ORGANON terminology toolbox ist ein Begriffswerkzeug für die interdisziplinäre Forschung. Die Toolbox wird entwickelt von der Forschungsstelle Verfahrensgestaltung in Kooperation mit Open Encyclopedia System (OES) und dem BUA-geförderten Projekt OrgaTerm. 

Aktuelle Webpräsenz siehe  hier.

ORGANON terminology toolbox: Ein Begriffswerkzeug für die interdisziplinäre Forschung

 

Interdisziplinäre Forschung ist mit einem notorischen Problem konfrontiert: Begriffe werden disziplinär, teils auch quer zu Disziplinen, verschiedenartig verwendet, was zu Schwierigkeiten der Verständigung und Kooperation führt.

ORGANON terminology toolbox ist als eine Plattform projektiert, die es erstmals erlaubt, Übersicht über bestehende Begriffsverwendungen zu gewinnen, die jeweils eigene, projektbezogene Begriffsarbeit im Horizont weiterer Begriffsbestimmungen zu entwickeln und nach Ablauf der Projektlaufzeit dauerhaft zu dokumentieren. Die Plattform stellt dazu Formate für qualitätsgesicherte Publikationen sowie Umgebungen für die Erarbeitung, Diskussion und Darstellung von Begriffsfeldern zur Verfügung.

Artikel:
 

REGELUNGS-REGIME

Version 1.0 (12.05.2021)

Autor: Werner Kogge

ORGANON terminology toolbox

eDoc-Server der Freien Universität Berlin

Leseprobe

Regelungsregime

auch: Regelregime, Regelungssystem, Steuerungsregime, Regelungsstruktur, Governance-Regime, regulatory regime, système réglementaire, régime réglementaire

Version 1.0 (12.05.2021)

Autor: Werner Kogge

 

Zum Wort

Die beiden Glieder des Kompositums ‘Regelungsregime’ kombinieren zwei Ausdrücke aus dem Feld des Lenkens, Leitens, Steuerns und Führens. ‘Regel’ und ‘Regime’ stammen beide vom lateinischen Verb regere ‘geraderichten, lenken, leiten’; französisch régime ist vermittelt über das lateinische regimen: Herrschaftsform (übers. v. gr. arché, z.B. bei Thomas von Aquin) (AQUIN, 64). Entsprechend der dort bereits angelegten Bedeutungsbreite konnte das französische Nomen schon im 15. und 16. Jahrhundert die Form der Regierungsführung, die Administration von Institutionen (z.B. Klöster), die Lebensführung und die medizinische Diät bezeichnen, seit dem 18. Jahrhundert auch technische Prozesse in ihrer Funktionsweise. (DdMF) Die Verdopplung im Kompositum bringt das Bewusstsein zum Ausdruck, dass zur Regelung eines Sachbereichs eine Mehrzahl von Regeln aufeinander abgestimmt und zu einer ‘Ordnung’, einem ‘System’ oder ‘Regime’ verknüpft werden müssen. Regelregime, regulatory regime und régime réglementaire sind heute standardmäßig Übersetzungen voneinander. [WK]


Quellen:
AQUIN, Thomas von. Kommentar zur Politik des Aristoteles. Sententia libri Politicorum, 1 Freiburg 2015. 
Dictionnaire du Moyen Français (1330–1500). http://www.atilf.fr/dmf/definition/régime (zuletzt besucht am 07.05.2021)

 

Inhalt
    1. Diskurse und Kontexte



  1. Literatur zum Begriff
  2. Weiterführende Links

 

  • Diskurse und Kontexte
      1. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts wurde régime réglementaire im Diskurs der französischen Physiokraten verwendet. Gemäß dieser Lehre sollte sich die Wirtschaft einer natürlichen Ordnung gemäß, frei von staatlichen Reglements entfalten können. (ONCKEN, 172 ff.) Régime réglementaire bezeichnete in diesem Kontext das ältere, merkantilistische System der Regulierung der Wirtschaft durch Privilegien, Monopole und staatliche Steuerung (z.B. LE TROSNE). [WK]

        Quellen:
        ONCKEN, August. Geschichte der Nationalökonomie. Hand und Lehrbuch der Staatswis-senschaften in selbständigen Bänden. 1. Band. Leipzig 1902. 
        LE TROSNE, Guillaume-François. De l’ordre social, ouvrage suivi d’un traité élémentaire sur la valeur, l’argent, la circulation, l’industrie & le commerce intérieure & extérieur. Paris 1777. 
      2. Der Ausdruck reglementary regime wird im neo-institutionalistischen Diskurs zu internationaler Politik für das Zusammenspiel von Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren in der internationalen Staatenkooperation verwendet. So wurde Regime dort definiert als: “a set of mutual expectations, rules and regulations, plans, organizational energies and financial commitments, which have been accepted by a group of states” (RUGGIE zitiert nach KEOHANE, 57). Damit reflektiert er wissenschaftlich die bereits ab den 1940er Jahren sporadische Verwendung des Begriffs im Kontext internationaler Koordination von Luftfahrt, Marine, Fischerei, Telekommunikation und Nukleartechnologie. Die darauf aufbauende Regimetheorie beschäftigt sich mit der Theorie und Empirie institutionalisierter internationaler Vereinbarungen wie das Menschenrechtsregime der UN, das Welthandelsregime (GATT) und das Kyôto-Protokoll. [WK]

