Interdisziplinär arbeiten. Ein modularer Baukasten
Werner Kogge
Der vorliegende Artikel[1] hat zum Ziel, interdisziplinärem Arbeiten eine neue präzise Gestalt zu geben. Sie basiert auf einer Analyse von Wissenschaftstypen, die tiefer ansetzt als die herkömmliche Unterscheidung von Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften und schlägt einen Modus modularer Kombinatorik vor. Die sprachliche Form der Darstellung ist so gewählt, dass die Überlegungen Forschenden aus allen Bereichen der Wissenschaft zugänglich, somit interdisziplinär anschlußfähig sind.[2]
Interdisziplinarität – wo liegt das Problem?………………………………………………………………………………………. 1
Konzepte der Interdisziplinaritätsforschung…………………………………………………………………………………….. 3
Wie integrieren?……………………………………………………………………………………………………………………………………………… 3
Was sind Wissenschaftstypen?………………………………………………………………………………………………………………… 5
Drei Traditionen von Wissenschaft………………………………………………………………………………………………………… 6
Wissenschaftstypen heute………………………………………………………………………………………………………………………….. 7
Ein Einwand: Typen von Wissenschaft oder Stationen im Forschungsprozess?…………….. 11
Egalitäre Modilarität…………………………………………………………………………………………………………………………………… 13
Den Blick wenden………………………………………………………………………………………………………………………………………… 16
Bibliografie……………………………………………………………………………………………………………………………………………………… 17
[1] Der Artikel ist teilweise inhalts-, teilweise formulierungsgleich mit Abschnitten aus dem im Herbst 2021 erscheinenden Buch: Werner Kogge, Einführung in die Wissenschaften. Wissenschaftstypen – Deutungskämpfe – Interdisziplinäre Kooperation (Bielefeld: transcript, 2021).
[2] Der vorliegende Text entstand im Zusammenhang meiner Arbeit in der von der DFG geförderten interdisziplinären KollegforschungsgruppeRethinking Oriental Despotism – Strategies of Governance and Modes of Participation in the Ancient Near East, in der ich seit 2017 für die Bereiche Wissenschaftsphilosophie und Politische Theorie zuständig bin.
Textauszug
Was sind Wissenschaftstypen?
Eine Wissenschaft – hunderte Disziplinen? Existierte wirklich nur eine Art von Wissenschaft, dann würde das Problem der Interdisziplinarität gar nicht auftreten. Aber gibt es so viele Arten von Wissenschaft wie Disziplinen? Offensichtlich nicht: in vielen dem Namen nach unterschiedlichen Disziplinen wird sehr ähnlich geforscht, während sehr unterschiedliche Forschungsansätze in ein und derselben Disziplin nebeneinander existieren können. Unterhalb der Ebene der Disziplinen gibt es also verschiedene Wissenschaftsarten, -kulturen oder –typen.
Die Entdeckung von Wissenschaftstypen geht auf die Geschichtswissenschaften, Philosophie und Philologie des 19. Jahrhunderts zurück. Johann Gustav Droysen, Wilhelm Dilthey und Wilhelm Windelband prägten Begriffe der Geschichts- und der Geisteswissenschaften als eigenständige Formen von Wissenschaft. Am bekanntesten wurde Windelbands Unterscheidung von nomothetischer und ideographischer Wissenschaft als zwei methodisch verschiedene wissenschaftliche Verfahrensweisen. Der Unterschied ist, so Windelband, ein Unterschied der Richtung: während in den Naturwissenschaften “[D]as einzelne gegebene Objekt […]“ nur als “[…] Typus, als Spezialfall eines Gattungsbegriffs […] zur Einsicht in eine gesetzmäßige Allgemeinheit […]” relevant sei, betrachte die Geschichtswissenschaft “[…] ein Gebilde der Vergangenheit in seiner ganzen individuellen Ausprägung.”[1] Wie sein Vorgänger Droysen sieht Windelband den Unterschied der beiden Typen von Wissenschaft nicht als sachlichen, sondern als einen Unterschied in der Sicht- und Herangehensweise. Ein wissenschaftliches Phänomen, wie z.B. die Entstehung des Lebens,[2] kann entweder als historisches Ereignis beschrieben werden – man versucht dann diesen Prozess, wie er sich tatsächlich zugetragen hat, möglichst detailliert und umfassend zu rekonstruieren. Oder aber als gesetzmäßiger Zusammenhang erklärt werden – was bedeutet, die Bedingungen zu formulieren, unter denen Leben immer und auf die gleiche Weise entstehen würde. Es ist eine Frage des Erkenntnisinteresses, der Blickrichtung, der inneren Ausrichtung und Struktur – damit scheint der Gedanken auf, dass es Unterschiede der Typen von Wissenschaft gibt.
