die Möglichkeiten des Handelns mit ihm zu einem Teil vor.[13]

Zum anderen brauchen wir aber auch gar nicht jeden Aspekt einer technisch durchgeführten Handlung zu kontrollieren, wenn das Werkzeug gut eingerichtet ist. Die Wahlwiederholung des Telefons oder der Schleudergang der Waschmaschine sind so hilfreich, weil sich das maschineneigene Programm um etwas ‚kümmert‘, worum wir uns folglich nicht zu kümmern brauchen. Technik kann – und das ist ein wichtiger Punkt – auch von Kontrollnotwendigkeiten entlasten.

Illichs Akteur ist ein Mensch, der, die Bedingungen seines Handelns bis ins kleinste beherrschend, allzeit kreativ seine ureigenen Bedürfnisse entfaltet und seine autonom gewählten Ziele anstrebt. Dabei verkennt er, daß jedes Werkzeug eine ihm eigene Tendenz birgt und daß es gerade diese Eigenheit des Werkzeugs sein kann, die es nützlich und erfüllend sein lassen.

VII

Die Probleme, die Illichs Kriterienkatalog zu Tage fördert, sind Wasser auf den Mühlen derjenigen, die überhaupt der Meinung sind, daß technischer Fortschritt eine quasi-naturwüchsige Entwicklung menschlicher Fähigkeiten darstellt und bestenfalls in seinen Auswirkungen da und dort beschränkt, darüber hinaus aber weder sinnvoll kritisiert, noch gestaltet werden kann.[14]

Dem steht der bei Illich (und vielen anderen) formulierte Grundgedanke entgegen, daß es einen Unterschied macht, mit welcher Technik wir leben und arbeiten, und daß technische Artefakte Bedürfnissen und Ansprüchen von ‚Mensch‘ und ‚Natur‘ besser oder schlechter angepaßt sein können. Allerdings muß die Frage nach dem Woran der Anpassung neu gestellt werden, wenn der im herrschaftskritischen Denken angenommene Bezugspunkt des restlos emanzipierten und rastlos selbstbestimmten Subjekts nicht mehr tragfähig erscheint. Woran also soll sich die Entwicklung technischer Artefakte orientieren. Was ist das Maß, dem sich Form und Funktion anzumessen haben?

Um einer Antwort auf diese Fragen einen Schritt näher zu kommen, lohnt es sich, eine Konzeption zu berücksichtigen, die nicht vom autonomen Subjekt, sondern vom Menschen als lebenweltlich situiertem Wesen ausgeht. Don Ihdes Phänomenologie der Technik[15] knüpft an die Überlegungen Husserls und Heideggers an und entwickelt einen Begriff von Nicht-Neutralität, der sich von der Frage löst, ob der Einzelne das Instrument beherrscht oder durch es beherrscht wird.

„I shall … contend that the use of … instruments – or any technological artifact – is non-neutral. I use this term very carefully and deliberately to suggest that there is some kind of transformation of experience in the use of instruments but I do not wish to suggest that this transformation is ipso facto either essentially ‚good‘ or essentially ‚bad‘.“ (16)

Was Ihde mit Nicht-Neutralität meint, wird mit Blick auf eines seiner Beispiele unmittelbar deutlich. Mit der feinen und harten Spitze eines Zahnarztbestecks kann die Mikrostruktur der Zahnoberfläche wesentlich genauer wahrgenommen werden als mit dem Finger. Während aber der Finger zugleich eine Fülle sinnlicher Qualitäten wie Rauheit, Wärme, Feuchtigkeit etc. ertasten kann, beschränkt sich die Erfahrung durch das Instrument auf die Perzeption einer einzelnen Eigenschaft. Ihde nennt dies die „amplification – reduction – structure“ (21) eines Instruments und geht davon aus, daß jedes technische Artefakt eine solche zweiseitige Veränderung von Erfahrung mit sich bringt. Was folgt daraus für die Frage der Technikkritik?