        Quellen:
        KEOHANE, Robert O. After Hegemony: Cooperation and Discord in the World Political Economy. Princeton 1984. 
      3. Die häufigste Verwendung des Begriffs Regelungsregime findet sich in verwaltungstechnischen Kontexten (Diskurs von Verwaltungswissenschaften und Verwaltungsrecht) der praktischen Ausgestaltung prozeduraler Regelung von Sachbereichen. In Kontinuität zu Semantiken wie Regelungslücke, Regelungsbedarf, Regelungsbereich, Rahmenregelung und Regelungsvariante wird der Begriff des Regelungsregimes juristisch und verwaltungstechnisch so eingesetzt, dass er eine Option der Organisation von regulierenden Elementen, seien sie rechtlicher, struktureller oder institutioneller Art, bezeichnet (EBERHARD, 179). Der Begriff Regelungsregime steht hier in Verwandtschaft mit dem technischen Gebrauch von ‘Regelungsregime’, in dem es um unterschiedliche Steuerungsmodi von Geräten und Anlagen z.B. durch elektronische Verfahren geht (ELEKTRIE, 657). Den diskursiven Rahmen bildet das übergreifende Paradigma kybernetischen Denkens, das seit den 1950er Jahren in vielen Diskursen prägend wirkte. [WK]

        Quellen:
        ELEKTRIE. Zeitschrift des Fachverbands Elektrotechnik. Band. 33. Berlin 1919 
        EBERHARD, Harald. Der verwaltungsrechtliche Vertrag. Ein Beitrag zur Handlungsformenlehre. Wien 2005. 
      4. Im politik- und sozialwissenschaftlichen Diskurs der Governance-Forschung ist meist entweder von Regelungsstruktur oder kurz nur von Regime die Rede. Im Sinne des Governance-Ansatzes, bei dem ein koordinatives Regulierungsmodell an die Stelle einer hierarchisch gedachten Steuerungslogik tritt, bezeichnet Regelungstruktur den “institutionelle[n] Rahmen, der das Handeln der Akteure lenkt. […] Wenn man […] unter Governance ‘a system of rule’ versteht, dann steht jetzt nicht mehr das Machen, das […] Steuerungshandeln im Zentrum des Interesses, sondern die mehr oder we-niger fragmentierte oder integrierte, nach unterschiedlichen Prinzipien gestaltete Regelungsstruktur.” (MAYNTZ) In diesem Sinne wird inzwischen auch vermehrt von Governance-Regimen gesprochen. So zum Beispiel: “Der Fokus liegt auf Mechanismen der Handlungskoordinierung, die in den Governance-Modi ihren Ausdruck finden, die ihrerseits zu aufgabenbezoge-nen Governance-Regimen verknüpft werden.” (SCHUPPERT, 34) [WK]

        Quellen:
        MAYNTZ, Renate. Governance Theory als fortentwickelte Steuerungstheorie? In: G. F. Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung: Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien (pp. 11–20). Baden-Baden 2005. https://pure.mpg.de/pubman/faces/ViewItemFullPage.jsp?itemId=item_1233939 (zuletzt besucht am 29.04.2022)
        SCHUPPERT, Gunnar Folke. Governance – auf der Suche nach Konturen eines „anerkannt uneindeutigen Begriffs“. In: ders. u. Michael Zürn (Hrsg.). Governance in einer sich wandelnden Welt. Wiesbaden 2008. 
  • Literatur zum Begriff
KEOHANE, Robert O. After Hegemony: Cooperation and Discord in the World Political Economy. Princeton 1984. 

SCHUPPERT, Gunnar Folke u. Michael Zürn (Hrsg.). Governance in einer sich wandeln-den Welt. Wiesbaden 2008. 
  • Weiterführende Links
MAYNTZ, Renate. Governance Theory als fortentwickelte Steuerungstheorie? In: G. F. Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung: Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien (pp. 11–20). Baden-Baden 2005. https://pure.mpg.de/pubman/faces/ViewItemFullPage.jsp?itemId=item_1233939 (zuletzt besucht am 29.04.2022)