Drei Traditionen von Wissenschaft
So ist es kein Zufall, dass, wer heute an Wissenschaftsarten interessiert ist, noch immer an Windelband anknüpft.[3] Es gibt schlicht wenig Alternativen. Und doch benötigt man sie. Denn die Unterscheidung zwischen Naturwissenschaften, die auf das Gesetzmäßige und Geisteswissenschaft, die auf das Individuelle zielt, ist viel zu allgemein und lässt viel zu viel außen vor. Es war hilfreich, dass die Denker des 19. Jahrhunderts auf die Arten von Praxis schauten, die in den Wissenschaften herrschten. Doch sie hatten nur einen Unterschied im Blick: den von Erklären und Verstehen.
Hier anzusetzen und weiter zu gehen bedeutet, tief in die Geschichte einzusteigen. Was ist das für eine Tradition, die hinter dem Konzept ‘Erklären‘ steht? Es ist eine Tradition, die letztlich auf die Idee der Episteme bei Aristoteles zurückgeht und im Übergang von Spätmittelalter zu früher Neuzeit zu einem Konzept mathematisierter scientia wurde. Was ist der Kern der Verstehenslehre: das Erschließen einer rätselhaften Sache aus dem Zusammenhang, also aus der wechselseitigen Beziehung von Teil und Ganzem – wie es in der Auslegung juristischer und religiöser Texte schon in der römischen Antike ausgebildet wurde; und wie steht es mit einer ganz anderen Gruppe von Tätigkeiten: beobachten, beschreiben, Daten erheben und ordnen? Auch hier finden wir eine ehrwürdige Tradition, nämlich die der Naturalis Historia, der Naturgeschichte, die ein ganz eigenes Bild von Wissenschaft prägte. Drei Traditionen – drei Grundbegriffe von Wissenschaft: die Episteme-Scientia-Tradition, die Interpretatio-Hermeneutik-Tradition und die Tradition der Naturalis Historia.
Episteme-Scientia-Tradition | Interpretatio-Hermeneutik-Tradition | Tradition der Naturalis Historia |
beweisen, erklären demonstrieren, ableiten, reduzieren, operationalisieren, modellieren, | verstehen, interpretieren, kontextualisieren, rätsellösen, rekonstruieren, rekonzeptualisieren, neubeschreiben, aufspüren, decouvrieren, dekonstruieren | beobachten, entdecken, beschreiben, sammeln, messen, dokumentieren, , zuordnen, typisieren, vergleichen, klassifizieren, korrelieren |
experimentieren, variieren |
|
Wissenschaftstypen heute
Diese drei Traditionen haben sich in der Geschichte als jeweils zusammenhängende Wissenschaftsverständnisse etabliert. Sie haben sich aber auch weiter entfaltet und ausdifferenziert. Bei näherem Hinsehen zeigen sich jeweils drei verschiedene Verzweigungen in den drei Traditionen, so dass sich neun Typen von Wissenschaft unterscheiden lassen. Neben dem Bild von Wissenschaft als logische Beweisform hat die Episteme-Scientia-Tradition eine mathematisierte und eine experimentalisierte Form ausgeprägt, woraus als typische Formen die mathematische Modellierung und die experimentellen Laborwissenschaften entstanden; die Interpretatio-Hermeneutik-Tradition weist als unterschiedliche Grundmuster das Paradigma der Adäquation, die Forschungsform der Rekonstruktion und den Wissenschaftstyp der Kritik auf. In der Tradition der Naturalis Historia, der Naturgeschichte, finden wir den gegenstandserfassenden Typus der Datenerfassung und Deskription, den auf Klassifikationen gerichteten ordnungsbildenden Typus und den korrelierenden Typus, die Statistik.