Ihdes Argument kann man in zwei Weisen verstehen. Zum einen kann man die durch ein technisches Artefakt gemachte Erfahrung als nicht-neutral im Gegensatz zu einer neutralen, unmittelbar leibhaften Erfahrung begreifen. Die synästhetische Fülle der unterschiedlichen, aber sich zugleich zu einem Gesamteindruck verbindenden Sinneswahrnehmungen bildet nach dieser Interpretation eine Neutralfolie, von der sich jede instrumentelle Modifikation abhebt. Faßt man den Gedanken in dieser Weise, so läßt sich kritisch formulieren, daß die technische Steigerung des ‚Weltbezugs‘ stets auf Kosten seiner natürlichen Fülle und ‚Breite‘ geht.

Allerdings ist die Annahme eines in diesem Sinne ’natürlichen‘ Weltbezugs selbst problematisch. Denn wenn die Pluralität oder gar Totalität sinnlicher Dimensionen das Maß einer ’neutralen‘ Wahrnehmung abgäbe, dann wäre zu konstatieren, daß wir zumeist – auch ohne den Einsatz von in engerem Sinn technischen Artefakten – in einer nicht-neutralen Bezugsweise agieren. Sobald wir uns aus dem Zustand vegetativer Indifferenz erheben, richten wir uns in spezifischer Aufmerksamkeit auf etwas. Wir schließen die Augen, um einen Geschmack voll genießen zu können, lassen uns von einem Anblick fesseln, so daß wir weder hören noch spüren, was um uns her vorgeht, gehen im Laufen, Schreiben, Schwimmen im Gefühl unserer eigenen Bewegungen auf. Nicht die Annäherung an eine Vollständigkeit von Sinneseindrücken macht die phänomenologisch basale Form der Erfahrung aus, sondern die vor jeder Reflexion je schon spezifizierte Ausrichtung des Weltbezugs. Deutet man Ihdes Theorem der amplifikatorisch-reduktiven Doppelstruktur als Abhebung von einer neutralen Folie vollständiger Wahrnehmung – wofür einige seiner Äußerungen sprechen (50) – dann führt es auf eine romatizistische Denkfigur einer natürlichen Unmittelbarkeit und Einheit zurück, die einer phänomenologischen Analyse nicht standhält.

Allerdings lassen sich Ihdes Überlegungen auch so verstehen, daß der Einsatz eines Instruments in dem Sinne nicht-neutral ist, in dem es die Erfahrbarkeit von Welt von einer spezifischen Form zu einer anderen hin modifiziert. Eine solche Interpretation verzichtet auf die problematische Fiktion eines neutralen Weltbezugs, wirft allerdings die Frage auf, woran sich hier Kriterien für eine Unterscheidung einer angemesseneren von einer weniger angemessenen Technik festmachen lassen.

Ein Ansatz zu einer Antwort ist in dieser Interpretation von Ihdes Überlegungen jedoch bereits zu erkennen. Denn auch ohne die Annahme einer neutralen Unmittelbarkeit kann die Einrichtung technischer Artefakte von unterschiedlicher Qualität sein, achtet man nämlich nicht auf die Vollständigkeit, sondern auf die Zugänglichkeit von Erfahrungsdimensionen.

VIII

Drei Antworten, woran ein angemessenes technisches Artefakt angemessen sein kann, sind bisher zur Sprache gekommen. Die idealtypisch moderne Maschine ist darauf ausgerichtet, eine singuläre Leistung zu steigern. Durch Beschränkung qualitativer Eigenschaften und Bezüge wird sie tendenziell auf eine Steigerung des Zweck-Mittel-Verhältnisses hin getrimmt. Im Unterschied zu dieser eindimensionalen Ausrichtung ist das konvivale Werkzeug bei Illich auf den Menschen eingerichtet, diesen als emanzipiertes und allzeit kreatives Wesen begriffen. Weniger die Freiheit und Selbstbestimmtheit des Menschen als die Fülle seiner Wahrnehmungsmöglichkeiten hat Ihde im Blick, wenn er die reduktiv-amplifikatorische Doppelseitigkeit instrumenteller Erfahrung beschreibt.