Episteme-Scientia-Tradition | Interpretatio-Hermeneutik-Tradition | Tradition der Naturalis Historiae | ||||||
Paradigma | ||||||||
des logischen Beweisens | des Experimentierens | der mathematischen Konstruktion und Modellierung | der Rekonstruktion | der Anpassung/ Adäquation der Konzepte | der Kritik(Reflexion auf Bedingungen) | der Gegenstanderfassung und Deskription | der Ordnungsbildung / Taxonomie(Typisieren, Klassifizieren | der Statistik(Daten erheben, korrelieren) |
Diese neun Ausprägungen von Wissenschaft treten heute jeweils als selbständige Formen in Erscheinung, die von ihren Protagonisten für gewöhnlich als Verkörperungen von Wissenschaft überhaupt wahrgenommen werden. Schauen wir sie uns im Einzelnen an (zum Zweck der Darstellung in geänderter Reihenfolge):
(1) Gegenstandserfassender Forschungsansatz: Daten zu erheben, ist eine Grundform von Wissenschaft. Wie werden Daten erhoben? Indem fragliche Elemente beobachtet, gezählt, gemessen, datiert, verortet oder beschrieben werden. Die einfachste Form besteht in Fragen der Art: Wie häufig tritt x auf? Wo tritt x auf? Wann tritt x auf? Mit Instrumenten lassen sich Fragen nach Temperatur, Masse, elektrische Leitfähigkeit, Alter eines Elementes verfolgen? Aufzeichnungssysteme wie Zeitstrahlen, Karten, Tabellen und Diagramme dienen der Erfassung der Daten. Generell lässt sich sagen, dass Daten erfasst werden, indem Elemente in Aufzeichnungssystemen notiert werden.
(2) Typisierend-ordnungsgenerierender Forschungsansatz (Taxonomien): Während in der gegenstandserfassenden Variante das Element x selbst nicht in Frage steht, wenn z.B. ein Planet verortet oder eine Chronologie von Herrschern erstellt wird, stellt sich im taxonomischen Ansatz die Frage nach der Bestimmung von ‘x’: welchem Typ, welcher Art, welcher Gattung, welcher Epoche, welchem Genre ist x zuzuordnen? Die Basis-Praxis dieses Forschungsansatzes ist das Vergleichen: welche Merkmale finden sich im einen Exemplar, welche im anderen? Welchen Typen sind zu unterscheiden? Welche Typen sind allgemeiner, welche spezieller? Wie ist das Ordnungssystem als Ganzes aufgebaut? Ergebnisse finden hier üblicherweise ihre Darstellungen in Klassifikationsschemata, komparatistischen Erörterungen und synoptischen Taxonomien.
(3) Auch die klassische Statistik bewegt sich in ihrer Grundform im Rahmen dieses Forschungsparadigmas. In der statistischen Variante werden Vorkommnisse nicht nur typisiert, sondern zugleich in ihrer Häufigkeit erfasst. Damit eröffnet sie ein ganz eigenes Forschungsfeld: das der Häufigkeitsverteilung. Es lassen sich nun Häufigkeiten von Ereignissen in Bezug auf andere Ordnungsfragen vergleichen: Wie sieht es in welcher Zeit aus? Wie in welcher Gegend? Wie bezogen auf welche Bevölkerungsanteile? Statistisches Wissen ist zum allergrößten Teil tabellarisches und diagrammatisches Wissen.
(4) Rekonstruierender Forschungsansatz: Die Grundfrage hier ist: Wie sah ein Ganzes aus, wenn nur Relikte, Indizien, Spuren, Fragmente vorhanden sind? Die Forschungsform ähnelt hier der Untersuchung eines Kriminalfalls: ein Ablauf, ein Geschehen, ein Zusammenhang soll als eine schlüssige Ganzheit rekonstruiert werden. Die bestimmende Praxis ist hier die versuchsweise Kombination im Sinne von: Wie passt x mit y zusammen? Was ergäbe sich für das Ganze, wenn x als a und y als b betrachtet würde? Und wenn das Ganze so oder so aussähe, dann wäre wiederum das Element z als c zu betrachten; kann das sein? Diese Frageform des Rätsellösens in einem Teil-Ganzes-Setting verbindet historische Rekonstruktion mit Textauslegung und manchen Formen der Experimentalforschung: in jedem Fall versucht man, am Einzelnen eine ‘Theorie’ über einen Gesamtzusammenhang zu entwickeln und an einem (vorausgesetzten oder hypothetisch entworfenen) Gesamtzusammenhang Verhalten und Beschaffenheit von Elementen als integrale Bestandteile zu deuten.