Während die Wirksamkeit der ‚modernen Maschine‘ sich in von der Lebenswelt losgelösten, mathematischen Größen bemißt und insofern Husserls Gedanken der Substituierung durch eine mathematisch konstruierte Welt und Heideggers Gedanken der Verwandlung von Gegenständen in Bestand entspricht, haben die beiden letzteren Konzeptionen eine Orientierung an lebensweltlichen Zusammenhängen im Blick. Allerdings ist weder in Illichs noch in Ihdes Ansatz ein umfassendes Konzept von Lebenswelt zugrundegelegt. Im Folgenden werde ich den Versuch unternehmen, eine Antwort auf das Problem der Angemessenheit zu finden, die sich stärker am Grundgedanken des Konzepts der Lebenswelt orientiert.

Mit dem Lebensweltbegriff werden – wie gesagt – einige Überlegungen verbunden, die ein komplexes Theorem ergeben. Zum einen bezeichnet Lebenswelt die Grundlage eines vortheoretischen Weltbezugs, die jeder expliziten Referenz vorausgeht. Sodann ist wichtig, daß auf dieser Ebene Welt in sinnhafter und praktischer Verbundenheit erfahren wird. Drittens können – wie es Husserl für die krisenhafte Situation der abendländischen Kultur annimmt – die sinnhaften lebensweltlichen Bezüge verdeckt, bedeutungsmäßig und praktisch unzugänglich sein. Wie dies im Bereich technischer Artefakte zu denken ist, hat Heideggers Analyse der modernen Technik gezeigt.

Der Gedanke einer Entdeckung versus Verdeckung sinnhafter Bezüge führt nun auf den zentralen Punkt meiner Überlegungen. Ich werde die These vertreten, daß technische Artefakte so beschaffen sein können, daß sie die Beziehungen, in denen sie stehen eher verdecken oder so, daß sie sie eher zugänglich machen. Mit ‚Lebensweltangemessenheit‘ meine ich also, daß Bezüge entdeckt werden, mit Unangemessenheit, daß sie verdeckt werden. Was aber heißt hier entdecken bzw. verdecken?

Um diese Terminologie, die in den kurzen Ausführungen zu Husserl und Heidegger sicherlich nicht ausreichend expliziert worden ist, plausibel zu machen, schlage ich einen kleinen Umweg in das Reich der Önologie vor:

Judson Gooding hat 1976 im New York Times Magazine[16] einen Artikel veröffentlicht, in dem er den Unterschied zwischen technologisch und herkömmlich produziertem Wein untersucht. Er argumentiert, daß der Kenner am herkömmlichen Wein nicht nur die Traubensorte, sondern auch Boden, Lage und Wetter im Jahr der Ernte unterscheiden kann. Die spezifischen Qualitäten des Produkts erzählen gewissermaßen ganze Geschichten. Beim technologisch produzierten Wein sind dagegen diese Bezüge verwischt bzw. – in der Terminologie, auf die ich hinaus will – verdeckt.

Der Begriff ‚Entdeckt-sein‘ bezeichnet also die Wahrnehmbarkeit von Bezügen zu weiteren Zusammenhängen, während ‚Verdeckt-sein‘ heißt, daß solche Beziehungen der Erfahrbarkeit entzogen sind.

Diese Terminologie läßt sich nun auf unser Eingangsbeispiel, den Herzschrittmacher, anwenden. Entscheidend dabei ist, sehr präzise auf die ‚Leistung‘ abzuheben, die im Artefakt selbst liegt; d.h. den Gesichtspunkt der Betrachtung so zu wählen, daß erkennbar wird, wie die Struktur des Artefakts selbst Zugänge zu weiteren Zusammenhängen eröffnet bzw. beschneidet.

Für unser Beispiel heißt das, daß wir uns gedanklich an den Ort des Herzschrittmachers versetzen und zunächst von allem Wissen um den Zustand und Lebenszusammenhang des betroffenen Menschen absehen müssen (wie ja auch beim Wein das Produkt von seinen Zusammenhängen zunächst getrennt erscheint). Positionieren wir uns gedanklich in dieser Weise, so zeigt sich der qualitative Unterschied zwischen den Herzschrittmachern der alten und der neuen Generation in den soeben entwickelten Begriffen des Entdeckens und Verdeckens. Denn in der Registrierung der unterschiedlichen Variablen durch den Herzschrittmacher der neuen Generation zeichnet sich die individuelle Konstitution des Menschen ab, wir lernen etwas darüber, ob er gerade ruhig oder aufgeregt, entspannt oder angestrengt ist, während wir am Herzschrittmacher der alten Generation nur dessen eigene Programmierung ablesen können.

Der Begriff der Lebensweltangemessenheit soll also die Eigenschaft bezeichnen, daß ein Gegenstand die Bezüge, in die er integriert ist, positiv integriert. Der Ausdruck ‚positiv‘ ist hier zunächst nicht wertend gemeint, sondern im Sinne von ‚gegeben‘, ‚anwesend‘, ‚wahrnehmbar‘. In der Binnenstruktur angemessener Techniken erscheinen die Bezüge, in denen sie stehen, in wahrnehmbarer Weise. Das Kriterium für die Unterscheidung angemessener von unangemessener Technik, das hier nun umrißhaft gewonnen ist, bezieht sich also auf die Weise der Bezugnahme bzw. Grenzziehung zu einer Umwelt und die damit verbundene Wahrnehmbarkeit von Umweltdifferenzen durch das Artefakt.

Das Beispiel des Herzschrittmachers legt nun aber den Einwand nahe, daß die Frage der Anmessung dann relativ unproblematisch ist, wenn das Ziel einer technischen Entwicklung darin besteht, ein Organ im Zusammenhang eines Organismus in möglichst großer Annäherung zu substituieren. Wo nun aber kein solches geschlossenes natürliches System als Umwelt vorgegeben ist, sei es wesentlich schwieriger, Optimierung als bessere Anpassung zu beschreiben.

Tatsächlich wäre dieser Einwand nicht zu entkräften, wenn ‚Natur‘ in diesem Sinne als Maß postuliert werden würde. Nicht ‚Natur‘, sondern ‚Lebenswelt‘ ist hier aber das Konzept, das diese Funktion auch jenseits der Gegebenheit organischer Ordnungen erfüllen kann. Inwiefern ‚Angemessenheit an Lebenswelt‘ über ‚Angemessenheit an Natur‘ hinausgeht, möchte ich nun durch eine Reihe von drei Beispielen zeigen.

Ich beginne mit einer technischen Entwicklung, die auf den ersten Blick dem Fall des Herzschrittmachers zu entsprechen scheint. In jüngster Zeit wurden bedeutende Fortschritte auf dem Gebiet der Hörgeräte erzielt.[17] Hörgeräte leisten nun nicht mehr wie früher nur eine relativ undifferenzierte Verstärkung des eintreffenden Schalls, sondern sind dem Funktionieren des Ohrs nachgebildete intelligente Geräte. Sie können Hörsituationen differenzieren und verstärken je nach Bedarf bestimmte Schallquellen bei gleichzeitiger Abblendung von anderen.

Der Unterschied zum Beispiel des Herzschrittmachers besteht nun darin, daß, während dieser im geschlossenen Funktionszusammenhang des Organismus integriert ist und nur organisch vermittelt (über Pulsfrequenz, Sauerstoffgehalt des Blutes etc.) auf unterschiedliche Umweltsituationen Bezug nimmt, das Hörgerät direkt in der Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt situiert ist. Hier spielen nun nicht nur physikalische und chemische Parameter eine Rolle, sondern die gesamte Hörsituation, die auf das Hörinteresse der betroffenen Person eingerichtet wird. So schaffen integrierte Richtmikrofone in bestimmten Situationen ein akustisches Feld, in dem die von vorne, also vom Gesprächspartner eintreffenden Laute verstärkt, während andere Geräusche abgeblendet werden. Indem es so an die gerichtete Aufmerksamkeit der hörenden Person gebunden ist, mißt sich das technische Artefakt also nicht nur dem organischen ‚Apparat‘ des Gehörs, sondern auch dem eigentümlichen Verhältnis von Passivität und Aktivität an, mit dem Husserl die ’natürliche‘, d.h. lebensweltliche Einstellung des Bewußtseins gekennzeichnet hat.[18] Zur Natur gehört hier – salopp gesprochen – auch die ‚Natur‘ des menschlichen Bewußtseins.