(5) Rekonstruktiv-erklärender Forschungsansatz: Sind nicht Indizien, Spuren und Relikte gegeben, die auf ihren vormaligen Zusammenhang hin gedeutet werden müssen, sondern ein komplettes Phänomen (z.B. die Entstehung einer Revolution, das überraschende Verhalten eines chemischen Stoffes, eine astronomische Anomalie, eine Krankheit), dann richtet sich die Forschung auf die Bedingungen, unter denen das Zustandekommen von x zu erklären ist: Was muss als gegeben angenommen werden, dass das (erstaunliche, fragwürdige) Phänomen x zustande kommt? Weil ein solches Bedingungsgefüge extrem komplex sein kann, hat auch hier die Forschung einen stark heuristischen und experimentellen Charakter. Zum Einsatz kommen unterschiedliche Mittel der Erprobung von Erklärungsansätzen und der Modellierung, die das Bedingungsgefüge probeweise zusammenstellen und Abläufe probeweise simulieren. Solche Rekonstruktionen können im Labor geschehen, oder (wie meist in der Astronomie und den Geschichtswissenschaften) als Vergegenwärtigung von Realbedingungen.
(6) Der Forschungsansatz der interpretativen Adäquation: Während bei erklärender Rekonstruktion auf bedingende Faktoren fokussiert wird, gewinnt die Forschung im Paradigma der Adäquatheit ihren Wert dadurch, dass sie den Phänomenen in ihrem Aspektreichtum möglichst umfassend gerecht zu werden sucht. Und zwar versucht sie dies durch Anpassung der Darstellung. Die leitende Frage lautet: Wie müssen Begriffe, Konzepte, Regelformulierungen verändert werden, damit sie einen Gegenstand in seiner Phänomenalität zum Vorschein bringen, ohne charakteristische Aspekte zu vernachlässigen?
(7) Der Forschungsansatz der Kritik. Es gibt keine wissenschaftliche Forschung, die bei null ansetzt. Immer sind schon Konzepte, Ansichten und Darstellungen im Spiel. Forschung ist situiert in Voraussetzungen und diese Voraussetzungen sind spezifiziert durch Geschichte, Milieu, und disziplinäre Denk- und Handlungsmuster. Dass die Aufklärung und Reflexion solcher Bedingungen zumindest ein zentrales Moment von gewissenhafter Forschung darstellen, dies ist das Grundmotiv der kritischen Forschungspraxis. Ihre Praxisform lässt sich als die des Herausschälens, Aufspürens, Entlarvens und Aufdeckens beschreiben. Verborgene, unbemerkte, vernachlässigte oder verdrängte Einflussfaktoren werden detektiert und nach vorn gestellt. Erkenntniskritik, Ideologiekritik und Dekonstruktion sind Namen für Ansätze in diesem Typus von Wissenschaft.
(8) Reduktiv-apodiktischer Forschungsansatz: Geht man davon aus, dass sich das Bedingungsgefüge, aus dem sich ein Gesamtzusammenhang erklärt, restlos von jeweiligen Erscheinungen lösen und als universales und gesetzmäßiges Regelwerk in einer formalen Sprache darstellen lässt, dann ergibt sich eine andere Form der Grundfrage: Wie lässt sich ein phänomenaler Zusammenhang auf einen universalen Formalismus zurückführen? Die wissenschaftliche Praxis besteht hier in erster Linie darin, eine formale, logische oder mathematische Sprache so aufzubauen, dass sich in ihr die in Frage stehenden Eigenschaften abbilden lassen; man spricht hier gerne von mapping.
(9) Der Ansatz der experimentellen Laborwissenschaften: In diesem Forschungsansatz werden symbolsystemische Formalismen nicht als Zielpunkt der Forschung eingesetzt, auf den phänomenale Zusammenhänge zurückgeführt werden (Reduktion), sondern als Forschungsinstrumente. Der Formalismus wird im Labor nicht schlicht bestätigt, sondern eingesetzt, um Experimentalsysteme zu strukturieren, die sich darauf richten, noch unbekannte Eigenschaften, Wirkfaktoren und Interdependenzen im Gegenstandsbereich zu entdecken und zu beschreiben. Die zentrale Praxis ist die der Einrichtung von möglichst stabilen Experimentalsystemen, so dass einzelne Faktoren kontrolliert und variiert werden können. Zur Ergebnissicherung gehört hier niemals nur die Angabe eines Regel-Formalismus (‘Erklärung‘), sondern stets die Beschreibung des Experimentalsystems, des technischen Versuchsaufbaus und der idealisierten Bedingungen, unter denen sich die Zusammenhänge beobachten ließen.