Während dieses Beispiel trotz seiner Kopplung an die jeweilige Gerichtetheit des Bewußtseins noch weitgehend als Nachbildung des im individuellen Organismus vorfindlichen, ’natürlichen Hörapparats‘ durch eine technische Apparatur angesehen werden kann, zeigt das folgende, daß ‚Anmessung an Lebenswelt‘ auch bedeuten kann, daß technische Einrichtungen in komplexeren Interaktionen ihr Maß finden.

Im Bereich der Agrartechnik wurde eine automatisierte Melkmaschine entwickelt, die es den sich in einem Laufstall bewegenden Tieren erlaubt, sich dann melken zu lassen, wann sie das Bedürfnis dazu verspüren.[19] Im Unterschied zum herkömmlichen Vorgehen, in dem die Tierhaltung und -versorgung durch die Arbeitsökonomie des Landwirts vorgegeben ist, bestimmen hier Disposition und Gewohnheit den Rhythmus. Interessanterweise ermöglicht das Gerät sowohl den Tieren als auch den Landwirten eine weniger rigide Einteilung des Arbeitstages.

Ein letztes Beispiel soll dokumentieren, daß die strukturellen Bestimmungen des Konzepts der Lebensweltangemessenheit auch weitgehend unabhängig von organischen Lebenszusammenhängen realisiert sein können.

Am MIT (Massachusetts Institute of Technology) werden in einem Foschungsprojekt mit dem Namen Sociable Medianeue Formen der Internet-Kommunikation entwickelt.[20] Das Problem mit herkömmlichen Chat-Räumen wird darin gesehen, daß Teilnehmer/innen nur dann an einer Konversation teilhaben, wenn sie sich permanent zu Wort melden. Daraus könnte sich das niedrige Niveau der Kommunikation erklären. Mit Hilfe variabler graphischer Darstellungen (Farbkreise) wird nun die Möglichkeit geschaffen, differenzierte Positionen im ‘Gesprächsraum‘ einzunehmen, beispielsweise sich ruhig im Hintergrund zu halten und ‚zuzuhören‘.

Diesen vier Beispielen ist gemeinsam, daß sie, obwohl hoch-entwickelte Techniken in ihnen zur Anwendung kommen, nicht in erster Linie durch eine Steigerung von Kontrolle oder eine Ausweitung menschlichen Handelns charakterisierbar sind. Was gesteigert wird, ist die Möglichkeit, sich in einer komplexen und variablen Umwelt differenziert zu verhalten. Diese Möglichkeit wird dadurch erzielt, daß die Zustände der technischen Vorgänge nicht vollkommen vorbestimmt, sondern so ausgelegt sind, daß die ‚Kontrolle‘ über den jeweiligen Zustand an die jeweiligen situativen Bedingungen ‚abgegeben‘ wird.

Wir können also in technischen Entwicklungen zwei Tendenzen unterscheiden: die eine führt zur Neutralisierung von Material und zur Steigerung seiner Verfügbarkeit als ‚Bestand‘ in abgekoppelten und autonomen Systemen; die andere zur Unterstützung oder Einrichtung von Bezugszusammenhängen, die unterschiedliche und daher auch individuelle Verhaltens- und Erfahrensweisen ermöglichen. Die erste Tendenz hebt sich von partikularen Lebenszusammenhängen ab, die zweite konstituiert solche Zusammenhänge.

Der entscheidende Punkt liegt dabei nicht in der höheren Flexibilität der ‚lebensweltangemessenen‘ Technik. Deren elaborierte Automatismen leisten nur in ihren Gebieten, was der herkömmlich erzeugte Wein in seinem vollbringt: die Zugänglichkeit weiterer Erfahrungsmöglichkeiten offen zu halten. Wenn die Träger der alten Herzschrittmacher Anstrengung und Aufregung vermeiden müssen, die Benutzer früherer Hörgeräte häufig nur undifferenzierbaren Lärm vernehmen, die herkömmliche Melktechnik ein monotones Zeitregime erfordert und die bisherigen Chaträume nur die Wahl zwischen Reden und ‚Nichtexistenz‘ lassen, dann produzieren diese Techniken genau so verflachte Erfahrungsräume wie die normierten und sterilisierten Nahrungs- und Genußmittel gegenüber früheren in den Möglichkeiten der Wahrnehmung nivelliert sind.