Ein Einwand: Typen von Wissenschaft oder Stationen im Forschungsprozess?
Gegen diese Darstellung von Wissenschaftstypen erhebt sich ein Einwand: Handelt es sich tatsächlich um selbständige Typen von Forschung oder lediglich um Stationen im wissenschaftlichen Forschungsprozess?
Spielen wir das einmal durch: (1) Man beobachtet, vermisst, beschreibt einen Gegenstand, sodann (2) vergleicht man ihn, ordnet ihm einen Typus, einem Genre, einer Epoche zu, klassifiziert ihn, bestimmt (3) die Häufigkeit seines Auftretens in Bezug auf bestimmte Korrelationen, somit die empirische Vorkommensverteilung; setzt dann mit einer Interpretation an, in der das Phänomen im Zusammenhang von Teil und Ganzem rekonstruiert wird, wobei der Schwerpunkt (4) auf der Synthese von Anzeichen, Spuren, Relikten oder (5) auf der Analyse möglicher Bedingungen liegen kann, (6) arbeitet man daran, Begriffe, Interpretationen, Modelle konzeptuell anzupassen, (7) werden kritisch die Bedingungen reflektiert, unter denen Gegenstandsbestimmungen, Typisierung, Statistik und Interpretation zustande gekommen sind, was mit Aussagen über Reichweite der Erkenntnisse und über notwendige weitere Forschungen und veränderte Programme verbunden ist; (8) reduziert man den interpretierten Gesamtzusammenhang auf ein universales Regelwerk, das sich idealiter in einer formalen Sprache ausdrücken lässt, oder versucht (9), das verhandelte Phänomen unter Laborbedingen zu reproduzieren (um schließlich zu einer praktisch-technischen Anwendung zu kommen).
Man könnte so zu einem Bild kommen, demgemäß die Wissenschaftstypen nicht wirklich separate und autonome Forschungseinheiten darstellen, sondern unterschiedliche Schritte oder Stationen in einem einheitlichen Forschungszusammenhang? Ein Verlaufsdiagramm von Forschung könnte demgemäß so aussehen:
Betrachten wir aber die Rhetorik dieses Ablaufschemas und seine Bildlogik, dann zeigt sich die Suggestion, mit der ein solches Schema stets verbunden ist: Das Handeln scheint hier von anfänglichen, elementaren Schritten zu hoch-komplexen und subtil-reflektierten Tätigkeiten fortzuschreiten. Es sieht so aus, als ob wir von der Kärrnerarbeit im Heizkeller der Forschung immer höher in die sauberen Tätigkeiten der Weißkittel-Etagen aufsteigen. Wenn diese ‘höheren‘ Tätigkeiten dann auch noch in artifiziellen und technisch voraussetzungsreichen Sprachen etwa der ‘höheren’ Mathematik oder der poststrukturalistischen Philosophie ausgedrückt werden, dann scheint es, als ob es sich in diesem Prozess um einen Gang von primitiven Vorarbeiten zu elaborierter Erkenntnis handelt.
Doch dieses suggestive Bild ist bestimmten Vorurteilen geschuldet darüber, was wissenschaftliche Erkenntnis im Kern ausmacht. Quelle all der Status- und Deutungskämpfe, die sich durch die Geschichten der Wissenschaften ziehen.
Dass die Verschachtelung der Wissenschaftsmotive und Fragestellungen nicht als ein lineares Aufstiegsschema verstanden werden kann, dass es sich vielmehr um ein modulares System handelt, in dem sich Forschungsprozesse auf verschiedene Weisen kombiniert finden, offenbart sich unmittelbar in der Tatsache, dass man die Richtungen umkehren kann. So gibt es Forschungsprojekte, in denen Bedingungen rekonstruiert werden (5), um zu einer Typisierung (2) zu gelangen; Laborversuche (6) werden angestellt, um Phänomene z.B. chronologisch oder geographisch (1) verorten zu können; Voraussetzungen von Forschungsprogrammen werden befragt (7), was zu einer Neubeschreibung des Gegenstandes (1) führen kann.