Daß die Zugänglichkeit weiterer Erfahrungszusammenhänge nicht schon aus der Flexibilisierung der technischen Anlage resultiert, zeigt sich, wenn wir die angeführten empirischen Fälle mit einem Gegenbeispiel kontrastieren.

In Berlin wurde im vergangenen Sommer ein neues Autobahnstück eröffnet, das als modernstes seiner Art gilt. Strukturell analog zur Anlage unserer bisherigen Beispiele ist das System mit ’sensorischen‘ Einrichtungen wie einem elektronischen Zählwerk und einer flexiblen Binnenstruktur durch ein optionales Mittelstreifenüberleitungssystem ausgestattet. Zugleich wurde der ambitionierte Versuch gemacht, die Autobahn in die städtische Umgebung einzufügen. So ist sie zum größten Teil tief gelegt und überdacht worden, so daß der Autobahneinschnitt weitgehend als Grünanlage mit Spazierwegen und Spielplätzen im Stadtbild erscheint.

Betrachtet man allerdings das Verhältnis dieser Aussenanlagen zur Inneneinrichtung des hoch-technischen Systems Autobahn, dann zeigt sich der entscheidende Gegensatz zu den bisherigen Beispielen. Denn im Unterschied zu diesen gibt es bei der Autobahn keine Beziehung zwischen ‚aussen‘ und ‚innen‘. Die Abgrenzung der Autobahn von ihrer Umwelt ist negativ in dem Sinne, daß ihre Anlage von Störeinflüssen gleichwelcher Art abgeschottet ist. Für den Binnenzustand der Anlage ist es gleichgültig, ob auf ihr Kinder spielen oder Häuser errichtet werden.

Als typisch moderne Technik kann die Autobahn – wie die Maschine Reuleauxs – ihre Funktion (möglichst vielen Fahrzeugen in möglichst kurzer Zeit die Bewegung von A nach B zu ermöglichen) dadurch steigern, daß sie sich von Umweltfaktoren abtrennt. Der Preis für die Möglichkeiten von Erfahrung ist offensichtlich: den Fahrenden im Tunnel ist das sinnliche Vergnügen der raschen Bewegung durch eine je spezifische Umgebung ebenso entzogen (es gibt keine Autowerbung, die auf Autobahnen und schon gar keine, die in einem Tunnel inszeniert ist), wie sie für die Wahrnehmung ihrer Umgebung unzugänglich ist (ein Mythos des Reisens und der Freiheit, den manche mit dem Blick auf Flughäfen oder Bahnhöfen verspüren, wird sich beim Spaziergang über die Grünanlage sicher nicht einstellen). Es spricht für sich, daß das beste, was aus der Perspektive von Betroffenen mit einem technischen System wie der Autobahn geschehen kann, die möglichst vollständige Abtrennung von seiner Umwelt ist.

IX

Zum Abschluß der Abhandlung möchte ich die vorangegangenen Überlegungen zusammenfassen und im theoretischen Kontext verorten.

Mein Ziel war es, die Frage nach einem Maß der Technik aus dem Gegensatz von freier Verfügung und Einklang mit der Natur zu lösen und Lebenswelt als Kriterium für technische Angemessenheit aufzuweisen. Der Unterschied zwischen einer verdeckten und einer entdeckten Lebenswelt wurde durch die Kategorie der Erfahrbarkeit beschrieben. ‚Erfahrbarkeit‘ wiederum wurde begrifflich so gefaßt, daß durch ein technisches Artefakt differenzierte Bezüge zu weiteren Zusammenhängen zugänglich gemacht werden.