Schon diese Andeutungen weisen darauf hin, dass jeder Wissenschaftstypus das Erkenntnisziel eines konkreten Forschungsprogramms bestimmen kann. Das Motiv eines jeden Typus kann die Zielstellung der Arbeit ausmachen, so dass wir zu einem Bild der Kombinierbarkeit kommen, eine egalitäre Modularität.
Egalitäre Modilarität
Wenn wir hier von einer egalitären Modularität sprechen, was ist damit gemeint?
Es bedeutet, dass typische wissenschaftliche Praxis-Motiv-Komplexe sich als Module auffassen lassen, d.h. als selbständige Funktionseinheiten, die in einem Forschungsprojekt integriert sind. Solche Forschungsprojekte sind typischerweise modular aufgebaut. Allerdings wird dieser modulare Aufbau selten als solcher wahrgenommen. In den Projektbeschreibungen verschwindet er unter Rubriken wie ‘Vorarbeiten‘ und ‘Forschungsprogramm‘. Was wäre, wenn dies nicht geschähe? Wie sähe dies aus?
Wären Forschungsprojekte so zu entwerfen, dass ihr modularer Aufbau expliziert werden würde, dann hätte dies eine ganze Reihe von Effekten zur Folge:
(1) Der Eigenwert der Forschungsschritte wird sichtbar, d.h. jedes solches Element wird als eigener Typus von Wissenschaft Beachtung finden, was die Sorgfalt der Planung, Ergebnissicherung usw. befördern kann;
(2) Es wird sichtbar, dass eine bestimmte modulare Einheit, wie z.B. eine kritische Reflexion oder eine typisierende Einordnung in einem Projekt fehlen, obwohl sie für die Gesamtfragestellung erforderlich sein könnte;
(3) Begründungen, welche Module wie miteinander verknüpft werden, werden explizit, damit reflektier- und verhandelbar.
Insgesamt würde eine solche modulare Sichtweise dazu führen, Forschungsprojekte weitaus bewusster zu entwerfen. Man könnte sagen: die Gestaltungstiefe von Forschungsprojekten reichte dann viel weiter; und zwar bis zur Ebene der Strukturen, in denen ihre Praxen wurzeln und motiviert sind.
Der Aufbau von Forschungsprojekten aus eigenständigen Modulen impliziert eine ganz neue Tätigkeit im Forschungsdesign: Planung bedeutet hier auch eine elementare Kombinatorik. Es geht um die Auswahl der Modulelemente (welche sind wichtig?) und um ihre Anordnung. Es steht stets in Frage und erfordert eine Begründung, ob bestimmte Module in ein Forschungsprojekt eingebaut oder nicht eingebaut werden. Nicht jedes Forschungsprojekt muss aufgeblasen werden, um die Gesamtheit der modularen Elemente zu integrieren. Aber in der Forschungsplanung die Liste der Module durchzugehen und darzulegen, welche Rolle sie jeweils im konkreten Projekt spielt oder nicht spielt, das kann zu einer entscheidend vertieften und weit umfassender reflektierten Forschungsplanung führen. Das schließt Fragen ein wie diejenige, welche Forschungsansätze in Ergänzung mit- und zueinander stehen sollten und wie unterschiedliche Forschungsansätze aufeinander abgestimmt werden.
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[1] Wilhelm Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft. Straßburger Rektoratsrede 1894 (Straßburg: J. H. Ed. Heitz, Heitz & Mündel), 16.
[2] Windelband führt die “Entwicklungsgeschichte“ der Lebewesen als Beispiel an. Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft, 12–13.
[3] Cf. Wolfgang Krohn, “Learning from Case Studies,” in Handbook of Transdisciplinary Research, ed. Gertrude Hirsch Hadorn et al. (Berlin: Springer, 2008) 371.
[4] Cf. Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983).
[5] Cf. Werner Kogge, “Das tätige Auge des Denkens: Aspektwechsel bei Wittgenstein und Fleck,“ in Werkstätten des Möglichen 1936. L. Fleck, E. Husserl., R. Musil, L. Wittgenstein, ed. Birgit Griesecke (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2008), 59–75.