Der Gedanke der Zugänglichkeit könnte nun so mißverstanden werden, daß das Kriterium der Lebensweltangemessenheit sich auf die Transparenz der Artefakte selbst bezieht und zwar in dem Sinne, daß Aufbau und Funktionsweise leicht verständlich und auch von Laien zu reproduzieren sind. Eine solche Auffassung trifft aber gerade nicht, worauf das Konzept der Lebenswelt abzielt. Denn, wenn das Kriterium der Angemessenheit daran ausgerichtet wäre, wie gut der Einzelne in der Lage ist, ein technisches Artefakt intellektuell und praktisch zu erfassen, dann bezöge es sich in letzter Instanz wiederum – wie bei Illich – auf die Kontrolle und Autonomie des Subjekts. Das Konzept der Lebenswelt zielt im Gegensatz dazu jedoch darauf, die unhintergehbare Situiertheit des Denkens und Handelns zu beschreiben. Technische Artefakte stehen deshalb nicht notwendig im Gegensatz zu Lebenswelt, weil – grundsätzlich – Situiertheit Situierung in und durch ‚Mittel‘ bedeutet und weil – im Einzelfall – die vermittelnde Situierung nicht nur verdecken, sondern auch entdecken, d.h. Bezüge eröffnen kann.

So ist, um nur auf ein Beispiel zurückzukommen, der Herzschrittmacher der neuen Generation besser angepaßt als sein Vorgänger, obwohl die Kompliziertheit seiner Apparatur das Auffassungsvermögen des durchschnittlichen Benutzers weit mehr überfordert als das frühere Modell. Was seinen höheren Grad an Angemessenheit ausmacht, ist nicht die Transparenz seines Aufbaus, sondern das durch seinen Aufbau eröffnete breite Spektrum möglicher Erfahrungen; das Spektrum von Freude und Trauer, Anstrengung und Ruhe, Aufregung und Gelassenheit; Erfahrungen, die zuvor weitgehend durch begleitende Schmerzen nivelliert waren.

Mit dem Argument, daß Techniken nicht-neutral sind in Bezug darauf, was sie für die Erschließung von Erfahrungszusammenhängen leisten, öffnet sich der Technikkritik ein neuer Analyserahmen. Kriterien der Angemessenheit werden hier nicht mehr als Paraphrasen der Unterscheidung selbstbestimmt / fremdbestimmt, sondern in Bezug auf die Zugänglichkeit von Erfahrungsmöglichkeiten formuliert. Theoretisch geht es bei diesem Schritt um einen Übergang von einem Herrschafts- zu einem Orientierungsparadigma. Hinter dem Begriff des Orientierungsparadigmas steht eine Auffassung vom Menschen, die ihn weder in erster Linie als Natur- noch in erster Linie als emanzipiertes Vernunftwesen begreift, sondern als self-interpreting animal (Charles Taylor); als ein Wesen, das darauf angewiesen ist, sich in seiner selbsterbauten kulturellen Welt zurechtzufinden.

Das Orientierungsparadigma rückt die Problematik von Technik in einen Zusammenhang, in dem die Fragen der Beherrschung und Verfügbarkeit den Fragen der Zugänglichkeit und Erfahrbarkeit untergeordnet werden. Das bedeutet keinen Abschied von kritischen Ambitionen, sondern eine andere kritische Perspektive. Geht man vom Menschen als lebensweltlich situiertem Wesen aus, dann werden mit der Orientiertheit in Bezügen auch seine Autonomie und Handlungsmöglichkeiten verbessert. Zugleich zeichnet sich ab, daß in einer solchermaßen eingerichteten Lebenswelt es nicht nötig und oftmals sogar schädlich ist, alle Steuerungs- und Kontrollaufgaben dem Subjekt aufzubürden.

Jenseits von der Fixierung auf Selbstbestimmung, die ihr Gegenstück stets in einer romantischen Fiktion der natürlichen Einheit findet, bildet Lebenswelt ein Kriterium, Tendenzen technischer Entwicklung zu analysieren und zu bewerten. Denn in Bezug auf die Möglichkeit, durch Erfahrung Orientierung zu schaffen, sind technische Artefakte nicht gleichwertig; in Bezug auf diese Möglichkeit können sie untersucht, kritisiert und gestaltet werden.

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[1] Ludwig Klages, Mensch und Erde. Zehn Abhandlungen, Stuttgart 1956; Ähnliche Ansichten finden sich unter anderen bei Friedrich Georg Jünger und Oswald Spengler.

[2] Als neutrales Mittel wird Technik von ganz unterschiedlichen Autoren betrachtet. Vgl. Jürgen Habermas, Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt/M. 1968; Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949; Im Widerspruch zu seiner Bestimmung von Technik als symbolischer Form, kommt auch Ernst Cassirer zu einer Neutralitätsannahme: vgl. ‚Form und Technik‘, in: Leo Kerstenberg (Hrsg.), Kunst und Technik, Berlin 1930, S. 15-61; wieder abgedruckt in: Peter Fischer (Hrsg.), Technikphilosophie, Leipzig 1996

[3] Habermas, a.a.O., S. 55f

[4] Ernst F. Schuhmacher, Small is beautiful: Economics as if people mattered, New York, 1973 (dt. Die Rückkehr zum menschlichen Maß. Alternativen für Wirtschaft und Technik, Reinbek 1977); Ivan Illich, Tools for Convivality, New York, 1973 (dt. Selbstbegrenzung: Eine politische Kritik der Technik, Reinbek 1975)

[5] Diese Frage läßt sich nicht mit einem Hinweis auf die Praxis der Technikfolgenabschätzung erledigen, denn in deren Entscheidungsprozessen sind solche Maßgaben stets schon vorausgesetzt.

[6] Rainer Otte, Kann High-Tech-Medizin menschlich sein? Wie sich alternative Heilweisen und die moderne Apparatemedizin erfolgreich verbinden lassen, Zürich 1992, S. 81

[7] Ernst Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik: Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten, Braunschweig 1877; Nachdruck Düsseldorf 1978

[8] Franz Reuleaux, Theoretische Kinematik, Braunschweig 1875, zitiert nach Wolfgang Krohn, ‚Die Verschiedenheit der Technik und die Einheit der Techniksoziologie‘, in: Technik als sozialer Prozeß, hrsg. v. Peter Weingart, Frankfurt/M. 1989, S. 15-43, S. 33

[9] Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936), hrsg. v. E. Ströker, Hamburg 1977 (Husserliana Bd. 6)

[10] Martin Heidegger, ‚Die Frage nach der Technik‘, in: Ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 13-44; Ders., Bauen, Wohnen, Denken, in: a. a. O., S. 145-162

[11] Es soll hier keine Aussage dazu gemacht werden, inwiefern Husserls Krisis-Schrift selbst von Heidegger beeinflußt ist. Tatsächlich steht das Lebensweltkonzept in enger Beziehung zu Heideggers Analyse des In-der-Welt-seins in Sein und Zeit, das fast ein Jahrzehnt früher erschien.

[12] Beispiele für Ansätze, die eine alternative Technik zu bestimmen suchen, sind die bereits genannten Bücher von Schuhmacher und Illich; ähnlich auch Wolfgang Harich, Kommunismus ohne Wachstum? Babeuf und der ‚Club of Rome‘, Reinbek 1975; vgl. dazu: Friedrich Rapp, Die Dynamik der modernen Welt: Eine Einführung in die Technikphilosophie, Hamburg 1994

[13] . Vgl. Bernhard Waldenfels, ‚Reichweite der Technik‘, in: Der Stachel des Fremden, Frankfurt/M. 1990, S. 137-150, hier S. 145f

[14] So beispielsweise Hans Sachsse, ‚Was ist alternative Technik?‘, in: Technikphilosophie in der Diskussion: Ergebnisse des dt.-amerikan. Symposions in Bad Homburg (W.-Reimers-Stiftung), 7.-11- April 1981, hrsg. von Friedrich Rapp u. Paul Durbin, Braunschweig u.a. 1982

[15] Don Ihde, Technics and Praxis, Dordrecht 1979

[16] Der Hinweis auf den Artikel und technikphilosophische Überlegungen dazu finden sich in: Albert Borgmann, Technology and the Character of Contemporary Life: A Philosophical Inquiry, The University of Chicago Press 1984

[17] Informationen unter: http://www.detrans.de/SciTech/0002/hoergeraet.htm

[18] Vgl. Husserl, a.a.O., S. 110

[19] Informationen unter: http://www.ipa.fhg.de/srdatabase/lely.html

[20] Informationen unter: http://smg.www.media.mit.edu/